Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen
hat er für alle offenkundig den Höhepunkt seiner administrativen Fähigkeiten erreicht. Seine Erscheinung ist eine Provokation gegenüber den kaiserlichen Gefangenen, und darin liegt vermutlich seine vornehmste Qualifikation.
Ich kämpfte meinen Widerwillen nieder und klopfte am Vormittag an der Tür des Kommandanten an. Niemand reagierte, doch drinnen waren Stimmen zu hören, und plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Drinnen saßen zwei oder drei »Adjutanten« hingelümmelt und rauchten, während der Kommandant selbst auf einem Stuhl hinter dem Schreibtisch wippte. Die Luft war stickig wie in einer Fabrikhalle ohne Ventilation.
Ich erklärte mein Bedauern wegen der Störung und sagte, ich sei aus Anlass des besonderen Charakters des heutigen Tages gekommen. Awdejew hob eine Augenbraue und schob die Zigarette in den anderen Mundwinkel:
»Der 3. Mai? Haben wir Mittwoch oder Donnerstag?«
»Ich denke an das Osterfest, es ist Karfreitag.«
»Kommen Sie im nächsten Jahr wieder, Doktor.«
Ich hatte mich entschlossen, im Namen der Zarenfamilie diese Anfrage vorzubringen, und ließ mir bei dem Ton des Kommandanten nichts anmerken:
»An einem solchen Tag wäre es von der allergrößten Bedeutung, einen Anlass zu haben, der Messe beizuwohnen.«
»Der Messe?« Awdejews Gesicht war schierer Unglaube.
»Ja, beispielsweise hier auf der anderen Seite des Platzes in der Himmelfahrts-Kathedrale.«
»Sollen wir die Gefangenen freilassen, nur weil Sie behaupten, es sei Freitag? Als Nächstes kommen wohl Purpurmantel und Dornenkrone?«
Die »Adjutanten« grinsten.
»Es ist unzumutbar, die Messe zu entbehren, gerade in der Osterwoche.«
»Aber lassen wir doch ›den Blutigen‹ Karfreitag feiern, soviel er will, solange er dort innerhalb der Mauern bleibt, und keinen Schmutz, wenn ich bitten darf!«
Zum Glück hatte ich nur zwei Schritte in den Raum getan. Somit war der Rückweg kurz. Ich sah keinen Grund für weitere Formalitäten.
Der Zar verlas den Text des Tages. Wie viel hat sich in diesem einen Jahr seit dem vorigen Osterfest ereignet! Damals konnten wir die Schlosskirche noch mit Blumen aus den kaiserlichen Treibhäusern schmücken, und zusammen mit Dr. Derewenko ging ich hinter dem prachtvollen Umhang des Popen und trug das symbolische Leichengewand in einer Prozession durch Säle und Korridore des Palasts. Hinter uns folgten die Lichtträger. Hier, zwischen den Mauern des Ipatjew-Hauses, gibt es weder Klagelieder noch Jubeltöne. Selbst die Beichte hat man uns genommen.
Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie der Zar den Hals reckt und unseren neuen Kommandanten küsst, so wie er es gemäß der österlichen Tradition beim Kommandanten Koblinsky und dem wachhabenden Offizier im Alexanderpalais nach der letztjährigen Mitternachtsmesse getan hatte. Die Offiziere Kerenskijs konnten dem Zaren während der Gnadenfrist, die seiner Herrschaft noch blieb, in einer rituellen Geste entgegentreten. Für Awdejew, den Auserwählten der Bolschewiken, wäre das so etwas wie »der Todeskuss« gewesen.
»Elo’i! Elo’i! lama sabaktani?«
Der Zar hat keinen Willen. Nur ein Schicksal. Der Wille ist in der Erfüllung des Schicksals eingekapselt. Sie ist diejenige, die den Ehrgeiz auf Herrschaft verwaltet. Für ihn ist die Selbstherrschaft ein gegebener Zustand wie das Gras auf der Erde oder die Wolken am Himmel. Für sie ist sie eine Idee, eine göttliche Institution, würdig, verteidigt zu werden.
Der Zar regiert kraft seines Leibes.
Nur Gott soll dem Zaren die Macht nehmen können, indem er ihm das Leben nimmt. Doch Nikolaj Alexandrowitsch gab sein Amt in dem Moment auf, in dem er seine menschliche Stütze verlor. Das war die historische Trennungslinie am Bahnsteig in Pskow.
Und sie war nicht da.
Ich erinnere mich nicht an Seine Majestät während dieses Aufenthalts. Wahrscheinlich werde ich das nie tun können. Wie viele Runden uns noch auf dem Gefängnishof des Ipatjew-Hauses bevorstehen mögen, auf Pskow werden wir wohl mühelos verzichten können. Gleichwohl wurden die 24 Stunden auf dem Provinzbahnhof für alle unsere späteren Umzüge bestimmend, für alles, was danach geschehen ist, mit uns und mit Russland. Seitdem sind meine Gedanken jede Nacht mindestens einmal zu der äußersten Granitkante auf dem Bahnsteig in Pskow zurückgewandert.
Ich war nicht dort, kenne die Stadt in der Nähe der baltischen Provinzen jedoch gut. Während des Krieges wurde sie in ein einziges großes Lazarett verwandelt. Schulen, Internate, alle bewohnbaren Gebäude wurden in Beschlag genommen, um Plätze für Krankenbetten zu schaffen, je nachdem, wie die Kampfhandlungen hin und her wogten. Auch die Zarin ist in Pskow gewesen. Sie reiste dorthin, um die Hospitäler der Stadt zu inspizieren. Sie war als einfache Krankenschwester in Rot-Kreuz-Tracht verkleidet; aufgrund ihres schwachen Herzens musste die Pflegerin in einer Sänfte durch die verschiedenen Etagen des Krankenhauses getragen werden. Die Krankensäle durchschritt sie aus eigener Kraft. Die Zarin von Russland konnte sich davon überzeugen, dass in den Militärlazaretten von Pskow das Blut rot war, die leinene Wäsche weiß und alles in schönster Ordnung.
In der Stadt, die nur 150 bis 200 Werst von der Front entfernt war, hatte überdies das Nordkommando des Heeres seinen Sitz. Von hier gingen die Befehle der Generäle in Form verschlüsselter Telegramme ab, während die Verlustzahlen, für alle ablesbar, an den Zugladungen verstümmelter Körper sichtbar waren.
Ich habe die Lazarette mit ihrem Überfluss an akutem Leiden und ihrem Mangel an Medikamenten und Verbandsstoffen sowohl als Arzt als auch als Vater erlebt. Schon bevor Mima vom Pferd stürzte, machte ich die lange Reise zum Militärhospital in Lemberg, wo Dysenterie ausgebrochen war, um meinen Zweitältesten Sohn zurückzuholen, der sich freiwillig zum Dienst an der Front gemeldet hatte. Den angegebenen Krankensaal musste ich mehrmals durchschreiten, ohne ihn zu finden, nicht einmal, als die Pflegerin mir die genaue Lage des Feldbetts nannte, war ich in der Lage, zu erkennen, dass der Kopf auf dem Kissen meinem eigenen Sohn gehören sollte. Obwohl ich wusste, dass er vor mir lag, und er »wusste«, dass ich mich in Zarskoje Selo befand, war er derjenige, der mich entdeckte. Erst als ich tief in den kindlichen Augen des Patienten das Licht des Wiedererkennens leuchten sah, war ich imstande, zu begreifen, dass dieser ausgemergelte, greisenhafte Mensch mein eigener geliebter Sohn Juri war.
Der letzte Tag, an dem Nikolaj II. vom Palast in Zarskoje Selo ausfuhr, war der Morgen des 22. Februar 1917. Ihre Majestät und die Kinder folgten ihm zum Bahnhof. Es war wie immer, wenn unser Alleinherrscher seine Residenz verließ, unter Salut, Flaggenhissen und dem Klang von Kirchenglocken.
Der Platz des Leibarztes befand sich im achten, dem hintersten Waggon. Hier hatte ich mein klinisches Abteil und eine reichhaltige Apotheke. Der Waggon bot überdies Platz für die politischen, militärischen und administrativen Sekretariate, außerdem für den Kommandanten des Zuges. Der siebte Waggon war dem Gepäck und Frachtgut vorbehalten. Während der sechste den Abteilen und einem Gemeinschaftssalon für das Gefolge des Zaren und den diensthabenden Adjutanten Platz bot sowie einem Abteil für auswärtige Würdenträger wie Provinzgouverneure oder entsprechende Größen. Der fünfte Waggon war für den Thronfolger, die Großfürstinnen und die Hofdamen reserviert. Dieser Wagen, der sonst der lebhafteste von allen sein konnte, war während der letzten Reise vollkommen leer; alle Möbel waren weiß. Der vierte Waggon war der private des Zarenpaares; hier verlief ein schmaler Korridor an der Seite, damit keiner, der hier vorbeikam, die Majestäten in ihrer Intimsphäre auf Schienen stören konnte. Dieser Waggon enthielt kein einfaches Schlafabteil, sondern ein Schlafzimmer, ein Bad mit weißen Kacheln und einer speziell konstruierten Badewanne, in der das Wasser nicht überlaufen konnte, wenn der Zug sich zur Seite neigte; außerdem den Arbeitsraum des Zaren mit Schreibtisch und tiefen Ledersesseln sowie das in sanften Farben gehaltene grauviolette Boudoir der Zarin. Von dort konnte sich der Zar direkt in den mahagonigetäfelten Speisewagen begeben, wo der lange Tisch 16 Personen Platz bot (die Zarin nahm ihre Mahlzeiten meist separat ein). Dieser dritte Waggon enthielt zusätzlich noch einen kleinen Salon mit gepolsterten Wänden, Plüschmöbeln und einem Klavier. Nummer zwei war für Koch und Steward mit drei Kochherden, Kühlschrank