Schlachtbank Düppel: 18. April 1864.. Tom Buk-Swienty
Hitze bei Solferino war unerträglich. Die Soldaten erstickten beinahe in ihren Uniformen. Es herrschte ein furchtbarer Wassermangel, und das Einzige, was die Soldaten an diesem Junitag zu trinken bekommen hatten, war Branntwein. Gleichzeitig waren sie ausgehungert von den tagelangen Märschen. Die Schlacht war nicht geplant und entwickelte möglicherweise deshalb eine derartige Grausamkeit: Man wurde von einem furchterregenden Feind überrascht und schlug blindwütig um sich. Beide Parteien wollten das hügelige Gelände um Solferino besetzen, doch aufgrund mangelhafter Aufklärung hatten die Armeen sich erst entdeckt, als es zu spät war. Fünfzehn wahnsinnige Stunden dauerte die Schlacht, die schließlich mit einem französisch-italienischen Sieg endete.
Mitten im Kampfgeschehen befand sich dieser weiß gekleidete Mann; ein Mann, der ähnlich wie van de Velde leicht zu erschüttern war. In seinen Erinnerungen schrieb Dunant:
»Fest geschlossene Kolonnen werfen sich mit unwiderstehlicher Heftigkeit übereinander wie ein zerstörender Mahlstrom, der auf seinem Weg alles umreißt; französische Regimenter rennen in verteilter Schusslinie gegen die österreichischen Massen an, die unablässig erneuert werden, sie werden immer zahlreicher und immer bedrohlicher und halten den Angriff energisch aus, als wären es Mauern aus Eisen; ganze Divisionen werfen ihr Gepäck ab, um mit größerer Leichtigkeit und gefälltem Bajonett dem Feind entgegenstürmen zu können; ein Bataillon wird zurückgetrieben, aber ein anderes folgt ihnen unmittelbar auf den Fersen. Jede einzige Erderhebung, jeder einzelne Hügel, jeder einzelne Felskamm ist Schauplatz eines hartnäckigen Kampfes.«
Nach der Schlacht hinterließ das Schlachtfeld einen besonderen Eindruck auf Henri Dunant. Drei Tage wanderte der erschütterte Schweizer zwischen Toten, Sterbenden und Verletzten umher.
»Als die Sonne am 25. aufgeht, beleuchtet sie eines der abscheulichsten Schauspiele, das die menschliche Fantasie hervorzubringen vermag. Überall ist das Schlachtfeld mit den Leichen von Menschen und Pferden übersät … Die armen Verletzten, die man den ganzen Tag über aufsammelt, sind bleich, fahl und vollkommen entkräftet, einige, nämlich die, die stark verstümmelt wurden, haben trübe Augen und scheinen nicht zu verstehen, was man zu ihnen sagt.«
Es herrschte Wassermangel und es wurden verzweifelt Ärzte und Krankenpfleger benötigt. Der Sanitätsdienst wurde teilweise in der Schlacht aufgerieben, die Leiden schienen kein Ende nehmen zu wollen. Dunant versuchte, nach bestem Wissen zu helfen. Er kniete neben den Schwerverwundeten, die ihn anflehten, bis zu ihrem letzten Atemzug an ihrer Seite zu bleiben, damit sie nicht allein sterben mussten.
Dunant versuchte auch, Helfer unter der örtlichen Bevölkerung zu organisieren, und er überzeugte die Franzosen sogar, österreichische Ärzte aus der Kriegsgefangenschaft zu entlassen, damit auch sie helfen konnten. Doch trotz aller Anstrengungen war die Hilfe unzureichend. Allerdings erlebte Dunant auch einen Lichtblick in dieser entsetzlichen Situation: Viele Menschen aus der Bevölkerung, insbesondere Frauen, zögerten nicht, die Verwundeten zu pflegen, und die Italiener taten es ohne Rücksicht auf die Nationalität der Verwundeten. Die spontane Hilfe wurde unter der Devise ›tutti fratelli‹ geleistet – wir alle sind Brüder.
Das Erlebnis von Solferino ließ Dunant nicht los, und 1862 schrieb er Eine Erinnerung an Solferino. Er finanzierte das Erscheinen des Textes selbst und schickte das Buch seinen Freunden. Dann begann er in Europa herumzureisen, um Regierungsführern und Fürsten sein Werk zu überreichen und darüber zu sprechen, was er gesehen hatte.
Er wollte eine neutrale internationale Institution aus Ärzten und Krankenschwestern schaffen, die überall auf den Kriegsschauplätzen zum Einsatz kommen sollten. Diese Ärzte und Helfer sollten in den Kampfzonen frei agieren und arbeiten können.
Eine Erinnerung aus Solferino erschütterte die Leser, und Dunant bekam Unterstützung. Er war nicht der Erste, der sich dafür einsetzte, dass in Kriegszonen eine weitaus bessere Krankenpflege notwendig war. Zur berühmtesten Verfechterin dieser Forderung wurde Florence Nightingale, eine Britin, die aus einer reichen Familie stammte und ihr Leben der Krankenpflege widmete. Sie war ebenso schockiert wie Dunant bei Solferino, als sie die Zustände für die Verwundeten während des Krimkrieges sah.
Dunant ließ sich von Nightingale und der humanistisch-progressiven Autorin Harriet Beecher-Stowe inspirieren, doch das eigentlich Revolutionäre an seinem Plan war die Idee einer internationalen Institution.
Zusammen mit vier einflussreichen Genfer Bürgern gründete Dunant am 17. Februar 1863 das Internationale Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, noch im gleichen Jahr kamen Delegierte aus vierzehn Ländern, darunter Preußen – nicht aber Dänemark – nach Genf, um die Möglichkeiten zur Gründung einer internationalen Organisation zu diskutieren. Es wurde beschlossen, dass die Entsandten der Organisation in Kriegszonen ein weißes Armband mit einem roten Kreuz (eine Umkehrung der Schweizer Flagge) als Symbol der Neutralität tragen sollten.
Damit war das Rote Kreuz ins Leben gerufen. Nun ging es darum, die gesamte internationale Gemeinschaft zu überzeugen, man musste die Information über die Organisation verbreiten. Gleichzeitig galt es, die gegenwärtigen Schlachtfelder und die Verhältnisse für die Verwundeten zu studieren.
Van de Velde reiste nach Dänemark, um das Land für die Idee einer internationalen Hilfsorganisation zu gewinnen und sich das Kampfgebiet anzusehen. Außerdem wollte er sich persönlich um Verwundete kümmern, wenn die Möglichkeit sich ergab.
Wenn van de Velde angesichts seiner Erlebnisse in Dänemark häufig deprimiert war, so lag das nicht allein an den Grausamkeiten auf dem Schlachtfeld, sondern auch daran, dass die Dänen ihm sehr lange die kalte Schulter zeigten. Sie betrachten diesen Mann, der vier Sprachen sprach –, Französisch, Deutsch, Englisch und Holländisch, aber nicht Dänisch – mit Misstrauen. »Wozu braucht es eine internationale Organisation?« Die Dänen als Menschenschlag, konstatierte van de Velde in seinen Briefen, seien »verschlossen«, »insulär« und »selbstzufrieden«. Kurz gesagt, sie waren, wie er mehrfach betonte, »veritable Inselbewohner«. In einem Brief an Dunant vom 11. April schrieb van de Velde, »die Dänen halten an ihren eigenen Ideen fest und fürchten sich vor allen Vorschlägen, die von außen kommen. Sie haben eine deutliche Angst vor dem Fremden … Bei diesem Widerstand gegen neue Gedanken ist meine Aufgabe nicht leicht.«
Zumal die Dänen laut van de Velde in einem gottverlassenen Teil der Welt wohnten. Er war am 2. April von Paris mit dem Zug über Köln und Hamburg nach Lübeck gereist und von dort mit dem Dampfschiff nach Malmö gefahren. Kopenhagen erreichte er am 9. April. Die Reise »erschöpfte mich durch große Kälte und zehrte an meinen Kräften«.
Um zu illustrieren, wie schlimm die Kälte im Norden war, schrieb er, im Abteil der Waggons, in dem er von Köln nach Lübeck gesessen hatte, wären »die Fenster von einer dicken Eisschicht bedeckt gewesen, trotz der Wärme, die von sechs Deutschen im Abteil ausging«.
An Bord des Dampfschiffs nach Malmö war es noch kälter. »Die Überfahrt über das Baltische Meer dauerte achtzehn Stunden, gleichzeitig blies ein heftiger Nordwind, der das gesamte Tauwerk vereiste … Das Klima in diesen Breitengraden ist fürchterlich. Erst heute hat der Wind nachgelassen, aber er wurde ersetzt durch einen feuchten Nebel, so wie er in Genf im Februar vorkommen kann.«
Die Stimmung in Kopenhagen war düster. Die letzten Bulletins zeigten, dass es im dänischen Heer 5136 verletzte und kranke Soldaten gab, die in 26 Krankenhäusern im ganzen Land lagen. Gut die Hälfte der Verwundeten allerdings in Kopenhagen, »wo es kein Gebäude mehr gibt, das noch sehr viel mehr aufnehmen könnte«.
Van de Velde erlebte eine vom Krieg gezeichnete Hauptstadt:
»Brüder, Väter, Freunde … versammeln sich an den Straßenecken, um über die Beschießung von Düppel zu lesen, ständig werden Neuigkeiten angeschlagen. Ich fühle mit ihnen und sympathisiere mit all diesen trauernden Menschen, die ich überall treffe, und ich höre ihren Erzählungen über ihre Liebsten aufmerksam zu, die Tag und Nacht dem Kugelhagel ausgesetzt sind. Die Menschen, denen ich begegne, versuchen, ihre Liebe zum Vaterland mit ihrer Liebe zu ihren nächsten Angehörigen draußen an der Front in Einklang zu bringen,