Aus den Akten der Agence O. Georges Simenon
noch zählt: Wo hat sie die Juwelen versteckt? Denn wir können sicher sein, dass sie dort auftauchen wird, wo sich der Schmuck befindet. Das Majestic wird überwacht. Wir haben in keinem der beiden Zimmer etwas gefunden. Und sie hat auch nichts in einem der Hotelsafes deponiert.«
Émile meldet sich mit verträumter Stimme:
»Für einen Polizisten bist du wirklich gesprächig, Torrence!«
»Und du bist wirklich apathisch! Ich frage mich allmählich, ob dir klar ist, dass uns die Zeit davonläuft. Sicher, ich habe der Polizei ein Bild von unserer süßen kleinen Gangsterbraut gegeben, und im Augenblick beobachten die jeden Bahnhof und jeden Hafen.«
»Hör mal, Torrence, wenn du nicht deine Klappe hältst, gehe ich raus und lege mich auf den Treppenabsatz.«
Nun, mal sehen … Wenn also … Wegen Torrence’ Geschwätzigkeit muss Émile mit seinen Überlegungen von vorne anfangen. Wenn also diese Frau dreizehn Einbrüche begangen hat, wenn sie sich zwei Zimmer in einem großen Pariser Hotel leisten kann, wenn noch keins der Schmuckstücke verkauft wurde, wenn sich die Juwelen offensichtlich nicht im Hotel befinden …
»Gibst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Torrence?«
Was hat Glatzenteddy in so einem Fall gemacht? Wir wissen es nicht, denn er hat nie mit jemandem über seine Methode gesprochen. Aber zumindest von einer Sache ist Émile überzeugt: Das Mädchen hat nicht gelogen. Sie ist wirklich Glatzenteddys Tochter. Und es ist durchaus möglich, dass sie diese Einbrüche begangen hat, um ihren Vater aus dem Gefängnis freizukaufen.
Das ergibt alles einen Sinn. Es klingt nach der Wahrheit …
Gut! Sie ist also in Paris. Erfolgreich dreht sie ihr erstes Ding auf dem Boulevard de Strasbourg. Dann folgt ein Einbruch dem anderen, fast wöchentlich.
Was macht sie mit ihrer Beute? Das ist die Hauptfrage. Was macht sie mit den Juwelen, bis sie genug zusammen hat, um ins Ausland zu reisen und sie dort zu verkaufen?
Als wäre er den Gedankengängen seines Chefs gefolgt, ruft Torrence, während er eine zweite Kanne Kaffee macht:
»Sie muss irgendwo in Paris noch einen Unterschlupf haben.«
»Ich wette dagegen.«
Warum? Erstens, weil sie zu klug dafür ist. Und zweitens, weil sie genauso verfährt wie ihr Vater, der während seiner langen Karriere nur einmal geschnappt wurde, und weil sie diese Arbeitsweise durch äußerste Sorgfältigkeit perfektioniert.
Abgesehen davon hat die Polizei, obwohl Glatzenteddy jetzt schon seit einigen Monaten sitzt, noch nicht eins der gestohlenen Schmuckstücke gefunden!
Außerdem haben sie in ihrem Zimmer im Majestic einen Koffer mit einem Geheimfach voller Diebeswerkzeug entdeckt. Wenn das Mädchen tatsächlich noch eine zweite Unterkunft in Paris bewohnen würde, hätte sie diese kompromittierende Ausrüstung wahrscheinlich dort aufgehoben.
»Hättest du was dagegen, dich hinzusetzen, anstatt wie ein Bär im Zirkus auf und ab zu tänzeln?«
»Ich versuche nur, nicht einzuschlafen«, murrt Torrence. »Wenn wir schon die ganze Nacht hier rumsitzen müssen …«
Also, fangen wir noch mal ganz von vorne an. Diesmal macht sich Émile seine Gedanken in der ersten Person. Er versucht sich in die junge Frau hineinzuversetzen. Er wird zum Juwelendieb. Er hat gerade erfolgreich sein erstes Ding gedreht. Er hat die Juwelen in seiner Tasche, sie sind nicht sehr schwer. Er hat nur die wertvollsten Stücke genommen, vorzugsweise Diamanten …
Was wird er mit ihnen machen?
Eine tiefe Falte zieht sich über seine Stirn. Wie besessen starrt er immer noch auf denselben Punkt an der Decke.
Notgedrungen müssen die Juwelen für Wochen oder sogar Monate an einem sicheren Ort bleiben …
Für den Fall, dass ich verhaftet oder verfolgt werde oder mein Aufenthaltsort entdeckt wird …
Er spürt, dass er der Wahrheit näher kommt. Verflucht! Ob sie verdächtigt wird, ob man sie verfolgt, ob ihr Gepäck mag durchsucht werden – alles, was zählt, ist, dass niemals ein Beweis gegen sie gefunden wird.
»Hast du’s jetzt begriffen, mein kleiner Torrence?«
Der kleine Torrence von einem Meter achtzig sieht seinen schmalen Chef mit geweiteten Augen an.
»Was soll ich begriffen haben?«
»Wie viele Postämter gibt es hier in Paris?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht hundert.«
»Wie spät ist es?«
»Halb fünf.«
»Würde es dir was ausmachen, den Chef der Kriminalpolizei zu wecken? Du weißt, dass er einem ehemaligen Mitarbeiter von Kommissar Maigret keine Bitte abschlagen würde. Bitte ihn, uns später für eine Stunde so viele Männer auszuleihen, wie er entbehren kann. Du kannst dir vorstellen, wie wichtig es ist, dass das sofort geschieht. Die Postämter machen um acht Uhr auf, richtig? Also an jedem Postamt … Hast du es jetzt begriffen? Gib jedem Mann ein Foto, nur vom Gesicht, nicht von der Kleidung. Nein, keinen Kaffee mehr, danke! So, ich werde in der Zwischenzeit ein wenig die Augen zumachen …«
Paris wird langsam lebendig. Der Nebel hat sich verflüssigt und fällt als eiskalter Nieselregen herab. Die Straßen scheinen von Glanzlack überzogen. In dem Moment erscheinen bei allen Postämtern, die gerade erst aufmachen, noch verschlafene und missmutige Männer.
»Kriminalpolizei. Können Sie mir sagen, ob vor Kurzem eine Person, die dieser hier ähnlich sieht …«
Émile schnarcht. Man kann sich kaum vorstellen, dass ein so dünner junger Mann so geräuschvoll schläft. Es ist kurz vor neun, als Torrence ihn weckt.
»Chef! Chef!«
»Wo?«, fragt Émile, sofort im Vollbesitz seiner Sinne.
»Dunkerque … Hôtel Franco-Belge.«
»Das Telefon! Schnell!«
»Das Hotel?«
»Ja, das Hotel. Und auch die Polizei von Dunkerque. Beeil dich!«
Sie haben beide noch ihren Smoking von letzter Nacht an. Die Hemden leuchten nicht mehr so frisch, und beiden sind Bartstoppeln gewachsen. Darüber hinaus hat Torrence fast überall seine Pfeifenasche verstreut. Das Büro riecht wie am Morgen nach einer Party, und schmutzige Tassen und Croissantreste sind über die Schreibtische verteilt.
»Hallo, Vermittlung, würden Sie mich bitte mit der Nummer 180 in Dunkerque verbinden? Und gleich danach mit der Nummer 243 … Ja, es ist wichtig … Eine offizielle Angelegenheit.«
Émile ist wieder in sein kleines Büro gegangen. Er hat es wirklich mit Verzeichnissen. Dunkerque … Es war halb zwölf, als sie das Pélican verlassen hat. Gut. Vor halb sieben gibt es keinen Zug nach Dunkerque.
Und wenn sie das Auto genommen hat? Er zählt die Kilometer auf der Straßenkarte und überschlägt es im Kopf …
Das Telefon klingelt.
»Chef! Das Hôtel Franco-Belge.«
»Hallo? Spreche ich mit dem Hoteldirektor? Der Direktor ist nicht da, sagen Sie? Sie sind die Rezeptionistin? Hier spricht die Polizei …«
Nicht nötig, zu sagen, dass es nur eine Privatdetektei ist.
»Hören Sie, Madame, in den letzten paar Wochen müssen Sie mehrere kleine Päckchen für einen Gast erhalten haben, Madame Olry … Stimmt das?«
Die Rezeptionistin wiederholt den Namen.
»Madame Olry? Warten Sie, ich frage nach. Ich hab mit der Post nichts zu tun … Jean! Ist irgendwelche Post für eine Madame Olry gekommen? Wie bitte? Ja, Monsieur, es stimmt. Die Dame hat uns anscheinend irgendwo aus dem Ausland geschrieben und uns gebeten, ihre Post für sie aufzuheben … Jean! Woher kommt die Post für die Dame? Nur einen Moment, Monsieur … Wie bitte,