Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen
Zigaretten aus seinem mit Smaragden besetzten Etui an. Dieser Ukraintsew hat vom ersten Tag an eine fast aufsehenerregend freundliche Haltung zu den Kaiserlichen an den Tag gelegt. Er ist überdies ein Mann ganz ohne Bildung, recht jung, aber schon jetzt lastet die Bürde auf ihm, eine Familie ernähren zu müssen. Er wurde aus einer der Fabriken in der Nähe rekrutiert. Selbst beim besten Willen kann man die grobschlächtige Figur nicht zu den monarchistischen Offizieren zählen, von denen die Zarin erwartet, sie versteckten sich unter den Gardisten. Obwohl es nicht lange dauerte, bis er von »gemeinsamen Bekannten« zu sprechen begann. Das Zarenpaar war sehr überrascht zu hören, dass er einmal während einer Jagdgesellschaft zu Ehren von Großfürst Michail als Gehilfe an einer Treibjagd teilgenommen hatte. Noch verwunderlicher war, dass er vor 15 Jahren als kleiner Junge während einer Veranstaltung am Schwarzen Meer mit Großfürstin Olga gespielt haben sollte.
»Seitdem habe ich immer von meiner süßen Prinzessin geträumt«, sagte er mit einer Miene, die an familiäre Vertrautheit grenzte. Sogar die Zarin fand es in schönster Ordnung zu hören, wie von Ihrer Hoheit in Wendungen gesprochen wurde, die in früheren Zeiten nicht einmal beim hochwohlgeborensten Husarenoffizier geduldet worden wären.
»Sie werden dem Traummädchen bald wieder begegnen«, fügte Seine Majestät mit einem fast leutseligen Glitzern im Auge hinzu.
Das Gesicht des Gardisten hellte sich hinter den Bartstoppeln auf wie eine Sonne.
»Haben Sie diese Stellung hier beim Ipatjew-Haus angenommen, um Ihre Familie ernähren zu können?«, fragte ich in dem Versuch, eine natürlichere Distanz wiederherzustellen.
Die Zarin warf mir einen Blick zu, als wollte sie fragen, wie um alles in der Welt ich ein so aufdringliches und unangenehmes Thema anschneiden konnte. Ukraintsew seinerseits fand die Frage alles andere als indiskret und sprach bereitwillig von den elenden Verdienstmöglichkeiten in Fabriken und Gruben, um kurz darauf auch einen grob skizzierten Bericht über den miserablen Gesundheitszustand der Menschen in der Stadt Jekaterinburg zu erstatten.
Der Zar hörte ihn mit seinem freundlichsten Gesichtsausdruck an und merkte sich offensichtlich jede einzelne Auskunft über die Lebensbedingungen des Volkes in diesem speziellen Gebiet östlich des Distrikts Ural, so wie er als Herrscher stets ein besonders Interesse für die Bedeutung von Details an den Tag gelegt hatte. Wie ganz anders wirkte die Unterhaltung auf die skeptische und menschenscheue Zarin. Es zeigte sich zuerst in den roten Flecken am Hals, dass sich hinter der verschlossenen Fassade Alexandra Fjodorownas ein großes und starkes Gefühl aufzubauen begann. Selten ist mir die Verschiedenheit der beiden Majestäten so aufgefallen wie bei dieser Begegnung mit dem Mann, der dazu eingesetzt war, sie zu bewachen, der in seiner Seele aber immer noch ihr treuer Untertan war. Während der Zar ihm wie von Gleich zu Gleich gegenübersaß und sich aufrichtig für alle Einzelheiten interessierte, die dieser Mann ihm erzählen konnte, war die Zarin außerstande, mit Ukraintsew zu kommunizieren. Alexandra Fjodorowna kann die Welt nicht durch greifbare Details verstehen, sondern nur als ganzheitliche Vision. Dieser irregeleitete, aber rechtschaffene Bauernproletarier, der seit seinen unschuldigen Kindertagen das strahlende Bild einer Prinzessin in sich getragen hatte, sprach er nicht im Namen des ganzen russischen Volkes? Lag die Zukunftshoffnung dieses irregeleiteten Gardesoldaten nicht gleich unter der Oberfläche, jetzt wo er sein Herz geöffnet und dem Zaren seine tiefsten Sehnsüchte offenbart hatte?
Genauso hatte sie in ihrer nonnenhaften Schwesterntracht im Lazarett des Katharinapalasts dagesessen. Sie ging nicht von Bett zu Bett, von Soldat zu Soldat, sondern suchte sich immer einen aus, einen, der sie alle symbolisierte, am liebsten einen jungen Offizier mit verstümmeltem Leib und reinen Gesichtszügen. Hier, an diesem einen Bett, legte sie ihr ganzes Engagement an den Tag, all ihr Einfühlungsvermögen, ihr ganzes religiöses und mütterliches Gefühl. Es war keine menschliche Tat der Barmherzigkeit, sondern eine erhöhte Handlung, um den einen Leidenden zu erlösen.
Ihn, der sie alle repräsentierte.
Der Thronfolger war sehr krank, als die Zarenfamilie aus der Gouverneursresidenz in Tobolsk umquartiert werden sollte. Wir wurden Zeugen des ersten besorgniserregenden Ausbruchs der Hämophilie nach dem Sturz des Zarentums. Merkwürdig war nicht die Tatsache, dass die alte Krankheit in der neuen Zeit wieder aufgetaucht war (obwohl der Zarewitsch auffallend lange gesund gewesen war), ebenso wenig, dass es in ihrer ganzen furchteinflößenden Form geschah; erschreckend war, dass Alexej Nikolajewitsch die Krankheit herbeiwünschte, dass er sein Krankenlager selbst in Szene setzte.
Die Zarenkinder haben immer gern im Schnee gespielt. Nicht zuletzt der Thronfolger, denn das weiche Element steigert den Grad der Freiheit. Im Schnee kann er fast wie ein gewöhnlicher Junge herumtollen. Auf dem geräumigen Platz, der außerhalb der Gouverneursresidenz von Tobolsk eingezäunt war (und den ich von meinem Fenster im Kornilow-Haus aus direkt überblicken konnte) wurde ein richtiger Berg aus Schnee errichtet. Der Zar war der selbstverständliche Leiter der Arbeit an der topographischen Umformung des Geländes. Der Schneeberg wurde mehrere Wochen lang zum Mittelpunkt vieler Aktivitäten und Strapazen. Unter anderem als Rodelbahn für einen kleinen Holzschlitten.
Eines schönen Tages, immerhin schon am 4. März nach der neuen Zeit (und diese Entscheidung gehörte ausschließlich in die neue Zeit), hatte der Soldatenrat beschlossen, den weißen Berg zu entfernen. Nachdem der Zar dort oben gestanden und dem vierten Regiment zum Abschied zugewinkt hatte, dem Regiment, das die kaiserliche Familie seit der Abreise von Zarskoje treu bewacht und seine Gefangenen schätzen gelernt hatte, war das neue Wachpersonal auf die Idee gekommen, die Gefangenen könnten den Schneehaufen dazu gebrauchen, sich mit fremden Truppen in Verbindung zu setzen. In der Abenddämmerung kamen die Soldaten mit ihren Gerätschaften und machten den Berg dem Erdboden gleich.
Danach konnte der Rodelschlitten nur noch gezogen werden. Ich blieb eines Tages stehen und betrachtete Alexej Nikolajewitsch in seiner Marineuniform, wie er zusammengekrümmt auf dem kleinen Schlitten hockte, während Olga Nikolajewna in ihrem langen Rock vorneweg lief; aus der Ferne sah es aus, als wäre sie mit Zaumzeug angeschirrt, obwohl sie ihren Bruder sicher nur an einem Seil zog. Die Großfürstin lief im Kreis herum, der Zarewitsch ruderte mit den Armen, doch durch das Fenster konnte ich nicht hören, welche Kommandos er ihr zurief. Selbstverständlich war es nur ein Spiel, doch der Anblick gab mir dennoch einen Stich ins Herz.
Ganz allgemein ist es wichtig, dass Alexej Nikolajewitsch sich möglichst ruhig verhält, um der Krankheit nicht Vorschub zu leisten. (In diesem Winter hatte er ein paarmal Husten gehabt, was leicht Blutungen hätte auslösen können.) Dennoch hatte er den Schlitten unbemerkt ins Gouverneurshaus getragen und die Treppe hinaufgeschleppt. Hier saß er nun auf einem der Absätze zwischen dem ersten und dem zweiten Stock. Schon einen einzigen Meter würde ich bei einem Bluter normalerweise so einschätzen: als versuchten Selbstmord.
Vielleicht war die Schlittenfahrt die Treppenstufen hinunter genau das Gegenteil? Ein Auflehnen. Nicht gegen das Leben, sondern gegen den Tod, das heißt gegen die Langeweile, ein verzweifelter Versuch, das Leben in Bewegung zu setzen, ein Zeichen von Gesundheit, das mit Schmerzen endete und ihn ans Bett fesselte. Jeder hätte ihm das Ergebnis nennen können, und jeder X-Beliebige hat es ihm auch schon hundert Mal erzählt. Gleichwohl musste es geschehen. Oder: gerade deshalb musste es geschehen.
Der Wunderheiler Gregorij soll außerdem gesagt haben, dass Alexej Nikolajewitsch nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres geheilt sein werde. Diese magische Zahl hat er im letzten Sommer erreicht. Seitdem hatte er keine ernste Blutung mehr gehabt. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen?
Ende März (nach alter Zeitrechnung), nur wenige Tage zuvor, war die erste Abteilung reiner Bolschewikensoldaten aus Omsk in das abgelegene Tobolsk gekommen. Ähnlich wie die Rivalen hier in Jekaterinburg hatten sich die Bolschewiken in Omsk mehrere Male bemüht, den Zaren und sein Gefolge unter Kontrolle zu bekommen. Man kann sich unschwer vorstellen, welch revolutionäres Prestige es mit sich brächte, das Leben des letzten Alleinherrschers in Händen zu halten. Jedoch war es die erklärte Absicht unseres damaligen und auch jetzt noch herbeigesehnten Kommandanten Koblinsky gewesen, seine Gefangenen gegen die Drohungen aus Omsk zu verteidigen. Es war davon die Rede, sämtliche Personen vom Gouverneurshaus in die Residenz des Erzbischofs Hermogen zu verlegen, die höher lag und die schwerer einzunehmen wäre. Aus diesem Anlass kam es zu einer Reihe