Linus. Izzy O'Brian
tönte es von allen Seiten.
Überrascht sah ich mich um. Anscheinend ging der Schreihals nicht nur mir auf die Nerven. Aber wo war er bloß? Während ich noch nach einem bunten Vogel Ausschau hielt, sprach Blacky weiter:
‚Hier kommt kaum jemand dauerhaft raus. Ich wurde schon dreimal mitgenommen. Und jetzt bin ich wieder da. Am ehesten nimmt jemand die Jungtiere mit. Ausgewachsen haben nicht einmal wir Hunde eine Chance. Bei Katzen ist es noch unwahrscheinlicher. Nimms mir nicht übel, aber von euch gibt es einfach zu viele. Bist du eigentlich kastriert?‘
‚Kastriert das Negerpack!‘
Dieses Mal brüllte ich auch mit – und war erstaunt, wie gut es sich anfühlte. Nicht nur, dass ich den aufgestauten Ärger rauslassen konnte, sondern auch das kleine Gemeinschaftsgefühl, das dabei entstand.
Kaum war es ruhig, plauderte Blacky weiter. Er war, wie mir bald klar wurde, die Quasselstrippe nicht nur unseres Raumes, sondern des ganzen Hauses. Trotzdem war es ein Segen, dass ich für seine Nase gut roch. Wen Blacky nicht mochte, der hatte hier ein noch schwereres Leben, als es ohnehin schon war.
Mit beiden Ohren und dem halben Kopf hörte ich ihm zu – der Rest suchte den Papagei. Dass ich ihn tatsächlich entdeckte, war allerdings ein Zufall. Ein hässliches Etwas kletterte an einem abgewetzten Baumstamm hoch und fluchte halblaut ‚Scheiß Asylanten‘ vor sich hin.
Ich schwankte zwischen Entsetzen und dem instinktiven Wunsch, zu töten. Ihr wisst schon – das schwächste und kränkste Tier der Herde muss aussortiert werden. Das Einfangen wäre auch keine große Kunst, denn fliegen konnte das Vieh bestimmt nicht mehr. Dafür war es quasi schon fertig fürs Backrohr. Es fehlten nur noch die Gewürze.
‚Lass es‘, mischte sich Shiva ein. ‚Diese Idee hatten wir alle schon mal. Vor allem bei Vollmond. Einer hat es mal versucht. Antonio. Bastet hab ihn selig.‘
‚Was ist passiert?‘
‚Erzähl die Geschichte, Shiva‘, riefen mehrere Tiere durcheinander. ‚Ja, erzähl sie.‘
‚Wegen mir musst du nicht unbedingt –‘
‚Halts Maul, Neuer‘, kam es nicht wirklich unfreundlich von rechts. Aus einer Höhle schaute ein leibhaftiger Wolperdinger heraus. Mausohren, Katzenschnurrhaare, Hasennase, Hamsterbacken – und das in XXL.
Ich setzte mich vor Schreck erst mal auf das Hinterteil. Zum Glück so, dass sich gleichzeitig den Abstand zwischen uns vergrößerte.
‚Was bist denn du?‘
Ja, ich weiß, das war nicht besonders höflich. Aber bei diesem Anblick wäre euch auch nichts Besseres eingefallen.
Der Wolperdinger würdigte mich keiner Antwort. Aber dafür gab es ja Blacky:
‚Neuer, das ist die Graue Eminenz dieses Refugio, Don Emanuel Alvaraz.‘
So würdevoll er sich auch gegeben hatte, so brach doch gleich darauf wieder das typisch Hündische durch. Ich sah regelrecht vor mir, wie er Männchen machte, mit dem Schwanz wedelte und diesen ganz speziellen Hund-Treu-Doof-Blick aufsetzte.
‚Hab ich es richtig ausgesprochen, Don? Hab ich, sag, hab ich?‘
‚Si, du hast. Du bist buen amigo, mein Guter. Und nun, Shiva, gatta cara, erweise uns die Ehre einer cuento, vertreibe uns aburrimiento.‘
Ich sah, wie sich alle Tiere gemütlich einrichteten und dann den Kopf zu Shiva drehten. Entweder war sie eine begnadete Erzählerin oder es wurde hier alles dankbar angenommen, was ein wenig Ablenkung versprach.
Nach wenigen Sätzen war mir klar, es war Letzteres. Ganz eindeutig Letzteres.
Um es kurz zu machen – ihr wollt sicher auch wissen, was es mit dem Vollmond auf sich hatte und ob Molly da zu einer Art Werwolfpapagei mutierte.
Nein, tat sie nicht. Sie blieb nackt. Die Schreierei muss allerdings beeindruckend im negativen Sinne gewesen sein.
Besagter Antonio war ein übermotivierter Perser, der allen beweisen wollte, dass er mehr als ein asthma- tisches Plüschkissen war. Laut Shiva starb er im heldenhaften Kampf mit einem tobsüchtigen Raubvogel, der ihm faktisch das Fleisch von den Knochen gerissen hatte, um es anschließend zu verspeisen.
Ich vermute, ihm ist beim ersten Biss eine Feder in den Hals geraten und er hat sich die Lunge rausgehustet. Sicher auch ein spektakulärer Anblick, aber als Geschichte relativ ungeeignet. Vor allem, weil Shiva ihn als tragischen Helden darzustellen versuchte, der sein Leben für das Wohl aller geopfert hatte. Worin diese Verbesserung bestand, fragte ich lieber nicht. Vielleicht hatte Molly so lange gelacht, bis sie keinen Ton mehr rausbrachte?
Die Tage im Tierheim verliefen alle nach demselben anödenden Muster. Und nein, ich weigere mich, diese Zeit noch einmal zu erleben, indem ich euch davon erzähle.
Stellt euch einfach vor, ihr seid in ein fensterloses Zimmer von der Größe einer Badewanne gesperrt. Wenn ihr euch auf den Boden legt und streckt, stoßt ihr an den Wänden an. Rund um euch herum sind lauter andere Menschen, die ihr euch nicht ausgesucht habt und die direkt neben eurer Nase pupsen, pinkeln, kacken. Das Essen könnt ihr euch auch nicht aussuchen und wenn ihr euch zweimal hintereinander weigert, den Fraß hinunterzuwürgen, werdet ihr zum Arzt geschliffen, der allerlei unschöne Dinge mit euch anstellt. Wenn ihr Glück habt, bekommt ihr einmal am Tag Auslauf. Der Raum ist etwa so groß wie eure Küche, hat ein Fenster – und ihr müsst ihn euch mit einem halben Dutzend anderer teilen. Keine Manieren, dafür jede Menge Ticks.
Unter den genannten Umständen kann es mir wohl niemand verdenken, dass ich Chantale praktisch in die Arme sprang, als sie die Tür zu meinem Gefängnis öffnete. Ich schleckte sogar ihr Gesicht ab, vergrub meinen Kopf in ihre Halsbeuge und brummte wie eine Hummel.
Die folgenden Wochen waren wieder so, wie ich Chantale kannte.
Sie saß heulend auf dem Sofa, verwechselte mich mit einem Taschentuch und futterte Eiscreme, während die Flimmerkiste lief.
Ich war selig, nass und voll Rotz, aber selig.
Nie wieder Shivas Geschichten zuhören oder Blackys Dauergeplapper oder Mollys unerschöpfliches Schimpfwortvokabular. Nur noch meine Pupse riechen. Und Futter, das nicht nach eingeschlafenen Füßen schmeckte.
Mein Glück währte jedoch nicht besonders lang.
Als die schlimmste Sommerhitze vorbei war, stand er wieder vor der Tür. Einen mickrigen Blumenstrauß in der Hand, ein schmieriges Lächeln im Gesicht und das Zauberwort auf den Lippen:
Liebe.
Natürlich ließ sie ihn herein.
Kurzzeitig erwog ich, mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen, aber dann sagte sie das einzige, was für mich wirklich zählte: „Der Kater bleibt. Du musst dich mit ihm arrangieren.“
Ich warf ihr einen skeptischen Blick zu. Ob der Trottel wusste, was das hieß? Unwahrscheinlich.
Anfangs lief es auch ziemlich gut. Will heißen, wir gingen uns aus dem Weg und übersahen einander demonstrativ, wenn wir uns doch mal begegneten.
Als die Blätter fielen, fing es an.
Zuerst waren es nur Kleinigkeiten.
Ein Kratzer am Sofa, eine verschwundene Wurst, eine ausgegrabene Pflanze.
Er machte nie den Fehler, mir die Schuld in die Pfoten zu schieben, eine Bestrafung oder gar meinen Rauswurf vorzuschlagen, sondern wartete darauf, dass Chantale von „meinen“ Schandtaten genug haben würde.
Wahrscheinlich dauerte es zu lange, denn an Weihnachten fuhr er härtere Geschütze auf und zerbrach heimlich jene Glitzerkugeln, die ich niemals angerührt hätte. Ich wusste nämlich, dass mich Chantale klatschnass heulen würde. Diese quietschbunten Dinger hatte ihre Oma selbst bemalt. Wie oft ich diese Geschichte schon gehört habe, lässt sich nicht einmal mehr an meinen Schnurrhaaren abzählen!
Das