Der Dynamitkönig Alfred Nobel. Rune Pär Olofsson
auch ihr erstes Enkelkind konnte sie willkommen heißen: Emanuel wurde am 10. Juni 1859 in Petersburg geboren.
Mutter war fast 56 Jahre alt, als sie gezwungen war, ihr reiches und gemütliches Zuhause in der russischen Hauptstadt aufzugeben.
Doch sollte sie dieses Mal nicht ebenso mittellos in die schwedische Hauptstadt einziehen wie nach dem Brand in Knaperstad. Verständnisvolle russische Gläubiger hatten ein Auge zugedrückt, als ihre Habe verladen wurde.
Vielleicht war Mutter der Meinung, sie habe ein gutes Leben geführt und das Übriggebliebene sei ausreichend! Ich verstehe zwar nicht, warum sie so denken sollte, doch sie klagte niemals, obwohl ich sie dazu ermunterte.
5
Verdammt, daß er sich in diese trübseligen Erinnerungen verlieren mußte! Und all das nur wegen des verrückten Alptraums!
Obwohl draußen noch Nacht war, war es hell wie am Tag. Mit einiger Mühe gelang es ihm, das Fenster zu öffnen, und er lehnte sich in den kühlen Morgen hinaus. In einiger Entfernung erklang das rasche Klappern von Pferdehufen, und schon bald bog eine Kutsche um die Straßenecke, gefolgt von mehreren Wagen. Auf dem Dach der Kutsche waren Körbe festgezurrt, und auf den offenen Wagen der Fuhre rumpelten Möbel hin und her und klapperten Hausgeräte.
Noch eine der reichen Familien war unterwegs in die Sommerfrische irgendwo am Finnischen Meerbusen! Er hatte sie jetzt Tag für Tag gesehen. Alle, die es sich leisten konnten, nahmen Kinder und Dienstboten und zogen den Sommer über aufs Land. Spätestens zu Mittsommer hatten all die großen Herrschaften Petersburg verlassen. Zurück in der stinkenden Hitze blieben Leute wie er. Leute, denen die Mittel fehlten oder die es nicht besser verstanden – oder die so etwas Selbstverständliches wie ein Sommerhaus einfach nicht besaßen.
Alfred fühlte sich müde, doch war es zu spät, um in dieser Nacht noch an Schlafen zu denken. Oder zu früh – wenn man so wollte. Er beschloß, die Müdigkeit durch einen raschen Spaziergang an der Newa abzuschütteln, obwohl er diesen ewig fließenden, ewig breiten, sandigen Strom eigentlich haßte! Und zog man es vor, die Brücke von der Wyborg-Seite zum Stadtkern zu überqueren, brauchte man schon eine halbe Stunde, um nur hinüberzugelangen. Den Hut sah man gewöhnlich auf dem Finnischen Meerbusen schaukeln, wenn man nicht so vorsichtig gewesen war, ihn ordentlich festzuhalten; immer wehte um den Fluß herum und auf den Brücken ein kräftiges Lüftchen, auch wenn es überall sonst im Universum völlig windstill war.
Er hatte keine Uhr bei sich und konnte sich jetzt auch nicht erinnern, wo er sie hingelegt hatte. Der Hut jedenfalls hing an seinem Platz. Er setzte ihn fest auf den Kopf, mußte ihn aber noch einmal abnehmen, um die Haarlocke darunterzuklemmen, die ihm immer wieder in die Stirn fallen wollte. Dann den Gehrock an – er hatte seiner Mutter schließlich versprechen müssen, sich jederzeit ordentlich zu kleiden, wie knapp seine Mittel auch bemessen sein mochten. Niemand konnte schließlich wissen, daß er darunter nur ein zerrissenes Hemd trug.
Ehe er an der Tür nach dem Spazierstock griff, ging er einmal um den Amboß neben dem Herd herum. Starrte wütend auf einen nassen Fleck auf dem Klotz, nahm den Hammer vom Herd und schlug darauf ein.
Es dröhnte wie ein Donnerschlag.
Sofort war ein Pochen an der Wand zu hören. Er hatte Wolodja geweckt. »Es ist ohnehin Zeit aufzuwachen!« rief er, so laut er konnte.
Er hatte versprechen müssen, seine Nitroglyzerinversuche in der Nacht zu unterlassen. Jetzt aber konnte wohl keiner mehr behaupten, es sei Nacht – oder konnte man das?
Rasch polterte er die Treppe hinab. Lief hinunter zur Newa. Dort mußte er stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Verdammter Husten! Dieses Jahr schien es in Petersburg überhaupt nicht richtig Frühling werden zu wollen! Ende Mai und noch beinahe zehn Grad Kälte. Heute aber zeigte das Thermometer doch Plusgrade an.
Am anderen Ufer des Flusses sah er die Stadt erwachen, auch wenn manch einer auf der Wyborg-Seite noch meinte, es sei Nacht! Über das Wasser hörte er Kinderfüße im Takt marschieren – sicher einige Hundert. Das waren die glücklichen Seelen des Kinderheims, unterwegs zu einer stärkenden Arbeit in irgendeiner Fabrik. An ihren Uniformen konnte man erkennen, wo sie herkamen. Eins – zwei, eins – zwei! Es war ein vergnügliches Phänomen zu sehen, wie ihre Füße den Boden berührten, ehe das Geräusch über das Wasser herüberklang. Wenn er Lust hatte, konnte er ausrechnen, wie weit sie von ihm entfernt waren.
Nein, heute half der Spaziergang nicht – er konnte die Erlebnisse der Nacht nicht aus seinen Gedanken vertreiben! Er, der verschütteter Milch nicht hinterherweinte – jetzt nicht mehr –, er grämte sich wie ein zweiter Saulus über das, was gewesen und an dem nun nichts mehr zu ändern war.
Ein Gedanke noch drängte sich auf und gab ihm keine Ruhe. Als die Nachricht kam, daß die Seeminen nicht rechtzeitig am Schwarzen Meer eingetroffen waren – und mit ihnen auch die Landminen nicht, die mit dem gleichen Transport abgegangen waren –, hatte er eine wilde, verrückte Freude empfunden. Offensichtlich wachte dennoch eine Art höherer Gerechtigkeit! Wer solch bestialische Kriegswerkzeuge benutzte, hatte selbst schuld! Bekam es selbst zu spüren: Der Tyrann verlor den Krieg – wenn auch zugunsten eines anderen Tyrannen.
Aber war dann nicht der Erfinder und spätere Hersteller dieser verdammten Minen ebenso ›schuldig‹? Doch so war es. Und um die Wahrheit zu sagen, hatte er Ähnliches gedacht, als ›Nobel & Söhne‹ liquidieren mußte – obwohl der Gedanke keinerlei, weder wilde noch verrückte, Freude hervorrief. Mit selbstverständlicher Konsequenz hatte sich das eine aus dem anderen ergeben, bis er das Resultat ablesen konnte, das gleichsam dem Moralgesetz entsprach: Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Einer Art ethischem Gesetz der Schwerkraft.
Nichts wurde besser davon, daß er sich selbst für beteiligt an dem Verbrechen hielt. Ja schlimmer noch: Er hatte die Süße des Erfolgs und der Rubel genossen, solange in der Firma alles vorzüglich lief. Deshalb hatte er das moralische Recht verwirkt, den ersten Stein zu werfen. Nicht einmal der letzte stand ihm zu! Jetzt der gütigen Vorsehung, an die er noch nicht einmal glaubte, zu danken, daß Nobels Landminen auf Abwege geraten waren, zeugte von einer Doppelmoral, die er ansonsten verachtete. Irgendeine der Tretminen war ja wohl doch zur Anwendung gekommen und hatte einem Türken die Beine abgerissen. Eine einzige reichte aus, um den Verursacher für schuldig zu erklären! Der Mensch ist ohnedies immer geneigt, den einzelnen Fall außer acht zu lassen und erst bei Wiederholungen zu reagieren, wenn es zur Massenwirkung, Massenvernichtung, Massenhinrichtung kommt. Alfred hatte Leo Tolstois schonungslose und blutig realistische Schilderungen des Krimkriegs gelesen und dabei seine tiefe Mitschuld an dem Elend der grauen Soldatenmassen in vollem Umfang begriffen. Er war Tolstoi später in einem – geheimen – literarischen Salon in Petersburg begegnet. Doch nicht Tolstois Augenzeugenberichte vom Hunger und Massensterben um Sewastopol hatten an dem Abend den stärksten Eindruck auf ihn gemacht, sondern Tolstois Ausspruch: ›Alle Seligkeit des Himmels kann nicht das Weinen eines einzigen Kindes aufwiegen!‹
Die Äußerung schien nicht das geringste mit dem Thema des Abends zu tun zu haben. Doch für Alfred öffneten diese Worte Tür und Tor – nicht in die Zukunft, sondern zurück zu der wichtigsten Begegnung seiner Jugendzeit – der Begegnung mit dem Werk Percy Shelleys.
Alfred und seine Brüder hatten die denkbar beste Ausbildung genossen – wofür Vater Immanuel Dank sein sollte. In Petersburg gab es keine Schule, in die sie hätten gehen können. Statt dessen wurden sie, wie die meisten Kinder der anderen herrschaftlichen Familien aus dem Ausland, von einer ganzen Schar Hauslehrer in den verschiedensten Fächern unterrichtet. Mager und arm waren sie, doch oft von glühendem Eifer. Männer aus dem intellektuellen Proletariat, an dem Rußland so reich war. Literaten, denen die Zensur Einhalt geboten hatte und die allein dadurch dem Hungertod entgingen, daß sie den gewöhnlich faulen Jünglingsschädeln Kenntnisse einzutrichtern suchten. Doch die Brüder Nobel waren keine faulen Kinder reicher Leute. Im Gegenteil, sie hungerten nach Wissen und dem Lebensbrot, das Erkenntnis heißt. Alfred war vielleicht der Hungrigste unter ihnen; er war zu Hause in Schweden ja auch die kürzeste Zeit zur Schule gegangen. Als er sechzehn war, endeten die arrangierten Privatstudien – doch, wenn er das selbst so sagen durfte, dann hatte er zu diesem Zeitpunkt seine