Pferdeglück auf Ravensmoor. Ursula Isbel-Dotzler
immer, es gibt keines, das wäre eine Erfindung von uns Menschen, weil wir Angst haben, dass mit dem Tod alles zu Ende ist.«
Ich nahm mir vor, Niels anzurufen. Niels war seit dem vergangenen Sommer auf einem englischen College und kam nur noch in den Ferien und manchmal am Wochenende nach Hause. Wenn sich einer mit Sachen wie Tod und Wiedergeburt auskannte, dann mein älterer Bruder. Er wusste unheimlich viel über indianische und keltische Weisheiten, Bräuche und Glaubensvorstellungen.
Es tat so gut, Niels’ Stimme zu hören und ihm von Pepper zu erzählen. Zum Glück hatte er sein Handy an diesem Abend eingeschaltet und war allein auf seinem Zimmer, um für eine Prüfung zu lernen.
Irgendwann, als ich vor Weinen nicht mehr reden konnte, sagte er ganz ruhig: »Pepper geht es jetzt gut, Kathi. Mama hat ihm den Übergang in ein anderes Leben erleichtert. Der Körper ist manchmal eine Bürde, besonders für alte Menschen und Tiere. Diese Bürde hat er abgeworfen und ist jetzt leicht und frei und bestimmt auch glücklich.«
»Du glaubst also, dass er in einem … in einem Tierparadies ist?«
»Die Kelten haben nicht zwischen einem Paradies für Tiere und Menschen unterschieden. Für sie hatten Tiere eine Seele, genau wie wir, und sie kamen nach dem Tod auch an den gleichen Ort, der manchmal ›die Insel der Seligen‹ genannt wird, manchmal auch Paradies, manchmal ›die elysischen Felder‹ oder ›die ewigen Jagdgründe‹. Der Ort hat viele Namen, aber fast alle Kulturen haben sich darunter etwas Ähnliches vorgestellt: einen Zustand von ewigem Glück und ewiger Jugend, einen wunderbaren Garten, in dem Menschen und Tiere friedlich zusammen existieren.«
»Glaubst du wirklich daran?«, fragte ich.
»Ja sicher, Kathi. Manche Lebewesen müssen auch wieder in unsere irdische Welt zurückkehren, weil sie ihre seelische Entwicklung nicht abgeschlossen oder Schuld auf sich geladen haben. Aber Tiere sind unschuldig und tun nichts absichtlich Böses. Und Pepper hat seine Ruhe und seinen Frieden verdient. Weine ihm nicht zu sehr nach, du hältst ihn damit nur fest.«
In dieser Nacht träumte ich, dass ich auf Peppers Rücken saß und mit ihm durch einen wunderbaren Wald ritt, in dem Bäche zwischen Gras und Farnkraut sprudelten und weiße Blumen unter mächtigen, uralten Bäumen blühten. Schmetterlinge gaukelten durch die Luft, Nachtigallen schlugen. Pepper war jung und stark. Er galoppierte voller Kraft und Lebenslust über den bemoosten Pfad. Seine graue Mähne flatterte im Wind. Ich hörte seine leichten, regelmäßigen Atemzüge, spürte seine federnden Bewegungen unter mir.
Wir ritten einen Hang hinunter; es war fast, als würden wir fliegen. Peppers Hufe schienen den Boden kaum zu berühren. Dann wieherte er. Es klang wie ein triumphierender Trompetenstoß.
Sein Gewieher tönte mir noch in den Ohren, als ich aufwachte. Hinter dem Dachfenster dämmerte der Morgen. Vielleicht hatte mir Pepper eine Botschaft geschickt.
4
Kim und ich überlegten hin und her, wie wir es anstellen sollten, noch in dieser Woche nach Little Eden zu reiten, doch wir hatten jeden Nachmittag bis drei Uhr Unterricht, am Donnerstag sogar bis vier. Und der Weg nach Little Eden war weit. Mit den Pferden waren wir selbst auf den Schleichwegen, die nur Kim kannte, mehr als eine Stunde unterwegs. Wir wären also auf dem Rückweg unweigerlich in die Dunkelheit gekommen, und das war auf den steilen, schlüpfrigen Klippenpfaden eindeutig zu gefährlich für uns und die Pferde.
So mussten wir den Besuch auf Samstag verschieben. Ich rief Stevie an und fragte, wie es Cinnamon ging.
»Sie frisst kaum etwas«, sagte er. »Sie steht nur auf der Weide und lässt den Kopf hängen.«
»Kein Wunder. Sie trauert um Pepper. Stevie, ich muss dir einen Traum erzählen, aber nicht am Telefon. Wir wollten am Samstag vorbeikommen, Kim und ich. Ist das in Ordnung?«
»Sicher«, erwiderte er. »Vielleicht könnt ihr Cinnamon ein bisschen aufmuntern.«
Zögernd sagte ich: »Kim meint, es wäre gut, wenn sie wieder mit einem anderen Pferd zusammen sein könnte.«
Stevie schwieg eine Weile. Ich dachte schon, er hätte aufgelegt, da murmelte er: »So einfach ist das nicht. Erstens lässt sich Pepper nicht ohne Weiteres durch ein anderes Pferd ersetzen.«
»Das hab ich ihr auch gesagt.«
»Und zweitens … Aber darüber reden wir ein andermal.« Seine Stimme klang müde. Da war noch etwas anderes neben der Trauer um Pepper, was ihn bedrückte, ich spürte es deutlich. Doch ich begriff auch, dass er noch nicht bereit war, darüber zu sprechen.
In der Nacht von Freitag auf Samstag regnete es. Ich lag im Bett, hörte den Regen gegen die Dachfenster trommeln und dachte: Mist und Hühnerkacke! Jetzt müssen wir die Pferde im Stall lassen …
Doch am Morgen war alles anders. Der Himmel wölbte sich klar und »unschuldsvoll blau«, wie Paps das nannte, der Wind roch nicht wie sonst nach Tang und Fisch und Teer, sondern nach Frühling. Smilla hatte muntere Augen und knabberte an meinem Jackenärmel, während ich sie aufzäumte.
Sie blähte sich nicht auf, wie Kringle das immer tat, sondern wartete geduldig, während ich den Sattelgurt anzog, fuhr mir nur mit ihrem samtweichen Maul kurz übers Gesicht und prustete mich freundschaftlich an.
»Gutes Mädchen!«, sagte ich und wischte mir das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Jetzt treffen wir Flora und Kim und reiten mit den beiden zu Stevie. Cinnamon freut sich hoffentlich, wenn sie ein paar Stunden Pferdegesellschaft hat.«
Ich sah eine Fahne von Ravensmoors Eckturm flattern, als ich auf dem Hügel haltmachte und auf Kim wartete.
Dort oben lebte Kim, das »Burgfräulein«, wie Niko sie spöttisch getauft hatte. Das klang romantisch und großartig. Noch vor zwei Jahren wäre ich heftig beeindruckt gewesen, wenn mir jemand erzählt hätte, er komme aus einem uralten Adelsgeschlecht und sei in einer Burg geboren und aufgewachsen.
Kim aber war nicht glücklich mit ihrer Familie und ihrem Zuhause. Sie sagte oft, dass sie viel lieber in einem Reihenhaus oder auf einem Bauernhof gelebt hätte als in einem baufälligen, verlotterten Gemäuer wie Ravensmoor.
»Ihr habt eine neue Fahne gehisst«, sagte ich, als sie mit ihrer rostroten Stute zwischen den Bäumen auftauchte.
Wie immer war Kim ohne Reithelm unterwegs und hatte ihre schwarzen Jeans in die Schäfte ihrer Gummireitstiefel gesteckt. Dazu trug sie eine grüne Lederjacke, die irgendwie klasse an ihr aussah, obwohl sie abgeschabt und fleckig war und viel zu breit in den Schultern.
Wieder einmal erinnerte mich Kim an einen Kobold – ihr langer, dünner Hals, die Art, Grimassen zu schneiden, ihr gesträubtes rotblondes Haar, das sie selbst mit der Schere zu einer Art Punk-Frisur schnitt.
Sie nickte und erwiderte düster: »Das war mein Vater. Gestern Abend ist er auf den Turm gestiegen und hat die Fahne gehisst, was ich echt albern finde. Duncan ist wieder zu Hause, deshalb. Meinetwegen hätte er das bestimmt nie gemacht.«
Sie verzog das Gesicht zu einem schiefen Lächeln. Es sah aus, als hätte sie Zahnschmerzen.
»Dann haben sie ihn endlich wieder ganz zusammengeflickt?«
Duncan Ravensmoor, Kims Bruder, hatte im vergangenen Herbst zusammen mit einem Freund einen schweren Motorradunfall gehabt. Er war monatelang im Krankenhaus gelegen und hatte neben Knochenbrüchen, einer zertrümmerten Kniescheibe und einem Riss in der Lunge auch schlimme Gesichtsverletzungen davongetragen.
»Wahrscheinlich wird er Mama so lange löchern, bis sie ihm noch ein paar Schönheitsoperationen bezahlt. Die OPs haben mehr gekostet als ein Mittelklassewagen, sagt mein Vater. Nicht dass man’s Duncan ansehen würde. Er könnte immer noch locker als Frankensteins Urenkel im Fernsehen auftreten.«
»Für einen, der so eitel ist wie er, muss das echt bitter sein«, sagte ich.
»Geschieht ihm nur recht.«
Ich konnte Kims Abneigung gegen ihren Bruder verstehen. Er war der hochnäsigste und aufgeblasenste Typ, den ich kannte. Und