Der Leibarzt des Zaren. Tor Bomann-Larsen
mit einem Verbot belegt wurde, auf dem Balkon zu sitzen. Alexandra Fjodorowna war außerdem die Einzige, die den Einzug der Rotgardisten in Tobolsk mit einem gewissen Optimismus betrachtete. Sie war überzeugt davon, dass mehrere zarentreue Offiziere als gemeine Soldaten in das Heer der Roten eingeschmuggelt worden waren.
An diesen ersten, von bösen Vorahnungen erfüllten Frühlingstagen geschah es, dass der Zarewitsch an Bord seines kleinen Holzboots ging und es über die tödlichen Wirbel der Stromschnellen abwärts sausen ließ. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen, wollte er sich durch ein Verschwinden retten, wollte er seine Familie von seinem Schicksal befreien? Wie oft erlebt das Kind, das immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hat, seine Bedeutung? War es ein Opfer, ein Sprung von der irdischen Thronfolge auf den himmlischen Thron – ein Martyrium?
»Ich habe keine Angst vorm Sterben«, ertönte es ein paar Tage später vom Feldbett, »ich habe nur Angst vor dem, was sie finden werden, wenn sie den Berg abgetragen haben.«
Zusammen mit Dr. Derewenko konnte ich für den leidenden Knaben in Tobolsk ebenso wenig ausrichten wie bei dem Thronerben von Gottes Gnaden. Wir konnten nur darauf warten, dass der Blutdruck stieg, und Ruhe verordnen, die es nicht gab. Doch es bestand nicht mehr der Druck der Geheimhaltung. Die blauen Schwellungen brauchten nicht mehr wie Staatsgeheimnisse gehandhabt zu werden. Nur der Schmerz war zurückgekehrt, der Schmerz und die Machtlosigkeit.
Nach zwei Wochen mit schlaflosen Nächten, zu einem Zeitpunkt, als wir uns immer mehr von allen Seiten bedrängt fühlten, kam der Vertreter Moskaus, Kommandant Jakowlew, um die Zarenfamilie aus Tobolsk abzuholen. Er war ein hochgewachsener, höflicher und kultivierter Mann, gekleidet wie ein gewöhnlicher Matrose, doch mit den notwendigen Vollmachten ausgestattet. Die Herren in Moskau hatten allerdings nicht mit dem Schlitten des Thronfolgers gerechnet. Der Sendbote der Bolschewiken wurde als erster Außenstehender mit der Tragödie der Dynastie von Angesicht zu Angesicht konfrontiert: mit dem abgemagerten Leib des kranken Dreizehnjährigen in der gestreiften Bettwäsche des Feldbetts. Mit dem matten, kastanienbraunen Haar, den glänzenden Augen in dem schönen, wächsernen Haupt.
Er glaubte nicht, was er sah. Am selben Vormittag kam er wieder und öffnete unangemeldet die Tür zum Zimmer des Thronfolgers. Er wollte sich vergewissern, dass es sich nicht nur um eine Maskerade handelte, nur in Szene gesetzt, um die Revolution hinters Licht zu führen.
Jakowlews Auftrag bestand darin, die kaiserliche Familie abzuholen und an einen unbekannten Bestimmungsort zu bringen. Alexandra Fjodorowna war augenblicklich davon überzeugt, dass dies Moskau bedeutete – das Zentrum der Macht. Fast einen Monat lang waren die Gespräche im Gouverneurshaus um den Friedensschluss in Brest-Litowsk gekreist. Die Zarin konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Vetter, Kaiser Wilhelm, einen Friedensvertrag akzeptieren konnte, der von irgendeinem jüdischen Kommissar im Namen des Reiches unterzeichnet worden war. Im Innern konnten die Bolschewiken spotten, soviel sie wollten, aber draußen, in der Welt, besaßen sie keine Anerkennung und konnten ohne die lenkende Hand des Zaren nichts erreichen. Genauso sah sie es. Die Zarin sah einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Abreise Seiner Majestät aus der Gouverneursstadt Tobolsk und dem Kniefall des neuen Regimes in Brest-Litowsk. Dass es um die Unterschrift ging. Einen gültigen Namen für einen ungültigen Frieden zu schaffen. Wir mussten nach Moskau. Um zu unterzeichnen.
Niemand dachte an die Nebengleise, an die Güterbahnhöfe, niemand dachte an Jekaterinburg.
Alexandra Fjodorowna hat keinen Augenblick an der Rückkehr der Romanows an die Macht gezweifelt. Sie sah sie als die einzig legitimen Herrscher des Heiligen Russland an. Sie verlässt sich nicht auf die Treue der Generäle, sondern auf die Ergebenheit des Volks und auf Gottes Willen. Aus diesem Grund befindet sie sich mit dem Zaren hier. Sie hat sich eine Reise zurück an die Macht vorgestellt, zur Wiedereinsetzung des Sohnes.
Zunächst musste sie einen inneren Kampf ausfechten, zwischen dem Bett des Thronfolgers und dem Feldzug des Zaren. Als Mutter wäre sie am liebsten am Krankenlager geblieben. Aber was würde das Leben des Sohns ohne die Aufgabe, zu deren Erfüllung er geboren war, noch wert sein? Gibt es ein Leben außerhalb der Bestimmung Gottes? Die Mutter unterwarf sich der Entscheidung der Herrscherin.
Während der letzten eineinhalb Jahre seines Regimes war Nikolaj II. zum Prinzgemahl von Alexandra der Großen degradiert worden, er hatte seinen Nacken einem stärkeren Willen gebeugt und sich dem weiblichen Terrorregime unterworfen, dem die Psychiatrie die Bezeichnung Hysterie gegeben hat. Fast mit einem Achselzucken nahm er auch diese Entscheidung zur Kenntnis. Gleichwohl lag eine tiefe Entmündigung in der Wahl der Zarin, als wäre er, der Zar, das kleinste und gefährdetste all ihrer Kinder.
Am 13. April ließ sich der Zar endlich unter Vormundschaft stellen, nicht nur durch das Regime in Moskau, sondern auch durch seine eigene Ehefrau. Sie reiste mit ihm, damit er kein zweites Mal seinen Namen aufgab, damit sich die Katastrophe von Pskow nicht wiederholen konnte.
Der Krieg kann noch immer gewonnen werden, solange die Unterschrift des Zaren nicht geleistet ist.
Das ausgesuchte Gefolge umfasste neun Personen. Das Zarenpaar und Großfürstin Maria, aus dem Gefolge Fürst Dolgorukow und ich selbst, außerdem die beiden Diener und das Kammermädchen. Kommandant Jakowlew hatte eine Abteilung von 35 Gardesoldaten zusammengestellt, davon 15 zu Pferde. Die Kolonne bestand aus ein paar gebrechlichen Tarantas, Bauernkarren ohne Sitze oder Federung. Nur der vorderste Wagen war eine Kalesche. Für den Wagen, in dem die Zarin sitzen sollte, wurden etwas Stroh und eine Matratze herbeigeschafft. Ich überließ ihr überdies meinen dicken Pelzmantel.
In einen der Koffer hatte meine Tochter ein paar weiße Tennishosen gepackt. Vielleicht waren wir Teil eines größeren Plans, vielleicht würde die Fahrt nach Moskau gehen und von dort weiter nach Archangelsk und von dort per Schiff zu den Britischen Inseln? Die Tennishosen waren die verwegene Hoffnung in der Dunkelheit, ein Friedenssignal, die Splittflagge einer neuen Ära, die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung im Westen und die Wiederaufnahme der profanen Privilegien des Leibarztes. Doch an unserer Abreise war nichts, was an Befreiung erinnerte, von der einen Tatsache abgesehen, dass wir eine Gefangenschaft verließen. Als ich sah, wie meine Tochter im Fenster die Hand hob, kam mir der Gedanke, dass es meine Kinder waren, die auf freien Fuß gesetzt wurden, indem ich sie verließ, dass meine Abreise ihre Freiheit möglich machte. Ich bin derjenige, der die kaiserlichen Auszeichnungen als Leibmedikus und General trägt; allein meine Kinder sind in den Händen der neuen Zeit unbeschützt, aber auch unbesudelt. Niemand stellt für meine Kinder eine größere Bedrohung dar als ich selber. Nur seelisch kann ich ihnen Schutz geben, durch mein Beispiel.
Nachdem unsere Reise hier in Jekaterinburg zu Ende gegangen war, verfestigte sich der Gedanke, dass dies der Schicksalstag war. Dies war der Moment, in dem die Grenzen gezogen wurden, zwischen dem, was eine Zukunft hat, und dem, was für immer der Vergangenheit angehören soll.
In diesem Augenblick hätte der Zar sich losreißen und seinen Kindern die Freiheit schenken können.
Die Nacht war früher Morgen des 13. April geworden. Der Zarewitsch lag weinend in seinem Zimmer. Die drei Großfürstinnen standen alle mit ihren Strickmützen da, hatten sich lange Alpakaschals um den Hals geschlungen und warteten vor der Tür zu dem bescheidenen Eingang der Gouverneursresidenz. Die Befehle des Kommandanten ertönten aus dem vordersten Wagen, in dem er neben dem Zaren Platz genommen hatte. Der Feldzug der Vergangenheit setzte sich in Bewegung, in Richtung Moskau. Zur Schlacht um die rechte Hand des Zaren.
Es ist zwar spät, aber wir haben noch immer einige Stunden vor uns, bevor wir das erste Morgenlicht erblicken oder bis die Glocken über dem Himmelfahrtsplatz zu läuten beginnen. Meine Erwartungen an den Ostersonntag liegen im Dunkeln. Ich opfere die Nacht und rekonstruiere lieber die Reise von Tobolsk. Die Alternative ist eine durchwachte Nacht mit den Zurückgebliebenen, mit Gedanken, die immer bei der Zarin von Tobolsk enden werden.
Meine eigene Tochter stand gleichsam beschützt hinter dem Fenster im Kornilow-Haus, wo wir unseren Wohnsitz gehabt hatten, gegenüber der Residenz. Meinen Sohn hatte ich selbst ins Bett beordert, weil er am nächsten Tag ein Examen ablegen sollte. Über den drei Töchtern des Zaren lag etwas anderes, denn sie waren zum ersten Mal ihrer eigenen Obhut überlassen. Im Hause wartete das Schmerzgestöhn des Bruders. Wo sollten sie irgendwann