Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen
Sie ihn freigelassen oder eingesperrt? Beides ist möglich. Doch über den Fürsten Dolgorukow lässt sich keine Antwort geben, es ist unmöglich, eine Antwort zu erhalten. Nur Fragen, die man unmöglich stellen kann.
Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass es mir nicht gelingen wird, alle Gedanken und alle Erinnerungen in den neuen Kalender zu übertragen. Der Verlust der Assoziationen wird unerträglich sein. Wir sind die Geiseln des Julianischen Kalenders. Wenn wir hier nur sitzen blieben, zwischen den Mauerwänden, hinter dem Zaun. Vergessen. Auch Nikolaj Alexandrowitsch hat sich von der Zeit abgekoppelt.
Es geschah am 19. März nach der alten Ordnung. Erst hatte er sich einer doppelten Tagebuchführung zugewandt, autoritätsgläubig, wie er nun mal ist. 47 Tage lang hielt der Zar den Kontakt mit der neuen Zeitrechnung aufrecht. Dann erhielten wir (ziemlich verspätet) die Meldung, das Bolschewikenregime habe die Friedensbedingungen der Deutschen in Brest-Litowsk akzeptiert. Das Reich befand sich in Auflösung, und das stolze Zarenwort »Kein Friede, solange ein feindlicher Soldat auf russischer Erde steht« hatte seine Bedeutung verloren. Die Kapitulation war eine Tatsache, das war noch das Wenigste; Russland hatte seine Ehre verloren, der Zar sein Wort, das war das Entscheidende.
Das Handeln Nikolaj Alexandrowitschs wurde weder durch die Macht noch durch den Thron bestimmt, sondern durch den Krieg, nicht durch die Existenz der Dynastie, sondern durch das Überleben des Vaterlandes, Russlands Erde. Erst als Kommissar Lenin Land abtrat (nicht weniger, wie ich glaube, als ein Drittel vom Territorium des Reichs), um sein eigenes Regime zu retten, hatte der Zar seine historische Rolle verloren. Die Abdankung war als heroische Tat gescheitert, als Strategie für eine Fortsetzung des Krieges. Von diesem Datum an gab »Oberst Romanow« seine parallele Zeitrechnung auf.
Er fuhr mit seiner Arbeit fort, Holz zu sägen, auch an jenem Tag in Tobolsk, als der 19. März nur noch der 19. März war. Er genoss diese Arbeit, schlanke Birkenstämme in annähernd gleich große Teile zu zersägen, meist stand Fürst Dolgorukow auf der anderen Seite des Sägebocks, eine mechanische Bewegung, keine individuelle Leistung; die schwarz gefleckten Holzklötze, die in den Schnee fielen, von denen jeder einzelne eine Garantie gegen den kommenden Frost war. Jetzt hatte er nur seine Zigaretten, solange man sie ihm lässt, ebenso lange, wie sich schlanke Birkenklötze halten, ebenso lange wie der Tagesanbruch.
Ich mag es nicht, Parallelen zur Französischen Revolution zu ziehen. Dazu war das Schicksal von Ludwig XVI. allzu grauenvoll, aber auch die französischen Aufrührer führten eine neue Zeitrechnung ein und schafften es so, die Vergänglichkeit der Revolution zu demonstrieren.
Der Tag, an dem der König abdankte, der 22. September 1792, wurde als Tag eins im Jahr eins verkündet – welch eine fabelhafte Egozentrik! Die neue Ordnung konnte natürlich nichts anderes mit sich bringen als Chaos und Anarchie, in der weltlichen Welt wie im kirchlichen Leben. Die Zeitrechnung währte 14 Jahre. Dann folgten die Napoleonischen Kriege, bis schließlich die Bourbonen wieder auf den Thron gesetzt wurden. Das eröffnet eine Perspektive, wirft ein Licht weit in das undurchsichtige Gestrüpp künftiger Daten.
Es ist eine Frage von Zeit. Aber Fürst Dolgorukow wird wohl nie zurückkehren, weder zum Gregorianischen noch zum Julianischen Kalender.
25. April
Plusgrade, starker Wind, Sonne, Schneefall mitten am Tag.
Als wir uns abends zu Tisch setzten und versuchten, das Essen in uns hineinzukauen (gekochtes Fleisch), hörten wir von unten Geschrei und schnelle Schritte auf der Küchentreppe (die zu der Anrichte zwischen Speisezimmer und Küche führt), und plötzlich stand Ukraintsew in der Tür. Er hatte einen Zettel in der Hand.
»Telegramm aus Tobolsk«, sagte er. »Von meiner lieben Prinzessin!«
Er überreichte das Papier dem sichtlich bewegten Zaren, der es einmal für sich las und dann laut: »Alles wohlauf. Der Kleine schon im Garten. Olga.« (Ungefähr so.) Ein Seufzer der Erleichterung. Ukraintsew grinst.
Sowohl der Zar als auch die Zarin dankten dem Chef der Wache, der bedauernd erklärte, er müsse sich gleich wieder in das Souterrain zurückziehen.
»Bald werden wir sie hier haben«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen, während er sichtlich vergnügt die Treppe hinunter verschwand.
Ich war der Einzige, der sich das Wort gemerkt hatte: Er sagte nicht »alle vier«, er sagte nur »sie«. Olga.
»Alles wohlauf« war das Wichtigste. Das schloss alle ein, die Großfürstinnen, meine eigenen Kinder. »Der Kleine schon im Garten.« Also ist der Zarewitsch auf dem Weg der Besserung. Die Abreise rückt näher.
Erst muss das Eis verschwinden, damit es möglich wird, den Fluss zu befahren. Den Thronerben in einen Bauernkarren zu verfrachten, wie man das Zarenpaar transportiert hatte, würde ihm schon nach ein paar Kilometern den Tod bringen. Ich beneide Dr. Derewenko nicht um seine gegenwärtige Verantwortung, nicht die für die Zukunft Russlands, sondern die für das Leben des Kindes. Wer hätte geglaubt, dass Alexej Nikolajewitsch einmal das Zarentum überleben, dass der Erbe das Erbe überleben würde?
Niemals zuvor ist der Zarewitsch ohne seine beiden Eltern gewesen. Die Töchter auch nicht. Die chaotische Reise macht mir wegen der Großfürstinnen mehr Angst als wegen »des Kleinen«.
Möge ihre Schönheit sie beschützen.
Ich befürchte das Gegenteil.
Alexandra Fjodorowna hat den ganzen Tag Kopfschmerzen gehabt. Zum Mittagessen brachte Sednjew ihr Makkaroni mit Brot und Butter ins Zimmer. Um sich nicht mit Stickereien oder anderer Handarbeit anzustrengen, ruht sie mit geschlossenen Augen auf dem Bett. Dennoch schafft sie es nicht, den Schmerz zu besiegen. Er liegt auf der Innenseite der Augenlider. In den Fensterrahmen hat sie ein Hakenkreuz geritzt, das gleiche Symbol, mit dem Großfürstin Tatjana den Umschlag ihres Tagebuchs bestickt hat. Es soll wohl Glück bringen.
Nikolaj Alexandrowitsch hat Kontakt aufgenommen, nicht mit Ukraintsew, dem »Freund der Familie«, sondern mit mehreren der Wachen. Er fühlt sich unter Männern in Uniform automatisch zu Hause, und ein schäbiger Soldat ist ihm lieber als ein geschniegelter Zivilist. Mag die Zeit auch vorbei sein, in der er noch glaubte, die Soldaten gehorchten Befehlen aus Überzeugung, dass sich in der militärischen Hierarchie die Liebe zum Zaren widerspiegelte. Dennoch fühlt er sich unter Uniformen immer noch am geborgensten. Dem Zivilstaat haftete in seinen Augen immer der Keim von etwas Unvorhersehbarem an, etwas Demokratisches.
Seine glücklichsten Monate (seit der Verlobungszeit) erlebte Nikolaj Alexandrowitsch, wie ich glaube, als der blutige Krieg am heftigsten tobte. Da hatte er den Thronfolger in relativer Gesundheit bei sich, und im Hauptquartier teilten sie ein Zimmer. Am Tage folgte ihm der Sohn wie die Miniaturausgabe eines Adjutanten. Alexej Nikolajewitsch hatte im Herbst 1915 und im Frühjahr 1916 gute Perioden. Jeder konnte sehen, dass der Zar einen Nachfolger hatte. Einen Jungen, der gehen und sprechen, eine Uniform tragen und wie ein ordentlicher Soldat grüßen konnte (die Haltung war untadelig). Kein Krieg konnte den Zaren brechen, solange der Sohn an seiner Seite im Feldbett schlief. Kein Blutverlust an der Front konnte die Geduldsgrenze des Herrschers übersteigen, solange der Thronfolger nur gesund war.
Was dachten die Soldaten, wenn der Zar sie mit einem Elfjährigen an seiner Seite musterte? Stärkte sie der Gedanke an die Aufrechterhaltung der Dynastie, daran, dass das Zarenhaus Bestand haben würde, selbst wenn sie fielen? Oder wurden sie in ihrer Todesbereitschaft geschwächt beim Anblick von etwas, das sie verdrängt hatten, beim Gedanken an ihre eigenen Kinder, an Töchter, die sie nie wiedersehen würden, an Söhne, die ihre Bürden als Versorger übernehmen mussten, ihren Platz hinterm Pflug auf den Feldern? Vielleicht fragten sie sich: Was hat ein Kind hier draußen an der Front zu suchen? Ist dieser unwirkliche Anblick vielleicht doch nur ein Spiel?
Für den Zarewitsch war es eine Reise in die Ursprünge der Selbstherrschaft. Er konnte in einer Welt aus Zinnsoldaten herummarschieren, in der die Waffen neu waren, während alles andere sich so bewegte, wie es Ururgroßvater Nikolaj I. einmal bestimmt hatte. Als die Inspektion zu Ende gebracht und die Abteilungen in den Krieg gezogen waren, konnte Alexej Nikolajewitsch wieder zu dem neutralen Schweizer M. Gilliard und den anderen zivilen Lehrern im Hauptquartier