Der Librettist. Niklas Rådström
damit war mein Glück geschmiedet. Drei Tage später hatte ich nicht weniger als ein Dutzend Schüler, junge Damen und Herren aus New Yorks vornehmsten Familien, und Mitte Dezember kamen noch einmal so viele dazu. Der Unterricht fand im Hause des Vaters meines neuen Freundes statt, der Bischof war, und wenn ich an diese Zeit zurückdenke, muss ich sagen, dass sie zu den glücklichsten Perioden meines langen Lebens gehört. Hier hoffte ich den Grundstein für eine glückliche und lobenswerte Karriere in meinem neuen Heimatland zu legen. Aber wie ich bereits berichtet habe, warf das Schicksal mir Stöcke zwischen die Beine und erschwerte meinen Weg mit Hindernissen. Manchmal frage ich mich, in welchem Maße ein Menschenleben vom Zufall abhängt oder von unseren bewussten Entscheidungen. Wenn der launische Kaiser Joseph nicht einen seiner guten Tage gehabt hätte, hätte ich nie eine Stelle bei Hofe bekommen und hätte nie die Gelegenheit gehabt, meine Worte von Europas besten Musikern vertonen zu lassen. Hätte einer meiner vielen Fluchtwege mich nicht nach Triest geführt, wären unsere fünf Kinder nicht auf die Welt gekommen, um den Bund zwischen mir und meiner Frau zu bekräftigen. Hätte ich nicht die Gebrüder Memmo getroffen, einst Freunde des großen Goldoni, dann hätte ich vielleicht nie meinen Dichterbruder Gasparo Gozzi kennengelernt und wäre nie in Pietro Zaguris Haus geführt worden, wo ich meinen Mentor Giacomo Casanova kennenlernte, der mir Vorbild und abschreckendes Beispiel zugleich war. Oft wird mir klar, dass ich mein Leben nicht gewählt habe, sondern umgekehrt mein Leben mich gewählt hat. Wenn es für mich einen Beweis für die Vorsehung des Herrn gibt, dann ist es das Leben, das er mir zugedacht hat. Es ist ein Geschenk, das ich nicht erwidern kann, außer ich lebe, wie ich glaube, dass es meinem Schöpfer gefällt. Aus einem Leben wird etwas bewahrt und erinnert, aus einem anderen etwas verdrängt oder vergessen, aber kein Leben geht spurlos verloren. Unser himmlischer Vater sorgt dafür, dass jeder von uns seinen Platz in der Welt findet.
Amadeo erzählte mir einmal, wie er und seine Familie während der letzten Wochen ihrer langen Reise durch Europa, auf dem Weg von Dillingen nach Augsburg, die Wallfahrtskirche in Markt Biberbach besuchten. Es war Spätherbst und die schwäbische Hochebene war kahl und braun, die umgepflügten Äcker graphitgrau, die nackten Bäume streckten ihre schwarzen Äste den grauen Wolken entgegen. Die Wälder waren finster und abweisend, als wollten sie das Geheimnis bewahren, wo die Quellen der Donau lagen – jenes Stromes, der als Rinnsal beginnt und dann mäandernd seinen Weg sucht, wie gedachte Worte, die zu einer Verszeile werden, dann zu einer Strophe und schließlich zu einem Gedicht, ja einem ganzen Zyklus. Oder wie eine melodische Phrase, die beim Komponieren zu einem Lied erblüht, sich mit anderen Stimmen vereint und dabei neue Akkordfolgen und einen rhythmischen Fluss bildet, bis eine ganze Landschaft erklingt, eine gewaltige Tondichtung.
Dort in dem weißen Kirchengebäude auf einem Hügel vor der Stadt, um die sich die Hochebene mit ihrem Flickwerk aus Äckern, Weiden und Wäldern erstreckt, waren sie eingeladen, einen Jungen zu treffen, der nur wenige Jahre älter als Amadeo war und von dem es hieß, dass er ihm ebenbürtig sei. Die Krankheit der Geschwister in Den Haag hatte ihre unglaublich erfolgreiche Europatournee unterbrochen und lukrative Auftritte in Regensburg verhindert. Amadeos Vater, der ehrgeizige und gleichermaßen strenge wie auch gutmütige Mann, dachte häufig nur an die Kosten, die ihre lange Reise verursachte, und vergaß, was sie ihnen einbrachte. In wenigen Wochen würden sie nach mehr als drei Jahren Abwesenheit nach Salzburg zurückkehren, aber ihr Ruf war ihnen schon vorausgeeilt, und mit ihm Bosheit, Neid, Gerede, Missgunst. Es hieß bereits, die Familie Mozart sei sich zu fein, um in ihrer alten Heimat zu bleiben. Das Gerücht ging um, sie wollten schon im Frühjahr wieder abreisen, nach Skandinavien, Russland, vielleicht auch China ...
Dort in Biberbach wurden sie ein weiteres Mal aufgehalten. Der Junge, der Amadeo angeblich ebenbürtig war, hatte die verwachsenen, unförmigen Glieder der Pubertät, von der Amadeo noch unberührt war. Im Gesicht blühten die ersten Pickel, die Nase glänzte und war von schmutziggrau verstopften Poren übersät, der Flaum auf der Oberlippe war schon etwas dunkler. Seit dem Morgengrauen hatte er mit einem Pater in der Kirche auf sie gewartet. Ein paar Mönche aus dem nahe gelegenen Kloster waren mitgekommen, um den Balg der Orgel zu treten. Initiator des Treffens war der Bischof von Augsburg, Joseph I., in dessen Dillinger Residenz die Familie einige Tage übernachtet hatte, um den Leuten Gelegenheit zu geben, die Fertigkeiten der jüngsten Gäste zu bewundern. Aber zur Wallfahrtskirche in Biberbach war der Bischof nicht mitgekommen. Er hatte schon am Vortag ein Gefolge dorthin geschickt, um Vorbereitungen zu treffen, und bat sich ausführliche Berichte über den Ausgang des Treffens aus. Selbst blieb er in seiner Residenz, des feuchten Wetters überdrüssig und müde nach einem langen Musikabend. Er klagte über die schweren Pflichten seines Amtes und befahl schlaftrunken seinen Dienern, das Bett wieder aufzuwärmen. Als sie am frühen Morgen aufgebrochen waren, hatte er Amadeo einen Goldring mit eingefassten Edelsteinen in die Hand gedrückt und ihm über die Wange gestreichelt. »Weil er meine Tage vergoldet hat«, hatte der Bischof gesagt, und da hatte Amadeo die Hand des hohen Herren geküsst, wieder und wieder. In der Kutsche spielte er mit dem Ring, der natürlich viel zu groß war. Er schob ihn vor und zurück und drehte ihn, sodass die Edelsteine im bleichen Morgenlicht glänzten. Als der Kutscher ins Dorf abbog, gab es einen Ruck, und das kostbare Stück glitt ihm vom Finger und fiel auf den Boden.
Und so erblickten ihn die Biberbacher, das Hinterteil in die Höhe gestreckt, auf dem Boden der Kutsche herumkriechend, als sie die Tür öffneten, um die berühmte Familie Mozart mit ihrem Wunderkind willkommen zu heißen. Er richtete sich auf und hielt den glitzernden Ring in die Luft. »Den habe ich heute Morgen vom Bischof bekommen«, sagte er. Das Wunderkind von Biberbach stand zitternd in der Kälte und versuchte, Wärme in seine Finger zu blasen. Schüchtern und flüchtig begrüßte der Junge Amadeo und seine Eltern, aber sobald sie die Kirche betreten hatten und er Amadeo die Orgel präsentierte, erklärte er lebhaft die Pfeifen, die sich über einen Flügel des Kirchenraums erhoben, und das Regierwerk des Instrumentes, die Mensur und den Klang, den die verschiedenen Register ergaben, die schwarzen und weißen Tasten der Klaviatur aus Ebenholz und gelaugter Eiche, die Pedaltastatur und die Registerzüge der Manuale. Vielleicht zeigte er ihm, wie man die Jalousien am Schwellwerk regulierte, um Crescendi und Diminuendi zu erzeugen, aber ich gestehe, dass dies meiner Phantasie entspringt. Ich weiß nichts über die Orgel in Biberbach, wie groß sie war oder wie sie klang. Ich weiß bloß, was Amadeo mir persönlich erzählt hat und was meiner Phantasie entspringt. Aber warum sollte die Erinnerung an eine Erzählung zuverlässiger sein als die Einbildungskraft, die viel mehr aus den schlummernden Quellen des Gedächtnisses zu holen vermag? Amadeo erzählte mir, wie die beiden Jünglinge auf die Tritte der Orgel stiegen und begannen, Leben in die Bälge zu pumpen. »Wie wenn ein in einem Berg eingeschlossener Drache schnaubend zum Leben erwacht, das Moos der Jahrhunderte abschüttelt und sich erhebt, um über die Welt zu blicken.«
Der Junge hieß Bachmann, mit Vornamen Joseph oder Johann, Sigismund oder Stephan, Erasmus oder Eugen. Wie man sein Talent entdeckt hatte, weiß ich nicht, auch Amadeo konnte darüber nichts sagen. Ein Schreiber des Bischofs, der seinen Herren Bericht erstatten sollte, fragte Amadeo, was er von der Orgel hielte, denn er sei ja eher das Cembalo oder Pianoforte gewohnt, worauf Amadeo wie üblich antwortete, dass die Orgel die Königin der Instrumente sei, die größte Herrscherin über Klang und Raum.
»Aber ihr fehlt die Leichtigkeit, der weiche Klang. Sie spielt die ganze Zeit ohne Variation«, sagte der Schreiber. »Man kann Pfeifen wählen und Klappen einstellen, aber es gibt keinen individuellen Ausdruck, nur die Ornamentik der Musik.«
Aber Amadeo, ein starrköpfiger Zehnjähriger, blieb bei seiner Meinung, dass die Orgel das höchste aller Instrumente sei, das einzige, das der Mensch nicht ganz überblicken könne, obwohl es seine eigene Schöpfung sei, das einzige, in dem man sich verirren könne und das einzige, das so groß wie die Musik selbst sei. Der Junge, Sigmund oder Sebastian oder wie er nun hieß, sagte nichts, er sah sie nur mit scheuen Augen an und nickte, um kundzutun, dass er einer Meinung mit Amadeo war. Dann bot er Amadeo mit einer zagen Geste an, das Instrument auszuprobieren, das leise fauchte und grunzte, wie ein wildes Tier, kurz bevor es aus dem Winterschlaf erwacht. Der Junge strahlte einen stillen Ernst aus, wahrscheinlich weil er seit Jahren unter Mönchen gelebt hatte, wie Amadeo meinte – Schweigen und Gebet, die eintönigen Tage, einer wie der andere: Messe und Gottesdienst, Matutine und Vesper ... Amadeo testete die Klaviatur und die Pfeifen mit einem kleinen Präludium und verinnerlichte danach den Klang