Der Librettist. Niklas  Rådström

Der Librettist - Niklas  Rådström


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Menschen um den Hals und fragte sie verzweifelt, ob sie ihn liebten. Wenn sie einen Moment zögerten, brach er in untröstliches Weinen aus und fühlte sich von der ganzen Welt verstoßen. Ein einziges Wort seiner Eltern stürzte ihn in tiefste Verzweiflung, wenn er es als abweisend verstand. Als er mit fünf Jahren vor dem Habsburgischen Hof spielte, sprang er auf den Schoß der Kaiserin, bedeckte sie mit Küssen und verlangte die zärtlichsten Liebesbezeugungen von ihr. Zu Marie Antoinette sagte er, dass er sie heiraten wolle, sobald er groß genug sei. Er war hingefallen und hatte sich wehgetan, aber sie hatte ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein kleiner Junge, kaum der Mutterbrust entwöhnt, auf Freiersfüßen! Er verriet mir, dass es ihm schier unerträglich war, nicht den Ansprüchen seines Vaters – oder seinen eigenen – zu genügen. Das Klavierspiel brachte er sich selbst bei, indem er zusah, wie sein Vater die ältere Schwester unterrichtete. Ich glaube nicht, dass er dies aus Neid tat, Amadeo war nie neidisch oder knauserig. Er gab viel und nahm viel. Ich glaube, dass er vor allem dabei sein wollte, nicht einsam. Er wollte dazugehören, und die Musik machte dies möglich. Sie erlaubt es einem, in Gesellschaft anderer man selbst zu sein. Sie nimmt uns nichts weg, um es anderen zu geben, sondern ist für alle da. Diese Eigenschaft teilt sie mit der Liebe.

      In Den Haag, nach einer langen Tournee durch fast alle Königshäuser und Metropolen Europas, auf die Vater Leopold seine Kinder geschickt hatte, war Amadeos Schwester dem Tode nah. Marianne, das geliebte Nannerl, von der Amadeo so oft sprach. Soviel ich weiß, besuchte sie ihn nie in Wien. Sie hatten ihre gesamte Kindheit zusammen verbracht, zwei gottbegnadete Kinder, deren Leben einzig aus Musik bestand, berühmt in ganz Europa und einander ebenbürtig. Sie war die Ältere und musste stets Rücksicht auf ihren Bruder nehmen; das kleine Genie, das schon im Alter von fünf seine Schwester an Talent und Schöpferkraft überflügelte. Dennoch war er abhängig von ihr, denn sie war Spielkamerad, Vorbild und Vermittlerin zwischen der Welt der Kinder und Erwachsenen. Nach der italienischen Reise jedoch, die sein Vater mit Amadeo unternahm, blieb es ihr Los, zu Hause zu bleiben. Sie heiratete einen älteren Witwer, Amadeo zufolge ein verhärmter, freudloser Mensch. Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt. Man hat mir gesagt, sie sei als Witwe nach Salzburg zurückgekehrt, mehr weiß ich nicht.

      In Den Haag also war sie an einer hartnäckigen Erkältung erkrankt. Die Familie war gerade an allen Höfen Bayerns und des Rheinlandes aufgetreten, vor französischen und englischen königlichen Hoheiten und nicht zuletzt auch in bürgerlichen Konzertsälen. In London nannte man Amadeo das größte Wunderkind aller Zeiten. Nachdem er mit verbundenen Augen Klavier- und Violinsonaten gespielt hatte, wurde er an eine Orgel gesetzt, wo er improvisierte, bis er auf der Orgelbank einschlief. Mehr als drei Jahre dauerte diese Reise, aber in Den Haag war sie vorbei. Nannerl war von Fieber und Schüttelfrost geplagt, ihr Hals war geschwollen, und obwohl die von ihren Eltern herbeigerufenen Ärzte sie zur Ader ließen, ihr Brust und Rücken mit Ölen und Kräuterextrakten einrieben und ihr Mineralpulver in einem Sud aus Wurzeln und Heilpflanzen zu trinken gaben, wollte die Krankheit nicht weichen. Der Priester, der ihr das Abendmahl verabreichte, war so besorgt über ihren Zustand, dass er darauf bestand, ihr auch die letzte Ölung zu geben. Er mischte den Fieberschweiß auf ihrer Stirn mit geweihtem Öl.

      Ich sehe sie an der Krankenstatt stehen, die Mutter neben dem Bett mit einem Tuch für die feuchte Stirn ihrer Tochter, der Vater rastlos auf und ab schreitend, und dazu pausenlos Amadeos Klavierspiel im Nebenzimmer. Der Junge hat den Ernst der Lage verstanden, und die Akkorde und Melodien, die er den Tasten entlockt, haben einen neuen Klang. Nicht düster und beklemmend, nicht resignativ, sondern melancholisch, tröstend. Ich kann sie hier in meinem engen Zimmer hören, sehe sie über die Buchrücken in den Regalen huschen, ich fühle sie auf der Haut, wie den Tropfen eines milden Sommerregens. Was der Mensch nicht zu denken oder auszusprechen wagt, hat die Musik längst verstanden. Alle Sprachen, die das Mädchen auf ihrer langen Reise gehört hat, vermischen sich in ihren verwirrten Sinnen und kommen im Fieberwahn aus ihr heraus, wie ein bunt gemischtes Kartenspiel. Französische Worte klingen, als wären es deutsche, englische Phrasen ähneln italienische Arien. Trotz aller Sorge und Todesnähe müssen ihre Eltern über diesen sprachlichen Mischmasch lachen, und plötzlich verstummt das Klavier nebenan und ihr kleiner Sohn steht in der Tür. »Ist Nannerl wieder gesund?«, fragt er. »Wann können wir spielen?«

      Wenige Tage später, als das Mädchen zu genesen begann, lag ihr kleiner Bruder mit bleichem Gesicht und glasigen Augen im Bett und hustete. Der jüngste Spross der Familie, dessen Begabung sie ihre Stellung verdankten, von der sie nie zu träumen gewagt hatten, lag todkrank in einem Gästezimmer in Den Haag. Sein Tod – abgesehen von der Verzweiflung, die jedes verlorene Kinderleben bedeutet – würde sie diesem Traumreigen an den Höfen und Konzertsälen entreißen und in ihr altes, bürgerliches Leben nach Salzburg zurückzwingen. Jeder Atemzug des Jungen im Krankenbett hielt den Traum am Leben, aber jedes Stolpern im Herzrhythmus und jedes Auflodern des Fiebers konnte bedeuten, dass die immer kürzere Pendelbewegung des Atems ganz stehen blieb. Amadeo erzählte mir, dass er eine Woche lang stumm dalag, nachdem das Fieber seinen Griff gelockert hatte, als hätte der Tod ihm ein Geheimnis anvertraut, das er nicht verraten durfte.

      Als schließlich beide Geschwister wieder gesund waren, erfand Amadeo – oder Wolferl, wie ihn seine Eltern nannten – ein Spiel für sich und seine Schwester, in dem die Möbel des Gästezimmers, Passanten vor dem Fenster, Wasserfuhrwerke, Nachtwächter und Straßenhändler, kurz gesagt alle und alles in ihrer Umgebung, Rollen spielten, deren Sinn und Zweck nur er verstand. In diesem Spiel war Amadeo, das genesene Wunderkind, König in seinem eigenen Reich. Nannerl war seine engste Vertraute in dieser Kindermonarchie. Er beauftragte einen der Dienstboten, eine riesige Karte des Reiches nach seinen Instruktionen zu zeichnen und die Namen aller Städte und Dörfer, Flüsse und Seen sowie Ebenen und Berge einzutragen. Es war der Entwurf eines Kinderreiches, ein Zufluchtsort jenseits aller Pflichten und Ansprüche, ein Ort, wo die Macht den Träumern gehört.

      Ich frage mich, wie sehr diese Flucht in eine andere Welt dazu beigetragen hat, dass Amadeo schon als kleiner Junge zu komponieren begann – dies und der Wunsch, seinen Vater mit immer neuen Leistungen zu erfreuen. Leopold Mozart. Ich traf ihn ein paar Mal. Er war ein kleiner, introvertierter Mann mit einer blassen Aura der Verbitterung. Die ersten Kompositionsversuche seines Sohnes tat er als Kleckserei ab. Aber ein befreundeter Musiker, der gerade zu Besuch war, nahm sich das Notenblatt vor und erkannte die Stimmen, Verzierungen und Variationen hinter den Tintenklecksen. Die Noten waren nicht einfach nur verwoben und spielbar, das Resultat war auch noch schön und originell. Der Vater sagte seinem Sohn, dem Vieroder Fünfjährigen mit den klaren, blauen Augen und den sonnig runden Wangen, dass diese Komposition zu schwierig sei. Es seien zu viele Noten, die niemand spielen könne. Da antwortete Amadeo: »Das ist ein Konzert, Papa. Man muss üben, um es spielen zu können.« Man muss üben! Welch eine Antwort an alle Zweifler. Man muss üben!

      Mir wurde die große Ehre und Freude zuteil, Amadeos geträumtes Kinderreich zu betreten. Ich habe die Welt mit den unschuldigen Augen des kindlichen Monarchen betrachtet. Auf meinen Geschäftsreisen zwischen Sunbury und Philadelphia stellte ich mir die weiten Buchenwälder, die rauschenden Bäche, die steilen Felsen und tiefen Täler als meine Landschaft vor, als mein Reich, das ich erobern und beherrschen konnte. Die Waren, mit denen meine Kunden ihre Schulden abgegolten hatten – Jagdbeute, Naturalien und kleinere Handwerksprodukte –, verkaufte ich in Philadelphia. Für das Geld, das ich dafür bekam, erstand ich Essenzen und Medikamente, Blutholzbäume und Mandeln, Würste und Trockenfrüchte. Von meinen Kunden und Nachbarn kaufte ich Pelze und Häute, Bienenwachs und Getreide, die ich in der großen Stadt weiterverkaufte, wo unser stolzer Bundesstaat ans Meer grenzt. Von dort wiederum kehrte ich mit Nägeln, Öl, Baumwollstoffen und Schuhen zurück. Und nicht zuletzt behielt ich das beste Getreide, um daraus einen Schnaps zu destillieren, der sich mit dem hervorragendsten französischen Branntwein messen konnte, wie viele meinten. Nicht mehr der Jüngste mit meinen fast siebzig Jahren, arbeitete ich tagsüber und verbrachte die Abende mit gemütlichen Mahlzeiten, inspirierenden Gesprächen oder Tanzveranstaltungen auf kleinen Volksfesten. Der Ausbruch des Krieges gegen England wirkte sich positiv auf meine Geschäfte aus. Die Preise stiegen, und ich musste für mein expandierendes Unternehmen einen Lagerraum am Marktplatz mieten. Es war ein gutes Leben, und da mir diese Art von Geschäften durchaus vertraut war und meine Erwartungen bei Weitem übertroffen wurden – was mich innerhalb kurzer Zeit zum zweitgrößten Steuerzahler der Gemeinde


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