Pferdeglück auf Ravensmoor. Ursula Isbel-Dotzler
die Tropfen darin verdünnen konnte. Sie zog eine Einwegspritze aus ihrer Tasche und entfernte die Spitze.
Schon oft hatte ich zugesehen, wie sie einem unserer Ponys mithilfe der Spritze Medizin einflößte. Sie machte das immer rasch und sehr geschickt. Trotzdem senkte ich den Blick. Am liebsten hätte ich mir auch die Ohren zugehalten.
»Einen Teil hat er wenigstens geschluckt«, sagte sie nach einer Weile. »Das wird ihm guttun. Ich massiere ihm noch ein paar Stellen am Hals und an der Brust. Das hilft, den Schleim etwas zu lösen.«
Das wehe, krampfartige Gefühl in meiner Kehle verschwand. Wieder einmal dachte ich, was für ein unverschämtes Glück wir doch mit unserer Mutter hatten und dass ich keine andere gewollt hätte als sie, nicht einmal eine Herzogin mit einem Schloss oder eine berühmte Schauspielerin mit einem Geldberg wie Dagobert Duck.
Die Hunde kratzten an der Stalltür und winselten. Stevie erhob sich aus der Streu.
»Ich bring sie ins Haus.«
»Ich komme mit.«
Er sagte nicht Ja und nicht Nein, also hoffte ich, dass es ihn nicht stören würde, wenn ich ihn begleitete.
Es war eine dunkle Nacht. Kein Stern funkelte am Himmel. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Der Wind zerrte an unseren Haaren. Erleichtert rannten Arabella, Puccini und Grizzly voraus und warteten vor der Haustür auf uns.
»Kannst du ihnen Futter geben?«, fragte Stevie. »Sie haben abends noch nichts gekriegt.«
In der Küche war es kalt. Das Feuer im Herd war erloschen. Die Hunde wuselten um mich herum. Ich fiel fast über Grizzly, während ich zusammensuchte, was gerade da war, gekochten Reis aus dem Kühlschrank, Dosenfutter, das Stevie für Notfälle bereithielt, Karotten und Haferflocken.
Ich raspelte die Karotten, vermischte alles mit warmem Wasser und füllte die drei Näpfe. Während die Hunde gierig schmatzten und kauten und ihre Schüsseln über den Küchenboden schoben, kam Mimi, die blinde alte Katze, und bettelte um Futter. Daisy, das Eichhörnchen, flitzte unterm Sofa hervor und kletterte an meinem Hosenbein hoch.
Ich gab ihm eine Haselnuss und sah mich nach Stevie um. Bestimmt hatte er auch seit Stunden nichts gegessen. Er war bleich und sah total erschöpft aus.
»Setz dich aufs Sofa, ich mach dir Tee und ein Honigbrot«, sagte ich, aber er schüttelte nur den Kopf und erwiderte: »Danke, ich bring nichts runter.«
»Trink wenigstens eine Tasse Tee mit ordentlich Zucker drin!«
Er lehnte sich gegen die Fensterbank und ließ den Kopf hängen. Das Ticken der Uhr, das sonst immer so gemütlich klang, hatte plötzlich einen schweren, unheilvollen Klang.
Ich verrührte braunen Zucker im Tee, goss Milch hinein und reichte Stevie den Becher. Er nahm ihn und stellte ihn hinter sich auf die Fensterbank.
»Es ist so schwer auszuhalten, Kathi«, sagte er.
»Ich weiß.« Ich umarmte ihn und schmiegte meine Wange an seine. So etwas hatte ich bisher noch nie getan. Ich hatte es mir oft gewünscht, aber einfach nicht den Mut dazu gefunden, nicht bei Stevie. Jetzt war es plötzlich ganz selbstverständlich, und er ließ es zu, hob sogar die Hand und legte sie auf meinen Rücken.
So standen wir lange, ohne ein Wort zu sagen. Dass ich es endlich wagte, diesen lang ersehnten Schritt zu tun, hatte ich Pepper zu verdanken. Vielleicht war es sein Abschiedsgeschenk an uns.
Denn er starb noch in dieser Nacht, wenige Minuten ehe Dr. Muir in der Stalltür auftauchte. Sicher war es Mamas Beruhigungstropfen und ihrer sanften Streichelmassage zu verdanken, dass er die letzten Stunden seines Lebens ruhiger atmen konnte und einigermaßen friedlich in eine andere Welt hinüberdämmerte. Um zehn Minuten vor elf tat er den letzten mühsamen Atemzug.
Dann war es still im alten Stall von Little Eden.
3
Sogar Niko, der doch immer so tat, als wäre er Mister Cool persönlich, lief zwei Tage lang mit roter Nase und verheulten Augen herum. Pepper war aus irgendeinem Grund sein besonderer Liebling gewesen, während er für unsere Ponys Smilla und Kringle nicht allzuviel übrighatte. Doch man hätte schon ein Herz aus Stein haben müssen, um Pepper und Cinnamon nicht zu mögen.
Jetzt war Cinnamon allein, ohne ihren Gefährten, mit dem sie die vielen schweren und anstrengenden Jahre im Wanderzirkus geteilt hatte. Die beiden waren wie ein unzertrennliches altes Ehepaar gewesen.
»Vielleicht stirbt sie ja auch bald vor Einsamkeit und Kummer«, sagte meine Freundin Kim am Montagmorgen im Schulbus. Die Sommersprossen auf ihrer Stirn bildeten ein verrücktes Muster, als sie die Augenbrauen zusammenzog. »Stevie könnte doch ein Pferd von einem Schlachttransport freikaufen. Es gibt so viele armselige Pferde, die Hilfe bräuchten. Und für Cinnamon wäre es sicher leichter, wenn sie nicht allein bleiben muss.«
Ich warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Wenn bei einem alten Ehepaar ein Partner stirbt, kann man ihn auch nicht durch einen anderen ersetzen, Kim. So einfach ist das nicht.«
»Das weiß ich doch!« Kim zog an ihrer Strickmütze, bis ihre Ohren darunter verschwanden. »Aber vielleicht könnte sie sich ja noch mal neu verlieben oder so?«
Das klang total komisch, aber auch irgendwie süß.
»Es müsste halt das richtige Pferd sein. Ähnlich wie Pepper, sanft und lieb und geduldig. Ein Pony mit einer ähnlichen Ausstrahlung, verstehst du?«
Wieder einmal war ich total froh, dass ich kurz nach unserem Umzug Kim Ravensmoor kennengelernt hatte. Ohne sie hätte ich es bestimmt vor Heimweh nicht ausgehalten. Sie hatte mir über die Trennung von meiner besten Freundin Svenja hinweggeholfen und wir waren fast wie Schwestern geworden, denn Kim war durch ihre besondere Stellung als Tochter des Herzogs von Ravensmoor ziemlich einsam gewesen.
Während des Mathe-Tests dachte ich zu viel an Pepper. Ich konnte nur ungefähr zwei Drittel der Aufgaben beantworten, und auch da war ich nicht sicher, ob die Lösungen stimmten. Kim ging es noch bescheidener. Ms Straithpoodle, von allen »der zählende Pudel« genannt, hatte uns auseinandergesetzt, weil sie fand, dass wir uns gegenseitig zu sehr von der Arbeit ablenkten.
In der Pause trafen wir uns auf dem Flur. Kims Gesicht war mit grünen Filzschreiber-Krakeln verziert. Ihre kurzen rotblonden Haare standen wild in alle Richtungen.
»Alles Mist und Schweinekacke!«, sagte sie. »Aber was sind schon Tests und Noten im Vergleich dazu, dass wir den lieben alten Pepper nie mehr sehen werden?«
Als wir aus der Schule kamen, hatte das Wetter gewechselt, was in Cornwall mindestens dreimal täglich passierte. Jetzt segelten nur noch ein paar Schäfchenwolken am blauen Himmel, und der Wind war lind und roch nach Frühling.
Ich dachte, dass Pepper nie wieder auf der Wiese unter den knorrigen alten Apfelbäumen stehen und sich im frischen grünen Gras wälzen konnte, während die Seevögel über Little Eden kreisten. Er würde nie mehr erleben, wie die Schwalben zurückkehrten und ihre Nester unter dem Stalldach bauten. Und er würde nicht mehr dabei sein, wenn Stevies zahme Krähen Dagobert und Donald auf der Weide durchs Frühlingsgras staksten und nach Würmern und Käfern stocherten.
Sofort wurde ich traurig und meine Augen füllten sich mit Tränen. Kim legte den Arm um meine Schultern.
»Pepper geht es gut. Er ist jetzt an einem schönen Ort, wo es keine Schmerzen und keine Atemnot mehr gibt.«
Ja, ein Ort vielleicht, an dem eine Art ewiger Frühling herrschte? Ich wünschte es ihm so sehr nach seinem mühsamen Zirkusleben. Falls es ein Paradies für Menschen gibt, warum nicht auch für Tiere? Vielleicht würden er und Cinnamon sich eines Tages wiedersehen.
»Glaubst du an ein Tierparadies?«, fragte ich auf der Heimfahrt im Bus. »Tiere haben doch auch eine Seele, Kim, davon bin ich überzeugt.«
»Klar haben sie das! Man braucht ihnen nur in die Augen zu schauen, um das zu wissen!«
Kim redete leise. Die Mädchen und