Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen
herrschte. Nachdem er das allerhöchste Amt niedergelegt hatte, geschah das Merkwürdige, dass er sich umgehend in einen körperlich arbeitenden Menschen verwandelte, was ganz seiner Natur entsprach. Zunächst nahm er sich vor, Spatenstich für Spatenstich den Schnee von den vielen Wanderwegen im Schlosspark zu entfernen (innerhalb des Radius, in dem er sich unter strenger Bewachung bewegen durfte), worauf er sich über das meterdicke Eis auf dem Kanal um den Palast herum hermachte. Mit Eispickeln bewaffnet sorgte er dafür, dass der Kanal eisfrei wurde, damit die Ruder- und Paddelsaison möglichst schnell beginnen konnte. Als das Eis getaut und die Schneeschmelze vorbei war, ging er daran, die Erde zu bearbeiten, und brachte den anwesenden Hofstaat dazu, einen großen Acker umzugraben, um die Versorgung des Palasts mit Kartoffeln und Gemüse zu sichern. Und als die Pflanzen dann im Boden waren und der Sommer kam, konnte er sich endlich dem Holzfällen widmen.
Diesen Umständen zum Trotz glaube ich sagen zu können, dass diese ersten Monate nach der Abdankung vielleicht zu den glücklicheren Perioden im Leben des Nikolaj Alexandrowitsch gehörten. Er war zwar hinter dem Gitterzaun des Parks eingesperrt, aber gleichzeitig von dem gnadenlosen Druck des Reiches befreit, der auf ihm lastete. Von dem Druck der Minister, der Duma, des Generalstabs, der Großfürsten und der Dokumentenmassen auf seinem Schreibtisch. Jetzt war er auf die Ebene hinabgestiegen, auf der seine natürlichen Begabungen lagen. Er konnte sich den Freuden des Familienlebens widmen, einer einfachen, zielbewussten Muskelarbeit, Spatenstichen, dem Eishacken, Axthieben. Es war vielleicht demütigend, entehrend und ungerecht, aber dennoch eine Wohltat.
Ein entthronter Herrscher konnte seine kaiserliche Residenz nicht mehr bewohnen. Sollte er nach Norden evakuiert werden, nach Murmansk, um von dort nach Westen ins Exil nach England weiterzureisen; sollte man ihn nach Süden schicken auf die Krim, wo schon eine Reihe von Angehörigen der Romanows in ihren Sommerpalästen Zuflucht gesucht hatten; oder nach Osten in das ferne Sibirien, in einen der vielen vergessenen Orte, in die die Zaren selbst so viele ihrer politischen Gegner verbannt hatten?
Ich brachte die Frage bei Kerenskij schon Ende April zur Sprache und legte ihm meine medizinischen Argumente für das günstige Klima auf der Krim dar. Der Justizminister wies den Gedanken nicht zurück, ließ mich aber wissen, dass er nicht imstande sei, eine Deportation nach Süden durchzuführen. Was aus den ersten und in vielerlei Hinsicht naheliegendsten Plänen einer Evakuierung zur Familie der Majestäten in England wurde, habe ich nie in Erfahrung bringen können. Vermutlich konnte es sich weder das parlamentarisch regierte Großbritannien noch die Republik Frankreich leisten, die russischen Verbündeten aus den Tagen der Alleinherrschaft aufzunehmen, denn weder der britische noch der französische Soldat hatte doch sein Blut im Schützengraben für die Wiederkehr der Autokratie geopfert?
Die Ungewissheit schwebte über dem Alexanderpalast, bis der Herbst näher rückte und das Gemüse auf den umgegrabenen Rasenflächen herangereift war. Das Einzige, woran wir uns halten konnten, als wir Zarskoje endlich verlassen sollten, war der Bescheid, wir sollten »reichlich warme Kleidung einpacken«.
Am letzten Tag des Juli kam Großfürst Michail kurz vor Mitternacht in den Palast. Er wurde im Adjutantenzimmer des Zaren von dem Rechtsanwalt »Napoleon« empfangen, der nach einem misslungenen Bolschewikenaufstand einige Wochen zuvor vom Justizminister zum Ministerpräsidenten befördert worden war; er trug immer noch seine schmucklose Soldatenkleidung und versuchte, Russland vom Büro des Zaren im Winterpalais aus zu regieren. Die beiden kaiserlichen Brüder sollten sich zum ersten Mal seit jenem Tag im Februar wiedersehen, an dem Großfürst Michail seinen Bruder vergeblich angefleht hatte, eine verantwortungsbewusste Regierung zu ernennen. Der Ministerpräsident wohnte der Begegnung in der Rolle bei, für die er gekleidet war, als Gefangenenwärter.
Der Palast befand sich im Aufbruch, und ich persönlich war mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt, doch man erzählte mir, dass zwischen den beiden Brüdern nicht viele Worte gewechselt worden seien. Wie es hieß, sei das auf die indiskrete Anwesenheit Kerenskijs zurückzuführen. Das glaube ich nicht. Welche Formulierungen hätten ihnen zu Gebote stehen sollen, wenn der Ministerpräsident den Anstand besessen hätte, draußen zu warten? Keiner der beiden war ein Mann des Wortes, Großfürst Michail noch weniger als Seine Majestät. Zwei gutherzige, ein wenig schüchterne Gardeoffiziere, was konnten sie sagen, als sie nur noch ein verlorenes Imperium gemein hatten?
Sie umarmten einander, und zumindest der Großfürst weinte; außerdem soll sich auch Alexej Nikolajewitsch im Adjutantenzimmer gemeldet und darum gebeten haben, seinen Onkel sprechen zu dürfen. Leider wurde das Ersuchen abgelehnt. So nahe war Russland einem letzten Drei-Zaren-Treffen.
Die eigentliche Abreise aus Zarskoje Selo verlief nicht einfacher als an dem Tag, an dem wir von Tobolsk aufbrachen. Die Bahnhofsbediensteten hatten sich geweigert, für die Ausreise der Zarenfamilie die Strecke freizugeben, und so mussten wir die ganze letzte Nacht im Kuppelsaal des Alexanderpalasts auf Kisten und Koffern sitzen, bevor die neue Staatsmacht endlich ihren Willen durchsetzte und die Bahnstrecke freigegeben wurde. Da war es am Morgen des 1. August 1917 schon sechs Uhr geworden.
Zwei Tage zuvor hatten wir den dreizehnten Geburtstag des Zarewitsch gefeiert. Es war das letzte Mal, dass das große Kleinod der Familie Romanow, die Snamenskij-Ikone der Heiligen Jungfrau mit dem Kind im Bauch, zur Genesung von Alexej Nikolajewitsch und zu seinem Segen in den Palast gebracht wurde.
Bis zum Tag vor der Abreise war der Zar damit beschäftigt gewesen, draußen im Schlosspark einige gewaltige Kiefern zu fällen und zu zerhacken, während die Zarin und die Dienerschaft so viel von den Wertsachen des Palasts einpackten, wie überhaupt möglich war. Es war ein großes Gefolge mit gewaltigem Gepäck, das im Licht des Sonnenaufgangs durch die Tore geleitet wurde, um unter Aufsicht von Kerenskijs blutunterlaufenen Augen in die Waggons verfrachtet zu werden, die uns nach Sibirien bringen sollten. Der plombierte Rote-Kreuz-Zug führte die japanische Flagge. Eine vielsagende Tarnung, denn die Niederlage gegen Japan war der Anfang vom Ende gewesen.
Mögen auch Millionen tapferer Soldaten mit Bleikugeln in der Brust gefallen sein, trage ich noch immer die Auszeichnungen, die ich während des Krieges gegen die gelbe Gefahr als Sanitätsarzt empfing. Die Medaillen sind ein Teil der alten Ordnung so wie die Daten in dem abgelegten Kalender. Ich bringe es nicht über mich, sie abzunehmen, denn der Zar würde sofort nach ihnen fragen. Welche Antwort sollte ich geben?
Der Verlust des Krim-Paradieses Liwadia lastete schwer auf uns. Seine Majestät versuchte, sich darüber zu freuen, dass die Großfürstinnen und der Zarewitsch die nordöstlichsten Teile des Reichs ihrer Vorväter kennenlernen würden. Umso größer war die Enttäuschung, als die Vorhänge jedes Mal zugezogen wurden, wenn der schwerbewaffnete Rote-Kreuz-Zug sich etwas näherte, was an Bebauung erinnern konnte. Es fiel dem Zaren schwer, einzusehen, dass es nicht immer die Aussicht war, die verschlossen werden sollte – unsere Wärter wünschten auch, jeden Einblick unmöglich zu machen. Obwohl er sein ganzes Leben mit Morddrohungen gelebt hatte, fiel es Nikolaj Alexandrowitsch schwer, zu begreifen, dass seine Umgebung eine Gefahr darstellen konnte. Er glaubte, die Abdankung hätte ihn gerettet, dass er mit dem Verzicht auf die Macht seine Bedeutung als Bombenziel verloren hätte, seinen Sinn als Zielscheibe.
Nach viertägiger Bahnfahrt kamen wir nach Tjumen auf der anderen Seite des Ural, von wo aus uns der regelmäßig verkehrende Dampfer Russ in gut vierundzwanzig Stunden zur Gouvernementshauptstadt Tobolsk brachte, einer Stadt aus Holzhäusern mit weiß verputzten Kirchen jenseits des Eisenbahnnetzes.
Auf halbem Weg zwischen Tjumen und Tobolsk versammelte sich die Zarenfamilie in der Nachmittagssonne auf dem Deck des Flussdampfers. Am linken Ufer lag das Dorf Pokrowskoje, Rasputins Heimatort. Bei diesem Anblick erfüllte sich eine Prophezeiung. Wie zufällig ließ die Zarin eine Bemerkung fallen. Ihre Wege kreuzten sich.
Schon bald läuten die Kirchenglocken. Ich bin endlich müde.
Ostersonntag, den 22. April
Tee und Schwarzbrot zum Frühstück. Die Gerichte vom Vorabend wurden aufgewärmt und zum Mittagessen serviert. Ein paar Stunden Schlaf nach einem schnellen Luftschnappen bei kaltem Wetter. Seine Majestät las aus dem Evangelium. Alle einschließlich der Zarin speisten um acht Uhr gemeinsam. Keine Messe.
Das Zarenpaar und ich selbst blieben noch eine