Das kleine Buch vom Meer: Inseln. Olaf Kanter

Das kleine Buch vom Meer: Inseln - Olaf Kanter


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Insel präsent, als Inspiration für Fischrestaurants oder Aufkleber an Straßenlaternen. Dass damals Walfänger, nach heutigem Maßstab Multimillionäre, ihre Kenntnisse weitergaben, dass sie, ganz anders als im Standesleben jener Zeit, mit Menschen jeder Schicht verkehrten, dass man sie duzte, sie sich kaum anders kleideten und verhielten als normale Matrosen, liegt an einer anderen Besonderheit der Föhringer.

      „Noch heute kann man keinen größeren Fauxpas begehen, als seine materielle und geistige Überlegenheit zu zeigen“, sagt der Historiker Volkert Faltings, der die Navigationsgeschichte erforscht hat. Was erwartete Angeber auf Föhr? „Schweigendes Nichtbeachten und spöttische Blicke!“ Mehr als Wind und Wellen setzten französische Freibeuter der Familie Petersen zu. Anno 1701 wurde Petersens ältester Sohn Matz, ebenfalls Kommandant eines Walfängers, nach St. Malo entführt und erst nach nach Zahlung eines Lösegelds freigelassen. Petersen selbst wurde auf seiner letzten Reise 1702 von Franzosen aufgebracht. Er kaufte sich und seine Crew für 8000 Reichstaler frei. Seine Söhne Ock und John fielen wenig später im Kampf gegen französische Seeräuber.

      Über Jahrhunderte bewährte sich das System der lokalen Wissensweitergabe, bis 1867, als die Preußen das Herzogtum Schleswig annektierten. Sie verboten die Föhrer Navigationsschule. Die Tradition, zur See zu fahren, setzte sich aber in den Familien fort. Als Kapitän Niels Held, Jahrgang 1941, ein hünenhafter Friese aus Wrixum, mit 15 Jahren seine Laufbahn begann, wusste er von seinem Großonkel, der den legendären Fünfmastsegler „Preußen“ befehligte, und drei Onkeln, die als Kapitäne zur See fuhren.

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      „Schon als Kind war ich im Boot unterwegs“, erinnert er sich. Für einen Einsatz auf der Azoreninsel Flores, als er 32 griechischen Seeleuten das Leben rettete, erhielt Held die höchste Auszeichnung, die von der „Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ (DgzRS) verliehen wird. Er hatte jeden Seemann, der nach einer Strandung des Frachters in einer tosenden Brandung vor der Steilküste festsaß, einzeln gerettet. 32 Männer rettete er, 32 Mal unter Einsatz des eigenen Lebens. Nach solchen Details befragt, zeigt sich Held irritiert. „Was ist so Besonderes daran? Das hätten Sie doch auch so gemacht!“

      Diese Bescheidenheit, dieses Bedürfnis, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen und solche, die sich wichtig nehmen, besonders unwichtig zu behandeln, ist überall auf der Insel spürbar. Auch nach vielen Besuchen fällt die Freundlichkeit der Bewohner immer wieder auf. Wer durch die Gassen von Nieblum schlendert, dem romantischsten Inseldorf, in dem ein Reetdachhaus gemütlicher ist als das nächste, wer mit einem Friesentee abends vor dem Kamin hockt, wenn der Wind um die Ecken pfeift, der möge sich auch an die Erlebnisse der Kapitäne von Föhr erinnern und ihre Geschichten lesen.

      Föhr ist die größte und bevölkerungsreichste Insel Deutschlands ohne Landverbindung. Sie weist im Unterschied zu anderen Inseln, die vom Tourismus abhängig sind, eine Besonderheit auf. Auch Föhr lebt von den Gästen, die auf die Insel kommen, und im Herbst und Winter, wenn die Stürme über die Nordsee ziehen, geht es ruhiger zu. Doch die „Hauptstadt“ Wyk, ein Dorf von viereinhalbtausend Einwohnern ganz im Südosten der Insel, die im Sommer zur Kleinstadt mit 20.000 Bewohnern anwächst, ist das ganze Jahr über lebendig. Es gibt ein Einkaufszentrum, eine Fußgängerzone mit kleinen Läden und vielen Fischgeschäften, ein Krankenhaus und das Gefühl, dass rund ums Jahr etwas los ist. Szenen wie auf der Nachbarinsel Sylt, wo manche Orte in den Wintermonaten Geisterdörfern gleichen, in denen kein Licht mehr brennt, gibt es nicht.

      Das Wappen von Wyk zeigt ein havariertes Segelschiff auf blauen Wellen vor rotem Hintergrund und unter einem hell leuchtenden Stern; auf dem Spruchband darunter steht: „Incertum quo fata ferunt“, was übersetzt bedeutet: „Ungewiss ist, wohin das Schicksal führt.“ Dieses Wappen weist also auf die Gefahren der Seefahrt hin – inklusive Mastbruch. Der Stern möge der Stadt als Orientierungspunkt den Weg weisen.

      Als der dänische Dichter Hans Christian Andersen 1844 die Insel besuchte, schrieb er: „Ich habe jeden Tag gebadet, und ich muss sagen, es ist das unvergesslichste Wasser, in dem ich je gewesen bin.“ Was genau am Föhrer Wasser so besonders war, führte er nicht weiter aus, allerdings beschrieb er die lange Anreise. Wer damals nach Föhr wollte, war von Hamburg aus vier Tage lang unterwegs. Von der populären Insel Helgoland aus waren es zwei Tage, allerdings über See, was nicht allen bekam.

      Heute geht der Transport schnell und reibungslos auf Autofähren, die an Bügeleisen erinnern und die extra gebaut sind für das flache Wattenmeer. Wer mit ihnen unterwegs ist, sollte an einen anderen Seemann von Föhr denken. An Hans Erich Brathering, einen Kapitän mit Bart und schwarzem Humor, der mit einer solchen Fähre vor einigen Jahren bis Gibraltar fuhr. Im Herbst, im Sturm, durch die Wellen der offenen Nordsee und der gefürchteten Biskaya. Ein thailändischer Hotelunternehmer hatte die Fähre „Nordfriesland“ gekauft, und jemand musste sie sicher nach Asien bringen. Vor allem die erste Etappe über die Meere des Nordens war eine heikle Sache. Keiner wollte, doch einer musste es machen.

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      Selbst als in hoher Dünung die Treibstoffleitungen der kleinen Fähre verstopften, als die Funkanlage ausfiel, als der thailändische Kapitän seekrank wurde und der Maschinist nur durch Trunkenheit auffiel, blieb Brathering so gelassen, wie es sich für einen Kapitän von Föhr gehört. „Dass es keine Spazierfahrt werden würde, war mir klar. Ich freute mich über das Abenteuer. Meine Familie fährt seit vielen Generationen zur See, und ich hatte schon früh gelernt, ein Boot zu steuern.“ Schon früh gelernt, das meint: Um als Kind ans Steuerrad zu gelangen, hatte Brathering einen Hocker unter den Füßen.

      Die kleine Fähre schaffte es bis Thailand, wie Brathering später im „Inselboten“ las, der Heimatzeitung auf Föhr. Eine Urlauberin hatte die ehemalige „Nordfriesland“ erkannt und fotografiert. Bratherings Sehnsucht, die heutige „Raja 1“ wiederzusehen, hält sich in Grenzen. „Bei uns auf Föhr ist es ohnehin schöner als auf Ko Samui“, sagt er. image

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      SYLT

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       DIE LEGENDE

       VON PIDDER LÜNG

      Zu Inseln gehören Mythen und Sagen, die sich am Feuer erzählt wurden, wenn der Sturm um die Häuser brüllte. Besonders verdient machte sich der Holsteiner Dichter Detlev von Liliencron (1844 –1909). Ihm ist es zu verdanken, dass die versunkene Insel Rungholt ins kollektive Gedächtnis des Nordens überging. Von ihm stammt auch der Ausruf: „Lewwer duad üs Slaav!“, lieber tot als Sklave. Der Ausspruch wurde so etwas wie ein Werbeslogan für die Trotzigkeit der Nordfriesen und fehlt heute in keinem Faltblatt einer Bürgerinitiative.

      Der Satz stammt aus der Ballade „Pidder Lüng“, die ausgerechnet auf Sylt spielt, heute weniger für sozialkritische Parolen als eher für den Porsche Cayenne bekannt. Diese Ballade wiederum geht zurück auf eine mehr als zweihundert Jahre alte Geschichte von Christian Peter Hansen und spielt zur Zeit der dänischen Besatzung.

      Ein Amtmann namens Henning Pogwisch betritt die Hütte des Fischers Pidder Lüng und seiner Eltern, um Steuern einzutreiben. Der Fischer aber weigert sich und verweist auf die gewohnheitsrechtlichen Freiheiten der Friesen:

Frii es de Feskfang, Frei ist der Fischfang,
frii
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