Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
die Ladung in Ludwigs Kanal auszuprobieren. Und da brauche ich eigentlich seine Erlaubnis ... Mir kam die Idee, als ich an deine und Vaters Minengürtel dachte!«
An Ludwigs Fabrik vorbei schlängelte sich ein schmales Flüßchen, das in die Newa mündete. Direkt neben den Gebäuden war es zu einem Kanal ausgegraben, so daß flachgehende Schiffe und Schleppkähne bis zur Landungsbrücke hinauf passieren konnten.
Sie fanden Ludwig in der Werkstatt. Der Lärm übertönte ihre Worte; sie waren gezwungen, aus dem Haus zu gehen, um sich verständlich zu machen. Zuerst schüttelte Ludwig den Kopf, genau wie Robert es getan hatte. Allmählich aber wurde er immer interessierter. Es endete damit, daß er ihnen half, all das herbeizuholen, was sie noch benötigten. Und dann begleitete er sie sogar zum Kanal hinunter. Obwohl er just an dem Tag furchtbar viel zu tun hatte!
»Brauchen wir nicht jemanden für die Fähnchen?« wollte der vorsichtige Robert wissen.
»Das hier ist keine große Ladung«, erwiderte Alfred. »Und sollte zufälligerweise jemand allzu nahe herankommen, können wir ihn ja warnen.«
»Ja, aber beeile dich jetzt«, mahnte Ludwig. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Wird gemacht. Nun, Robert, hast du noch ein paar von deinen Schwefelhölzern? Oder hast du sie etwa alle verkauft?«
Robert verzog das Gesicht zur Grimasse, holte aber dennoch ein Zündholz aus der Tasche. Er riß es an einem Poller an, hielt es an die Zündschnur und trat einige Schritte zurück. Alfred senkte das Gefäß vorsichtig ins Wasser, ließ es ein Stück mit dem Strom schwimmen, ehe er die Leine straff zog, die um den Behälter gebunden war. Er war so schwer, daß er trotz der Strömung sank. »Jetzt knallt es in dreißig Sekunden – oder gar nicht«, verkündete er.
Im stillen zählte er mit.
Die Brüder standen ein Stück hinter ihm, doch er selbst war an der Böschung vorn stehengeblieben. Robert wollte Alfred gerade warnen, als dieser ›achtundzwanzig‹ sagte – und eine Sekunde darauf ertönte der Knall.
Das Echo wurde zwischen den Häusern umhergeworfen, und gleichzeitig schoß ein starker Wasserstrahl aus dem Kanal auf. Die Wassersäule fiel genau dort nieder, wo Alfred stand, und überspülte ihn. Vor seinen Füßen lag ein zappelnder Fisch.
»Ein Stör?« sagte er verwundert und hob den Fisch mit beiden Armen in die Höhe. »Wie in aller Welt ist der in die Newa gelangt!«
Robert lachte und schlug Alfred so kräftig auf die Schulter, daß dieser den Fisch beinahe hätte fallen lassen.
»Du mußt doch völlig übergeschnappt sein! ›Ein Stör‹, schreist du herum, obwohl es dir nach all den Jahren endlich gelungen ist, das Nitroglyzerin zur Explosion zu bringen.« Zu Ludwig gewandt, fuhr er fort: »Kein Zweifel, es war das Nitroglyzerin, das die Detonation so heftig hat werden lassen. Die kleine Menge Pulver darin hätte nicht halb soviel bewirkt.«
»Daß es gelingen würde, wußte ich bereits«, erwiderte Alfred geistesabwesend. »Ich finde den Fischfang erstaunlicher. Herrlich – es ist genau das, was ein armer Schlucker wie ich zum Mittagessen brauchen kann!«
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»Ein störrischer Esel ist ein Wunder an Willfährigkeit, verglichen mit Ihnen, Vater!«
»Und du bist eine diebische Elster, Alfred. Ich war es und nicht du, dem zuerst eingefallen ist, Nitroglyzerin mit Pulver zu mischen. Jetzt versuchst du, das Patent für eine Entdeckung zu bekommen, die nicht die deine ist!«
Alfred traute seinen Ohren kaum. Plötzlich bekam er keine Luft mehr und krümmte sich, während er sich zu beruhigen suchte.
Wie konnte er Vater überzeugen? Wenn doch Mutter zu Hause wäre! Doch sie stand wieder einmal hinter dem Ladentisch ... Emil – vielleicht konnte Emil ihn zu Verstand bringen? Doch Emil studierte am Technologischen Institut und wohnte in der Regeringsgatan in der Stadt drinnen. Er hatte hier in dem engen Heleneborg keinen Platz, wo Immanuel und Andriette sich das Haus mit einem Kesselschmied und seinem Gehilfen mit Frau und fünf Kindern teilten.
Heleneborg – ein äußerst schäbiges Vorstadtgebäude in Söder. Noch einmal im Viertel der Tabakspinner! Immanuel und Alfred saßen in dem kleinen Schuppen auf dem Hof, der Vaters Laboratorium genannt wurde ...
Wie merkwürdig, daß auch Emil die Begeisterung für die Chemie teilte! Für diese Mixtur aus Magie und Unerbittlichkeit.
Alfred hatte bisher weder die Mutter noch den Bruder sprechen können. Er war mit dem Frühschiff angekommen, um diesen notwendigen Blitzbesuch bei seinem starrköpfigen Vater abzustatten. Doch wenn ihr Zusammensein weiter auf diese Weise verlief, würde er sofort wieder nach Petersburg zurückkehren – nur Mutter wollte er noch umarmen! Emil war gegen Abend zu erwarten, falls er Alfreds Nachricht überhaupt rechtzeitig erhalten hatte und sich freimachen konnte. Gleich nach dem gelungenen Experiment in Ludwigs Kanal hatte Alfred einen Brief an Immanuel geschrieben und ihm davon berichtet. Um die Zensur auszuschalten und den Transport zu beschleunigen, war er zum Hafen hinunterspaziert und hatte ein Schiff ausfindig gemacht, das nach Stockholm fahren sollte. Nur einige Tage darauf hatte er ein ebenso enthusiastisches Schreiben vom Vater erhalten: Er habe eine Mischung aus Pulver und Nitroglyzerin hergestellt, die zwanzigmal stärker als gewöhnliches Schwarzpulver sei! Alfred solle sofort zu General Totleben gehen und ihm davon berichten: Die Entdeckung habe größte Bedeutung für Rußland! Alfred begriff, daß Vater auf der falschen Fährte war: Er hatte das Nitroglyzerin weiter auf die alte, erfolglose Weise mit dem Pulver gemischt und das Neuartige an Alfreds getrennten Ladungen nicht erkannt.
Er beschloß, umgehend nach Stockholm zu reisen. Er wollte wenigstens sehen, wie Vater zu Werke gegangen war, um den angeblich wirksamen Sprengstoff herzustellen. Zugleich konnte er im Detail berichten, wie er selbst vorgegangen war. Offenbar hatte er sich in seinem Brief zu knapp ausgedrückt. Und jetzt das! Immanuel war gänzlich uneinsichtig. Er sah überhaupt keinen Unterschied zwischen Alfreds Methode und der seinen. Ja, nun beschuldigte er Alfred sogar, ihm die Entdeckung gestohlen zu haben!
Alfred hatte gehofft, während seines Aufenthalts in Stockholm ein Patentgesuch beim Kommerzkollegium einreichen zu können. Doch nun war seine ganze Kraft bei diesem unsinnigen Streit aufgebraucht worden.
Hin und wieder hatte er in den vergangenen Jahren begeisterte Briefe von Immanuel erhalten über dessen Erfolge beim schwedischen Militär mit seinen Minen, und wer weiß was sonst noch alles. Einmal trafen Zeitungsausschnitte ein über gelungene Demonstrationen auf Djurgårdsbrunnsviken, dann wieder umfangreiche Artikel, die Immanuel für ›Aftonbladet‹ geschrieben hatte: Darin schilderte er seine Minen als die Rettung Rußlands im Krimkrieg ...
Alfred hatte sie zerstreut, doch mit immer größerer Beklemmung gelesen. Der Vater war aus dem Gleichgewicht geraten. Er kämpfte um seine Existenz – und wie sollte er da im Gleichgewicht sein können! Aus all seinen Plänen war nach der Rückkehr nach Schweden nicht das geringste geworden.
Alfred wagte es erneut, einen Blick auf den Vater zu werfen. Das ergraute Haar stand wie Schneegestöber um die hochrote Stirn. Seit Alfred die Luft weggeblieben war, hatte Immanuel geschwiegen. Alfred hörte nur seinen schweren, erregten Atem. Vielleicht glaubte Vater, er habe sich seinem harten Urteil gebeugt, hätte dem nichts entgegenzusetzen.
Er beschloß, noch einmal zu versuchen, den Vater von seinem Irrtum abzubringen.
»Vater«, begann er, »Ihre Experimente waren doch nur äußerst oberflächlich, das wenigstens müssen Sie doch zugeben. Über dieses Bleirohr dort sind die Versuche doch nicht hinausgekommen und also nicht in größerem Umfang erprobt worden. Dennoch haben Sie diese falschen Vorspiegelungen gemacht und wollten mich zu General Totleben schicken – ohne eine gesicherte Faktengrundlage, ohne auch nur auf eine einzige Versuchsreihe verweisen zu können. Hieße das nicht, den Namen Nobel unnötigerweise in Mißkredit zu bringen? Lassen Sie uns doch auf jeden Fall die Versuche unter realistischen Bedingungen wiederholen und ...« »Ich habe eine Unmenge Versuchsreihen durchgeführt«, unterbrach ihn Immanuel, »ich weiß, wovon ich rede! Deine sogenannte Methode ändert an der Sache