Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen

Der Leibarzt des Zaren - Tor Bomann-Larsen


Скачать книгу
einen Popen besorgt und aus der Stadt einen Diakon geholt, doch mussten wir ohne einen Chor auskommen. Alle Gefangenen, der ranghöchste Offizier und einzelne Gardesoldaten nahmen daran teil.

      Ich konnte sehen, wie dem Zaren zwischen Bart und Kragen die Adern anschwollen, und auch die Zarin ließ unverkennbar Zeichen eines inneren Drucks erkennen. Nur die Großfürstin Maria ließ den Tränen freien Lauf; sie strömten über ihr ebenmäßiges Gesicht. Bisher hatten sie noch nie die Trennung vom Zarewitsch und den drei Großfürstinnen so stark empfunden wie während des kirchlichen Rituals, bei dem sie immer gemeinsam niederknien, bei dem sie füreinander beten. Auch ich vermisste schmerzlich die klaren Stimmen der Großfürstinnen.

      Alexandra Fjodorowna hat meine Treue lange mit einem Anflug von Unglauben betrachtet. Das liegt an mehreren Dingen, ganz besonders aber an einem Umstand, an der Affäre mit der Wyrubowa, die sich an dem Tag ereignete, als Minister Kerenskij zum ersten Mal ins Alexander-Palais kam.

      Die Masernepidemie neigte sich ihrem Ende zu, doch Maria und Anastasia Nikolajewna ging es immer noch sehr schlecht. Ich war selbst davon überzeugt, dass Großfürstin Maria wegen der hinzugetretenen Komplikationen die Krankheit nicht überstehen würde. Anna Wyrubowa war ebenfalls stark angegriffen gewesen, doch wie die drei anderen befand sie sich auf dem Weg der völligen Genesung.

      Die Hofdame ist die engste Freundin der Zarin. Es ist ein fast symbiotisches Verhältnis, obwohl die Wyrubowa viel jünger ist. Das ihr am äußersten Rand des Schlossparks angewiesene Haus könnte man als Rasputins Botschaft in Zarskoje Selo bezeichnen. Anna Wyrubowa war das Bindeglied zwischen der Zarin, der im Niedergang begriffenen Autokratie und dem Retter aus Sibirien. Wer würde der halb hysterischen Frauengestalt, die nach einem Zugunglück auf Krücken umherwankte, normalerweise irgendeine politische Bedeutung zusprechen? So weit war es inzwischen gekommen, dass gerade diese leicht übergewichtige Figur ein wesentlicher Bestandteil des staatstragenden Systems geworden war.

      Schon bei seinem ersten Besuch hatte sich Justizminister Kerenskij vorgenommen, sie festnehmen zu lassen. Sie berief sich vermutlich auf medizinische Immunität. Einer der Adjutanten in dem lautstarken Gefolge des Ministers legte mir die Frage vor, inwieweit die Hofdame in einer Verfassung sei, die es vertretbar mache, sie aus dem Palast zu entfernen. Ich beantwortete die Anfrage absolut klinisch als Arzt. Meiner Einschätzung nach habe sie wie drei der Zarenkinder die Krankheit überwunden und könne sich vom Krankenlager erheben. Folglich machte ich keine medizinischen Einwände geltend. Das löste bei Alexandra Fjodorowna einen flammenden Zornausbruch aus:

      »Wie können Sie so etwas sagen, Sie, der Sie selbst Kinder haben!«

      Erst im Nachhinein habe ich diesen Hinweis auf die Kinder verstanden. Dass sie die Wyrubowa als ihre Tochter betrachtete. Nicht einmal die Freundin war ihr ebenbürtig. Man brachte die unglückliche Frau direkt vom Alexanderpalais zur Peter-Pauls-Festung. Eine Art von Rekonvaleszenz, mit deren Anordnung ich selbstverständlich nie einverstanden gewesen wäre.

      Bei dem gleichen Ministerbesuch und in Gegenwart der Zarin wurde ich gebeten, auch über den Gesundheitszustand Ihrer Majestät Bericht zu erstatten. Selbstverständlich war es äußerst beklemmend, gegenüber einem wildfremden Eindringling im Palast medizinische Einzelheiten über die Frau auszubreiten, die noch wenige Tage zuvor die Herrscherin des Reiches gewesen war. Es machte auch der Umstand nicht leichter, dass sich Kerenskij, obwohl er nicht nur Minister, sondern auch Rechtsanwalt war, aus Anlass der Audienz wie ein Fabrikarbeiter oder ein gemeiner Soldat gekleidet hatte; als er dann noch eine Positur à la Napoleon einnahm, gab mir das das dumpfe Gefühl, in einem historischen Tableau eine Nebenrolle zu spielen. Es kam mir vor, als hätte der Verfasser des Stücks aus schierer Unwissenheit den Sturz der Bourbonen mit dem Eintritt des Korsen in die Geschichte verwechselt. Ich gab nichtsdestoweniger eine möglichst objektive Beschreibung des nervösen Herzens ab, das in allen Jahren die körperliche Leistungsfähigkeit der Zarin verringert hatte, fügte aber hinzu, dass der gegenwärtige Zustand der Patientin so gut sei, wie man unter den besonders belastenden Umständen erwarten könne. Es war nicht schwer zu sehen, dass die nüchterne, undramatische Beschreibung der Leiden Ihrer Majestät ihr sehr hart zusetzte. Gleichwohl hatte ich meine Aussage auf die einzig akzeptable Art und Weise gemacht. Ein Arzt mag im Dienst des Zaren oder des Volkes stehen, doch die allerhöchste Loyalität schuldet er stets seinem Beruf.

      Ohne Glaubwürdigkeit kann niemand heilen.

      Wie die meisten Ärzte ziehe ich Patienten ohne medizinische Neigungen vor. Wenn Alexandra Fjodorowna sich in die graue Tracht mit dem roten Kreuz auf der Brust kleidet, geschieht es aus einer inneren Neigung heraus, aus Leidenschaft und nicht um der Genesung der Kranken willen. Selbst ihre Freunde hat Alexandra Fjodorowna mit dem Instinkt einer Krankenschwester ausgewählt. Am auffälligsten war dies bei der jungen Hofdame Prinzessin Orbeliani, die ihr ständiges Krankenzimmer im Palast eingerichtet bekam, nachdem sie von einem unheilbaren Rückenleiden befallen wurde. Aber auch auf Anna Wyrubowa wurde die Zarin erst dann aufmerksam, als diese als junges Mädchen schwer an Typhus erkrankt war. Die Zarin begann, sie in regelmäßigen Abständen zu besuchen. Die Patientin ihrerseits bewunderte die hochgewachsene schlanke Majestät, als wäre diese eine Florence Nightingale. Auch während ihrer misslungenen kurzen Ehe verblieb sie in der Rolle der Leidenden, bis hin zu dem Zugunglück, nach dem Rasputin ihr prophezeite, sie werde überleben, jedoch mit Krücken. Vielleicht war ich der Erste, der sie wie einen gesunden Menschen behandelte, als ich zuließ, dass Kerenskijs Männer sie vom Krankenbett in die Gefängniszelle brachten. Ich empfinde immer noch keine sonderliche Reue. Hierin liegt vielleicht meine Sünde, nicht in der Handhabung der Diagnose, sondern in dem Fehlen von Reue?

      Nachdem ich Anna Wyrubowa geopfert hatte, hatte die Zarin wohl erwartet, dass ich mich schon recht bald aus dem sinkenden Zarenpalast retten würde. Seitdem habe ich zweimal meine Treue bekräftigt. Falls notwendig, werde ich es auch ein drittes Mal tun, aber niemals dadurch, dass ich meinen Arztberuf verrate.

      Die Gefangenschaft wurde am 8. März 1917 eingeleitet, fünf Tage nach der Abdankung in Pskow. An jenem Morgen war die gesamte Belegschaft des Palasts im Audienzsaal des Schlosses zusammengetrommelt und vor die Wahl gestellt worden, zu bleiben oder den Palast zu verlassen, da die Tore zur Umwelt definitiv geschlossen werden würden. Für jeden Einzelnen war dies eine Wahl, entweder den Dienst beim Zaren, der nicht mehr Zar war, fortzusetzen oder hinauszugehen, um sich unter den Parolen der neuen Zeit einen Platz in der großen Umwälzung zu suchen. Die meisten gingen. Exakt um vier Uhr wurden die eisernen Tore geschlossen, und damit war die Zeitenwende endgültig, die Amputation ein Faktum.

      Am Morgen danach rollte der kaiserliche Hofzug zum letzten Mal mit dem Zaren an Bord auf das Bahngleis in Zarskoje Selo. Nach den schicksalsschweren Ereignissen in Pskow war Seine Majestät nicht in die Hauptstadt weitergereist, sondern hatte sich zum Hauptquartier in Mogilew zurückbegeben, um sich vom Generalstab und der Armee zu verabschieden. Deutlicher als alles andere war dies Ausdruck dafür, dass der Entschluss des Zaren militärischer Natur war. In erster Linie hatte er nicht als Herrscher Russlands abgedankt, sondern als Oberbefehlshaber der russischen Armee.

      Erst als der Zar den Bahnsteig in Zarskoje betrat, löste sich die Umgebung des Alleinherrschers auf. Auf dem Weg von den blauen Waggons des kaiserlichen Hofzugs bis zu dem wartenden Automobil des Palastkommandanten verlor Nikolaj Alexandrowitsch sein gesamtes Gefolge bis auf den Fürsten Dolgorukow. Ein einziger Mann bildete das Gefolge der einstigen Majestät, als man diese hinter dem Eisengitter einsperrte und mit ihrem reduzierten Hofstaat und ihrer versammelten Familie wiedervereinigte.

      Die Epidemie war überwunden, und jetzt musste, soweit möglich, eine Desinfektion der kaiserlichen Gemächer vorgenommen werden. In diesem Zusammenhang mussten auch der Zarewitsch und die Töchter des Zaren geschoren werden. Die prachtvollen Haarmähnen der Großfürstinnen, die normalerweise dick und schwer Schultern und Rücken bedeckten, fielen der Schere zum Opfer. Nach der Typhusepidemie von 1913 hatten wir eine entsprechende Operation durchgeführt, aber da stand die Dynastie noch auf der Höhe ihrer Macht. Jetzt war der Effekt ein ganz anderer: Die Prinzessinnen sahen aus wie Strafgefangene. Sofort fertigte man einige praktische Perücken an, die den ganzen Sommer über die Köpfe der Töchter bedeckten und später durch Kopftücher ersetzt wurden, bis die Großfürstinnen in Tobolsk mit ihren ungewohnten, fast jungenhaften Frisuren auftreten konnten.


Скачать книгу