Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
ja nicht einmal zuhören.«
»Ich höre keinem Dieb zu!«
Alfred ließ die Hände auf die Knie sinken. Er erhob sich mühsam.
»In dem Fall haben wir uns nichts mehr zu sagen ... Darf ich noch erfahren, wo Mutters Laden liegt?«
»In der Renstiernagatan«, murmelte Immanuel. »Das habe ich doch schon erwähnt.«
Alfred nahm sein Reisegepäck und berührte die Hutkrempe. Er sah Vaters Hände auf dem Lederschurz zittern.
2
Mutters resolutes Gesicht war verschlossen, und sie arbeitete mit entschieden gerunzelter Stirn. Alfred erkannte diese Züge wieder: Das war seine tüchtige Mutter, ganz von den Dingen in Anspruch genommen, die sie beschäftigten. Doch ihr Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck, den er früher nicht an ihr wahrgenommen hatte. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt, ihre Züge nicht glätten können. Es tat weh, sie so zu sehen. Unvermittelt dachte er an die Zeit vor fast dreißig Jahren. Mutters Leben hatte sich im Kreis bewegt – wie konnte man ihn anders als böse bezeichnen?
So, endlich hatte sie alles beisammen, was der Kunde begehrte. Ein rasches Lächeln folgte ihm ein Stück auf den Weg. Dann erlosch es ebenso rasch, und den Kopf ein wenig geneigt, so als höre sie schlecht und müsse ihr Ohr dem wartenden Kunden zuwenden, blickte sie fragend zu Alfred hinüber.
Es dauerte ein paar Augenblicke, ehe sie erfaßte, wen sie da sah. Im Nu war sie um den Ladentisch herumgeeilt, die bekümmerten Falten waren einem strahlenden Lächeln gewichen. Sie betrachtete ihn genau, ehe sie die Arme öffnete und ihn fest an ihre Brust drückte: »Oh, Alfred, lieber ...! Wie mager du bist«, konnte sie nicht an sich halten, als ihre Hände fühlten, wie dünn er war.
Auch er spürte, daß sie magerer geworden war, wagte jedoch nicht, etwas zu sagen. Statt dessen flüsterte er in ihr Haar: »Mutter duftet genausogut wie früher – von dem Duft konnte ich nie genug bekommen!«
Zahllose ›daß du wieder hier bist‹ und ›wie schön, Mutter wiederzusehen‹; neue Umarmungen, noch ein Kunde. Letzten Endes saßen sie jeder auf einem Stuhl im Laden und sahen sich aneinander satt. Wie er sie vermißt hatte!
»Warum ziehst du nicht auch hierher«, fragte sie, gleichsam als Antwort auf seinen stummen Aufschrei.
»Damit auch ich von Mutters Gemüse lebe?« entfuhr es ihm.
»Oh, hier gibt es keinen Grund zum Klagen«, entgegnete sie verstimmt. »Ich brauche Arbeit und muß mich bewegen. Und da ich nun Svea helfen konnte, als sie krank geworden war ... Ja, Svea kennst du ja nicht; ihr gehört der Laden. Oh, jetzt kommt wieder ein Kunde! Wir reden heute abend weiter.«
»Heute abend bin ich wieder auf dem Weg nach Petersburg ...«
Sie sah an seiner Miene, daß etwas geschehen war.
»Warte hier – ich bin gleich zurück!«
Dann erfuhr sie also, warum er so überstürzt ›von zu Hause‹ floh.
»Jaa«, seufzte sie, »daß ihr beide nie an einem Strang ziehen könnt! Im übrigen ist es überhaupt nicht schwierig, mit Väterchen auszukommen, weißt du. Und er hat ganze sechstausend, glaube ich, waren es, erhalten, um etwas für die Regierung zu konstruieren – ich erinnere mich nicht genau, was es war ... Also eigentlich ist er wirklich guter Stimmung! Zumindest verglichen mit der letzten Zeit in Petersburg, als alles so schwierig war.«
Andriette verstummte. Alfred sah, daß es ihr nicht länger gelang, die verbindliche und alles überspielende Maske aufrechtzuerhalten. Also unterließ er es, weiter über Immanuels Unverschämtheit zu klagen, und erzählte ihr von den geglückten Versuchen, die er und seine Brüder durchgeführt hatten. Mutter konnte es brauchen, zur Abwechslung etwas Gutes – und Glaubwürdiges – zu hören!
»Ludwig war so aus dem Häuschen über unsere Resultate, daß er seine Reise nach Finnland verschob. Die anderen mußten so lange ohne ihn in die Sommerfrische.«
Andriette lächelte und beglückwünschte ihn. Doch es schien, als glaubte sie ihm nicht ganz. War auch sie von all den gescheiterten Plänen Immanuels gezeichnet und nicht mehr imstande zu hoffen?
Dann wurde ihr Gesicht ernst, und sie legte ihre Hand auf die seine.
»Alfred versuch, dich wieder mit Vater auszusöhnen. Ich würde es nicht ertragen, wenn ihr zerstritten bleibt! Sprich mit Emil – auf ihn hört Vater, und er ist gescheit genug, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen, wenn er gar zu töricht reagiert hat. Später, wenn die Ergebnisse deinen Erwartungen entsprechen, dann komm her und arbeite mit Vater und Emil an ihrer Verwirklichung! Wir könnten es brauchen, alle – du auch ...«
»Ich kann nicht stillschweigend Vaters ehrenrührige Beschuldigungen hinnehmen«, antwortete er kühl und verfluchte seinen Stolz.
»Das sollst du auch nicht! Immanuel kann ein Hitzkopf sein, aber er ist nicht verbohrt. Bald wird er einsehen, daß er unrecht hat – wenn du ihm nur etwas Zeit läßt. – Aber putze ihn ruhig erst ein wenig herunter. Obwohl – es ist wohl das beste, wenn du mit Emil redest und ihm all deine Ergebnisse zeigst.« »Wie soll ich an Emil herankommen, ehe ich fahre!«
»Habe ich das noch nicht gesagt? Emil kommt her – ja, in ungefähr einer Stunde. Ich habe ihm Mohrrüben versprochen.« »Hat Emil sich Kaninchen angeschafft?«
Mutters junges silbriges Lachen perlte plötzlich auf ihre traurigen Hackfrüchte nieder; ein seltenes und ersehntes Lachen, auch von ihr nunmehr.
»Nein, das Kaninchen ist er selbst! Er ißt die Mohrrüben roh und behauptet, sein Körpermotor sei noch nie so gut gelaufen wie mit diesem Brennstoff.«
»Ein kluger junger Mann!« Alfred lachte ebenfalls aus purer Freude über Mutters Heiterkeit, und er fühlte Sympathie für den Bruder. Zwischen Emil und ihm war ein Altersunterschied von zehn Jahren. Die zehn wichtigsten Jahre waren während Alfreds hektischster Zeit verflogen: Reisen, Arbeit und – wie merkwürdig es auch klingen mochte – Krankheit und hartnäckige Versuche, die Gesundheit zurückzuerlangen. Oder sollte er sagen, Versuche, der Krankheit Widerstand zu leisten? Er fühlte sich wie ein Holländer. Immer bedroht vom Hunger des Meeres nach Land. Solange Mutter noch in Rußland gewesen war, wachte sie über ihn und beeilte sich, die Dämme zu verstärken, sobald sie es ihr notwendig erschien. Heute war es wohl leider so, daß er die Dämme verfallen ließ. Während er sich vor sich selbst herausredete, nicht all das trockene Land zu benötigen, das die anderen für unabdinglich hielten ...
Der kleine und später dann der junge Emil hatte all das besessen, was Alfred gefehlt hatte: gute Gesundheit und viel Humor. Alfred war zuweilen eifersüchtig auf Emil gewesen und hatte das Gefühl, Emil verachte schon frühzeitig das ›Theater‹, das um Alfred gemacht wurde. Darin war er wohl das kindliche Echo des Vaters, der immer eine eiserne Gesundheit besessen hatte und nie begriff, warum andere nicht ebenso gesund waren wie er selbst! Dennoch war die relative Ruhe, zu der Alfred gezwungen war, Emil in seinen frühen Lebensjahren zugute gekommen. Alfred war stets zugegen, wenn Emil etwas fragen wollte. Alfred ›wußte Bescheid‹, wenn Emil zu viel anderes vorgehabt und nicht richtig zugehört hatte, um die Schularbeiten erledigen zu können. Vielleicht hatte Alfred damals dazu beigetragen, daß auch Emil sich besonders für die Chemie interessierte? Die ernste Wissenschaft war in Emils Gesellschaft zum Vergnügen geworden – und zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben hatte Alfred ›gespielt‹!
Die vergangenen drei Jahre hatten sie brieflich Kontakt gehalten. Ein sporadischer, aber sachlicher Austausch. Emil war auf ein Problem gestoßen, bei dessen Lösung er Hilfe brauchte. Und Alfred hatte geantwortet, sachlich. Der Emil, den Alfred als Kind und jungen Burschen gekannt hatte, war in einer Umgebung aufgewachsen, die sich von Alfreds eigener Kinderwelt gänzlich unterschied. Während sich Alfred für immer durch die entbehrungsreichen Jahre in Stockholm gezeichnet fühlte, kostete Emil das reiche Leben in Petersburg mit einer Selbstverständlichkeit aus, die Alfred erschreckte und verärgerte. Die älteren Brüder scherten sich nicht um das, was Emil tat, doch Alfred sah es als seine Aufgabe an, Emil ›zu erziehen‹,