Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
wenn Immanuel und Andriette das gewußt hätten! Durch sie saugte er vieles auf, was sozusagen nicht zum Studieninhalt gehörte. Sprachen, Technik und Naturwissenschaft in allen Ehren – auf den Gebieten hatte er eine Grundlage erhalten, die nicht besser hätte sein können. Doch für seine ›Erziehung zum Menschen‹ war die Literatur dennoch das wichtigste. Die klassische schöne Literatur, aber auch die zeitgenössische. Der Charakter Petersburgs, ein internationales Zentrum zu sein, brachte es mit sich, daß ein neues Buch ebenso rasch in die Buchhandlung kam wie in Paris und London. Daß es sich hierbei nicht um petersburgische Prahlerei handelte, konnte er selbst feststellen, als er als Siebzehnjähriger das erste Mal in Paris war.
Durch einen dieser nihilistischen Hauslehrer lernte Alfred den englischen Dichter Shelley kennen. Schon das äußere Geschick des Poeten, bis zu dessem Tod durch Ertrinken in der Verbannung im Alter von dreißig Jahren, sprach seinen jungen und rebellischen Sinn an. Alfred war vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, als er Shelleys Band Der entfesselte Prometheus in die Hand bekam. Ohne die Unterweisung seines Lehrers hätte er wohl nicht allzuviel verstanden! Ja, er war nicht einmal heute sicher, daß er den Dichter ganz erfaßte. Doch predigte Shelley einen faszinierenden Atheismus, herrlich für einen pickligen Halbwüchsigen mit dem starken Bedürfnis, Götter zu stürzen und sich von all dem freizumachen, was kirchlicher Aberglaube hieß! Merkwürdigerweise war Shelley dennoch nicht ganz ohne Religion. Und diese seine Platonsche Mystik sprach Alfred vielleicht ebenso an: Es gab also eine Alternative zu dem konventionellen und erstarrten Christentum, und diese achtete die Ideale nicht weniger hoch. Die tiefe Menschenliebe, die wie ein Golfstrom den Prometheus durchzog, war beinahe stärker als die, für die das Christentum das Monopol beanspruchte.
Daher war der Boden bereitet, als Alfred auf Die Empörung des Islam stieß. Oh, welch ein Erlebnis! Eine Offenbarung – wie die von Moses vor dem brennenden Dornbusch, wie die der Jünger auf dem Berg der Verklärung oder die von Newton vor dem Apfel. Shelley schleuderte seinen Bannfluch gegen den Wahnwitz des Krieges mit solcher Kraft, solcher Pherenesie, daß einem kalte Schauer den Rücken hinunterjagten. Als Alfred das Buch gelesen hatte, war er zum glühenden, radikalen Pazifisten geworden.
Dennoch wartete Alfred seine Zeit ab, ehe er Shelleys Philosophie auch nach außen zu der seinen machte. Er ging zu Werke, wie er es immer tat, wenn er eine Sprache von innen heraus erlernen wollte: Er übersetzte Shelley ins Schwedische – und dann wieder zurück ins Englische. Das ließ sich freilich bei Romanen einfacher machen; durch ein solches Hin- und Herübersetzen von Balzac hatte er allen Ernstes französisch gelernt.
Alfred häufte seinen pazifistischen Zorn mehrere Jahre lang über dem Haupt seines Vaters an, ohne ihn über ihn zu ergießen. Ja, er wartete schlechterdings bis nach seinem Parisaufenthalt. Da hatte er auch die übrige pazifistische Literatur so fest im Griff, daß er zu wissen glaubte, wovon er redete.
Prüfte er jetzt seinen Sinn, war einer der Gründe für sein Schweigen wohl auch, daß Vater ihm in seinem zu erwartenden Ärger nicht die Parisfahrt streichen sollte! Ja, er hatte Grund, sich zu schämen ... Ja, er schämte sich! Wie ein Pfarrerssohn und Pfarramtskandidat, der von der Universität in das Vaterhaus heimkehrt und erklärt, er habe den Glauben an die christliche Lehre verloren, kam Alfred nun nach Petersburg zurück und verkündete dem Vater und den Brüdern, daß er ›Nobel & Söhne‹ wegen deren kriegerischer Produktion verabscheute und den Zaren wegen dessen barbarischer Aufrüstung haßte.
Nach einem ohrenbetäubenden Schweigen brach ein prachtvoller Streit zwischen Immanuel und Alfred los – die Brüder zogen es vor, mit immer größerer Verblüffung zuzuhören.
»Rotzjunge!« tobte Immanuel. »Kriege hat es immer gegeben – und wird es immer geben.«
»Das ist nicht wahr. Oder, es braucht nicht wahr zu sein. Nimm nur all die schwedischen und nordischen Saisonfehden der Vergangenheit. Erst haben die schwedischen Provinzen aufgehört, sich untereinander zu prügeln. Jetzt haben wir auch aufgehört, uns mit dem Dänen zu schlagen. Es wird immer mindestens eine bessere Möglichkeit geben, Konflikte zu lösen, als sich gegenseitig totzuschlagen.«
»Dummes Gerede! Komm nicht und versuch, mir die Geschichte zu erklären. Nimm an, Rußland rüstet ab ...«
»... dann würden seine Nachbarn bald feststellen, daß auch sie keine teure und unproduktive Kriegsmacht benötigen.«
»Ha! Der Türke würde das Land überfluten und uns zu Heiden machen. Ein wehrloses Petersburg hätten sie bald niedergebrannt, unsere Frauen vergewaltigt ... Würdest du stillschweigend zusehen, daß deiner eigenen Mutter Gewalt angetan wird?!«
»Ein klassisches Argument der Kriegstreiber! Selbstverständlich würde ich ihm den Schädel einschlagen, wenn ich es könnte. Aber muß man deshalb eine ganze Armee ausrüsten, um sich an all den unschuldigen Verwandten dieses Türken zu rächen?«
»Ja, da hast du es – du bist nicht mehr Pazifist als mein alter Hut.«
»Ich habe nichts gegen eine Ordnungsmacht einzuwenden. Am liebsten eine internationale, überstaatliche Polizei, die bei Bedarf an Unruheherden eingesetzt werden und beginnende Kriege ersticken könnte.«
»Was glaubst du, welches Land es wagen würde, eine solche ›Polizei‹ hereinzulassen?«
»Wie dem auch sei: Tretminen sind inhuman und sollten verboten werden! Es ist nicht zivilisiert, auf diese Weise Krieg zu führen.«
»›Zivilisierte Kriege‹ – etwas Verrückteres habe ich nie gehört. Weiß der Herr, was Contradictio in adjecto heißt?«
»Ja, zufällig. Aber da kein Krieg zivilisiert ist, kommt es auch uns in unserer aufgeklärten Zeit nicht zu, Kriege zu führen.« »Hüte dich, so zu reden, wenn dich die Polizei des Zaren hören kann. Ich versichere dir, du landest sofort in der Peter-Paul-Festung und darfst zwischen den anderen Nihilisten warten – bis dich der Tod erlöst. Oder gedenkst du dich zur Wehr zu setzen? Du radikaler Pazifist, der es dennoch für richtig hält, den vergewaltigenden Türken den Schädel einzuschlagen ...«
»Es ist eine Sache, einen Wehrlosen zu verteidigen. Eine andere, sich selbst zu verteidigen. Und da sehe ich keinen anderen vernünftigen Ausweg als passiven Widerstand – oder ›peacefull resistance‹, wie man es im Geiste Shelleys auszudrücken pflegt:
Ruhig steht, einander Halt,
Dicht und lautlos wie ein Wald,
Festen Auges, doch mit schlaffen
Armen – euern besten Waffen.
Skandierte er stolz und feurig, bis Vater zu lachen begann.
»Armer kleiner Alfred – ich möchte dich ›ruhig und festen Auges‹ sehen! Jetzt brauchst du erst einmal ein kühlendes Bad. Aber ich kann nur schwer verwinden, daß du die Hand schlägst, die dich ernährt.«
»Das geht mir leider ebenso!« erwiderte Alfred mit einer gewissen Heftigkeit. Immanuel seufzte und blickte seinen Sohn unter schweren Augenlidern hervor an.
»Irgend etwas anderes hast du ja wohl bei Pelouze gelernt, als deinen alten Vater zu verachten?«
Ja doch ... Alfred wühlte in dem Papierberg und zog einen Bericht über all das hervor, was er bei dem berühmten Professor der Chemie in Paris gelernt zu haben glaubte und was seines Erachtens dem Nobelschen Betrieb von Nutzen sein konnte. Eine Lehre aber verschwieg er – bis auf weiteres. Das Problem für den pazifistischen Evangelisten Alfred war nämlich, daß er mit einem brennenden Interesse für einen recht neuentdeckten Sprengstoff aus Paris zurückgekehrt war. Alfred sah dessen enorme Bedeutung vor allem in der friedlichen Anwendung. Doch der Vater würde ihn sicher sofort als außerordentliches Ingrediens für seine verdammten Minen betrachten. Alfred selbst war auch nicht so einfältig, daß er die Wirkung dieses Stoffes als Kampfmittel unterschätzte. Vielleicht predigte er den Frieden deshalb mit so viel Nachdruck? Es würde ohnehin einige Zeit dauern, bis Alfred die Möglichkeit zu praktischen Versuchen hätte. Denn Immanuel wollte ihn nach Amerika schicken, wo er technische Neuerungen aufspüren sollte. Vergebens schützte Alfred vor, er sei nach der langen Abwesenheit erschöpft. Konnten denn Robert oder Ludwig nicht fahren? Nein, sie wurden zu