Der Librettist. Niklas Rådström
der geschlossenen Tür und hörte, wie meine Frau mit Hilfe der Amme zu einer glücklich erschöpften Mutter wurde, die ihr Kind an die Brust legt. Das kleine Geschöpf, für das sich plötzlich die Welt eröffnet: vom Licht geblendet, verblüfft über die Luft, die in die Lungen strömt und mit einem Schrei wieder ausgestoßen wird, die Hände, die es betasten, als wollten sie ein himmlisches Instrument spielen. Schon in Amadeos ersten Schreien war eine Andeutung von Gesang zu hören, schon sein erster Atemzug barg einen Klang, und schon im Mutterleib forderten seine Glieder mit unbewussten Bewegungen zum Tanz auf.
Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet jetzt darauf komme. Vielleicht weckt der Gedanke an Nancys Tod diese Erinnerungen. Auch mein Leben war nicht frei von Scham, und der Herr weiß, wie viel Schuld ich auf mich geladen habe. Auch bei mir hat sie Narben hinterlassen. Aber sie hat nie mein Leben bestimmt! Amadeo weigerte sich, zu kapitulieren. Immer wieder wappnete er sich mit Stolz und stritt für seine Ehre. Hören Sie nur seine Musik! Dort siegt die Ehre über die Scham, dort besänftigt die Ewigkeit die Schuld. Hätte ich die Scham über mein Leben bestimmen lassen, hätte ich nicht viel erreicht. Die Scham habe ich abgestreift und die Schuld abgegolten. Und doch bin ich fest davon überzeugt: Wenn alles kommt, wie es kommen muss, am Tag der Abrechnung, so wird sich zeigen, dass der Tod nicht über das Leben gesiegt hat. Dann wird meine Nancy wieder an meiner Seite sein, und auch unsere Kinder. Zwei von ihnen wurden vor ihrer Mutter ans jenseitige Ufer gerufen, nachdem wir in unser neues Heimatland gekommen waren. Die Schwindsucht hat sie uns geraubt. Joseph kam von seinen Studien in Philadelphia zurück, bleich und abgemagert, und nach wenigen Wochen verloren wir ihn, gerade zwanzig Jahre alt.
Mein Sohn hinterließ mir unsäglichen Schmerz und herzzerreißende Trauer, bitter, fremd und überwältigend. Außerdem hinterließ er mir Schulden und beträchtliche Arztrechnungen. Und in gewisser Weise könnte man sagen, dass er die Poesie in mein Leben zurückbrachte. Einer meiner Schüler konnte nicht mehr mit ansehen, dass mir jegliche Lebenslust abhanden gekommen war. In einem Versuch mich zu trösten, schenkte er mir ein Werk des jungen Poeten Lord Byron – der, wie ich hörte, auch längst verstorben ist –, nämlich sein großartiges Gedicht The Prophecy of Dante. Möglicherweise rettete dieses Gedicht mein Leben. Es wandelte meine tiefe Trauer in süße Melancholie, und ich beschloss, es zu übersetzen. Ich fuhr mit meiner Familie auf das Landgut eines Freundes am Hudson River, und jeden Morgen nach dem Frühstück mit meinen Kindern suchte ich einen ruhigen Platz, etwa unter einem Pfirsichbaum oder in einem Apfelhain, und übertrug dort Strophe für Strophe das Gedicht, das meinen salzigen Tränen eine milde Süße gab. Für mich war es die erste größere dichterische Arbeit seit vielen Jahren, und mir kam zu Ohren, der junge Poet habe sie selbst gelesen und seine Wertschätzung geäußert. Auch habe er ein längeres Poem über die Gestalt geschrieben, die ich als die Krone meiner Dichtkunst betrachte, Don Giovanni, oder, wie seine Landsleute ihn nennen, Don Juan. Auch dieses Gedicht würde ich gern kennenlernen und in die Sprachtracht meines Heimatlandes kleiden.
So kam es, dass die Dichtung wieder einen wichtigen Platz in meinem Leben einnahm. Mit Hilfe meines jüngsten Sohnes, Charles, brachte ich meine Buchhandlung zum Florieren. Wir führten über tausend Bände italienischer Klassiker und hatten berühmte Kunden, darunter Joseph Bonaparte, Napoleons Bruder und ehemaliger König von Spanien. In meiner Schule und dem zugehörigen Pensionat kamen und gingen Schüler und Bewohner und füllten mein Leben und meine Gedanken. Ich durfte mich Professor für Italienisch an der Columbia University nennen und war somit der erste Träger dieses Titels in der Neuen Welt. Und zu dieser Zeit wurde mir meine Tochter Louisa entrissen. Sie hatte ein Jahr zuvor ihr erstes Kind verloren, ein Mädchen von fünf Monaten, und hinterließ eine achtjährige Tochter namens Matilda, die von ihrem Vater großgezogen wurde.
Matilda. Eine andere Matilda war eines der großen Mysterien meines Lebens. Ich war jung, frisch geweihter Priester in Venedig, träumte von einem Leben als Dichter und war in eine bezaubernde Frau verliebt. Angela vergoldete und verdunkelte meine Tage. Eines Tages saß ich im Caffè dei letterati, als ein Gondoliere auf mich zukam und mir ausrichtete, dass eine Dame am Kanal auf mich warte. Ich dachte natürlich, es sei meine geliebte Angela, die mich immer rief, wenn sich die Gelegenheit zu einer zärtlichen Stunde ergab. Aber in der Gondel erwartete mich eine andere Frau, die junge Tochter eines neapolitanischen Herzogs, der ihr durch seine Heirat eine böse Stiefmutter vor die Nase gesetzt hatte, die nun verlangte, dass sie einen hässlichen alten Mann heiraten sollte. Es war ein Urbild alles Venezianischen: Im Glauben, ich sei ein anderer, werde ich in eine Gondel bestellt, wo eine andere auf mich wartet, als ich erwarte! Wie in einer Verwechslungskomödie saßen wir in der Gondel, zwei junge Schicksale in einer fremden Welt. Als sie die Heirat verweigerte, hatte die Stiefmutter sie in ein Kloster geschickt, aus dem sie nun nach Venedig geflohen war, der einzigen Stadt der Welt, wo sie ungehindert maskiert auftreten konnte. Ein junger Mann – mit dem mich der Gondoliere verwechselt hatte – hatte sich ihrer angenommen, aber er war ein unverbesserlicher Spieler und Zecher und überließ sie bald ihrem Schicksal. Ich möchte gern glauben, dass sie mir nicht nur aus Verzweiflung ihre Schönheit antrug, und nicht nur dies. Ohne zu zögern, bot sie mir eine Handvoll Juwelen und einen Beutel Goldmünzen, die sie heimlich von zu Hause mitgenommen hatte, wenn ich sie zur Frau nähme und beschützte. Ein kurzes Zögern, das Versprechen, ihr am nächsten Morgen meinen Entschluss mitzuteilen, ein Blick in ihre samtweichen Augen, ein flüchtiger Kuss und der Duft ihres Haares – immer noch höre ich das Glucksen des Wassers an der Gondel, als ich wieder an Land stieg und dem schlanken Boot hinterher sah, das wie ein Schatten aus dem Totenreich zwischen den Fassaden davonglitt. Als ich sie am nächsten Morgen aufsuchen und ihr den einfachen Schutz erbieten wollte, den ein Leben an meiner Seite gewähren konnte, hatten die Agenten der Inquisition sie entführt und in ein Kloster gesperrt.
Matilda. Meine Enkelin. Viele Jahre lang erleuchtete sie mein Heim mit ihrer Schönheit, Lebensfreude und ihrem Talent. Im Alter von vierzehn konnte sie den gesamten dritten Gesang unserer geliebten Divina Commedia auswendig. Drei Jahre später war auch sie tot. Nichts ist so schmerzlich wie der Verlust eines Kindes oder eines geliebten Enkels, nichts stellt den Sinn des Lebens mehr in Frage. Die Kinder und Enkel, die ich um mich habe, erhellen meine Tage, während die, die ich verloren habe, ihre Schatten dazwischen werfen. Nicht einmal der sonnigste Sommertag kann diese Schatten vertreiben. Ich fürchte ständig, dass meine Liebsten vor ihrer Zeit ihres Lebens beraubt werden.
Ein Adoptivkind habe ich ins neue Land mitgenommen. Ich habe viel Kraft in seine Erziehung gesteckt und wage daher zu hoffen, dass es trotz seiner schwierigen Kindheit zu einem geachteten Mitbürger heranwachsen wird. Das adoptierte Kind ist die Kunst der Oper und ich fühle mich ihm so nah, dass ich mich kühn als einen seiner leiblichen Väter bezeichne. Gott weiß, dass dieses Kind mir grenzenlose Freude, aber auch tiefen Kummer bereitet hat. Nichtsdestotrotz liebe ich meine Nachkommen mehr als mein eigenes Leben. Als dieses allerliebste meiner Adoptivkinder nach jahrelangem Warten endlich in Amerika ankam, war dies einer der glücklichsten Momente meines Lebens. An jenem Tag, dem sechsten November 1825, als Manuel Vicente García an Land stieg, hatte seine Kompanie bereits ganz Europa erobert. Nun fehlte bloß noch die Neue Welt. Ich sehe sein Gesicht bei unserem ersten Treffen vor mir, als wäre es gestern. Er begann sofort mit den Proben im damals einzig echten Theater New Yorks, dem Park Theatre. Unter den mitgebrachten Sängern waren sein Sohn, der ebenfalls Manuel hieß, und die wunderbare Maria, seine junge Tochter, deren Stimme frei wie eine Lerche durch den Laubwald der Partituren flog. Das einfache Orchester, das sie zusammengetrommelt hatten – noch immer gab es nur einen brauchbaren Oboisten auf unserem Kontinent, und dieser war in New Orleans gestrandet –, stimmte gerade die Instrumente und versuchte, ihren Klang zu einem reifen Ganzen zu vereinen, als ich ankam und mich dem Maestro vorstellte. Wie sein Gesicht zu strahlen begann! Er schloss mich in die Arme und führte mich tanzend durch den Raum, während er Don Giovannis Champagnerarie Fin ch’han dal vino sang. Meine Worte, Amadeos Töne und Garcías brillante Stimme. So wurden wir Freunde.
Ich setzte sofort alle Hebel in Bewegung, damit der erste große Coup der Opernkunst in unserem wilden Kontinent mit Erfolg gesegnet sei. Alle Freunde, die ich im Lauf der Jahre gewonnen hatte – gebildete, einflussreiche Leute, die jedoch keinerlei Kenntnis der italienischen Oper besaßen –, versuchte ich auf die Schnelle in den Grundlagen der Oper zu unterrichten. Ich brachte ihnen den Unterschied zwischen einer Arie und einem Rezitativ bei und zeigte ihnen, wie Dichtung und Musik in ihrer