Brücken, die die Sehnsucht schlug. Liane Sanden

Brücken, die die Sehnsucht schlug - Liane Sanden


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und mit ihm geredet, das heisst, erst nachdem er ihn in die Badewanne gesteckt und mir ihn ein ordentliches Essen gegeben hatten“ — fuhr Märta lachend fort. „Also, er hat ihn zu sich gerufen und mit ihm gesprochen, aber weisst du, nicht so dumm, wie Väter es mit Söhnen wohl manchmal tun und wie es Victor von zu Hause wohl auch nicht anders gekannt hat. So von oben herab, als hätten die Väter alle Weisheit der Welt mit Lösseln gegessen, und wir Kinder wären dumme Babies, denen man noch —“

      Sie hatte geschwiegen und ihren neuen Kameraden Jürgen eir wenig unsicher angesehen, denn es schickte sich doch wohl nicht, das zu sagen, was sie eben gesagt hatte. Aber Jürgen schien kein ehrpussliger Mensch zu sein, denn er sagte ganz heiss und begeistert: „Weisst du, Märta, dein Vater muss ein famoses altes Haus sein, so einen Vater hab’ ich mir schon immer gewünscht!“ Bitter dachte er daran, wie er selbst von Kindheit an bis jetzt immer gegängelt worden war. „Famoses altes Haus“, diese Bezeichnung hatte Märta gefallen. Der blonde, schlanke Jürgen Hauer war ein Junge, mit dem man vernünftig reden konnte. Und so hatte sie denn hastig weitererzählt. Der Vater wäre seinerzeit auch einmal als junger Mensch so von zu Hause losgezogen und hätte sich allein durchs Leben gekämpst. Und da ihm der Vic ganz aus dem Schrot und Korn gemacht zu sein schien, auch allein weiterzukommen, und da ihm nichts daran gelegen war, dass sich sein Schützling von irgendeinem Eisenbahnzuge überfahren liess, da hatte er ihm denn geholfen. Er heuerte den Vic als Schiffsjungen an und ermöglichte es ihm, ohne Einwanderungspapiere in New York an Land zu gehen, indem er ihn bei Verwandten unterbrachte.

      Jürgen hatte zugehört, wie wenn man ihm als Kind Märchen vorgelesen — sein Mund stand vor atemlosen Staunen offen. Da war der Vic also wirklich und wahrhaftig in Amerika. Neid, Begeisterung, Sehnsucht überkam ihn — er sass hier in der Enge, ein Hauslehrer, den man auf die Geschichte von dem einsamen Wolf hin engagiert hatte, bewachte jeden seiner Schritte. Immer mehr entfernte er sich von dem Vater, immer mehr von der Mutter, die seit dem Unglück mit Vic nichts anderes für ihren eigenen Sohn übrig hatte, als Klagen und Ermahnungen. Inzwischen war Vic ein freier Mann, würde vielleicht alle die Träume der Knabenzeit in Wahrheit erleben, würde nach Wildwest gehen, wilde Mustangs fangen, eine Ranch mit der Waffe in der Hand gegen räuberische Diebe verteidigen, als Meldereiter in einer freiwilligen Miliz eine Farmeransiedlung vor dem Ueberfall der wilden Indianer schützen und schliesslich die Tochter des reichen Farmbesitzers als Braut heimführen. Nur eigentümlich, diese Braut sah in den Träumen des jungen Jürgen auf einmal aus wie die rotblonde zierliche Märta mit den silbergrauen, übergrossen Augensternen.

      Aber Märta hatte seine begeisterte Phantasie schnell in die Wirklichkeit zurückgeführt.

      „Was ist das schon, Amerika?“ hatte sie gesagt. „Das ist auch nichts anderes wie ein anderes Land. Nur tüchtig muss man sein — und ich glaube, der Vic ist es. Aber nur nichts ausplaudern, du!“

      Das hatte er ihr mit tausend heiligen Eiden beschworen, und die Freundschaft zwischen den beiden jungen Menschen war besiegelt.

      Als die schweidischen Austauschschüler nach zwei wundervollen Ruhetagen auf Scholtenkamp weiterreisten, da stand ein blonder Junge mit mühsam unterdrückten Tränen und einem vor Abscheidsweh zusammengeschlossenen Knabenmunde am Bollwerk und sah lange, lange dem weissen Tuche nach, das Märta winkend schwenkte. Erst als der letzte Schimmer ihres rotgoldenen Haares verschwunden war, ging Jürgen damals heim. Aber er vergass die neue Freundin nicht. Und manch Brief kam von ihr zu ihm. Die Eltern hatten gegen diesen Briefwechsel nichts einzuwenden. Glaubten sie doch, dass er ein gutes Gegengewicht wäre gegen die verrückten Jungensideen, die dieser Lump von Victor — anders nannten sie den jungen Fischer nicht — ihrem Sohne eingeimpft hatte. Eine Freundschaft mit einem wohlerzogenen Mädchen, das ja fast noch ein Kind war, musste ein guter, besänftigender Ausgleich sein. Sie ahnten nicht, dass Märta alles andere war als ein sanftes, dünnblütiges Frauenwesen, vielmehr ein herzhafter Mensch mit einer Lebenskraft, die die verrückten Ideen Jürgens ebenso gut verstand, wie sie einst Vic Fischer verstanden hatte. Und ebensowenig ahnten die alten Hauers, dass die lieblose, veständnislose Verurteilung von Vics Tat ihnen den Sohn immer mehr entfremdete. Es hätte so wenig bedurft, nur ein bisschen liebevolles Eingehen auf das vollkommen verwirrte Gemüt ihres Jungen. Er konnte ja nich verstehen, dass man Vic für eine Tat hart verdammte, die nur der Nächstenliebe entsprungen war. Er war noch zu jung, einzusehen, dass man zwar wohltätig sein konnte, aber doch nicht heimlich und durch Diebstahl, wie Vic. Die Eltern versäumten den Zeitpunkt, sich die Seele des Heranwachsenden zu gewinnen. Sie waren zufrieden, dass äusserlich alles gut ging. Der Junge lernte, erfüllte seine Pflichten und schien auch von den törichten Indianer- und Trappermärchen zu lassen. Dass in Wahrheit Jürgen seit jener Zeit mit seinem wahren Sein nur noch bei Vic war — und bei der neu gewonnenen Freundin Märta — das wussten sie nicht. Sie glaubten, Jürgen gebändigt und in ihrem Sinne gelenkt zu haben. Er aber lebte sein eigenes Leben, das zwischen den Gedanken an seinen fernen Freund und an die Freundin Märta geteilt war. — Vic liess nie ein direktes Lebenszeichen an Jürgen gelangen, aus Furcht, der Brief könnte in unrechte Hände geraten. Nur Märta schrieb an Jürgen mitunter in versteckten Andeutungen, die nur der Eingeweihte verstand, von Vic. Aber auch sie hörte nur wenig von ihm — und das schmerzte sie. Das zeichnerisch hochbegate Mädchen versuchte immer wieder aus der Erinnerung heraus, Vics Antlitz im Bilde festzuhalten, denn der tatentschlossene Junge, der sein Schicksal so mutig in seine jungen Hände genommen, hatte ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen.

      Zweites Kapitel

      Ein Dampfer, der mit lautem Tuten dem Hafen drüben zulenkte, riss die beiden jungen Menschenkinder auf Vilm aus ihren Träumen.

      „Schon der Mittagdampfer, Märta“, sagte Jürgen erschrocken, „wenn wir uns nicht beeilen, sind wir nicht zur Zeit beim Essen. Na, und was es dann an Strafpredigten und Schelte setzt, das weisst du ja.“

      Auf seinem hageren Jungensgesicht stand beinahe etwas wie Angst. Märta sah den Freund an: „Du, Jürgen, kommt es mir nur so vor, oder ist dein alter Herr jetzt viel gereizter und unduldsamer als früher? Ein wenig poltrig war er ja schon immer — aber so wie jetzt? Ich war früher so gern bei euch auf Scholtenkamp, obwohl die ganze Art deiner Eltern so himmelweit verschieden ist von der Art meines Vaters — aber jetzt bin ich beinahe froh, dass meine Lehrlingszeit zu Ende geht.“

      „Froh, Märta?“ fragte der junge Mensch bitter — „und ich —? Weisst du, dass ich traurig bin, wenn du gehst? Du bist doch der einzige Mensch hier, der mich versteht — den ich —“

      Er wollte sagen: „den ich lieb habe . . .“ Aber die tiefe Scheu einer Jünglingsseele, die noch nicht zum wahren Bewusstsein ihrer Empfindugen gekommen ist, oder die nicht wagt, sich diese Empfindugen einzugestehen, hinderten ihn weiterzusprechen.

      Er sah Märta nur an. Etwas Hilfloses war in seinen Augen.

      „Armer Jürgen“, Märta fugr ihm leicht und liebevoll durch die Haare, „natürlich bin ich auch traurig, von dir wegzugehen, aber pass nur auf“, fuhr sie schnell fort, als er heiss nach ihrer Hand griff, „die Zeit geht auch bald hin, du machst dein Abitur, dann bist du ein freier Student und gehst auf die Universität. Kannst reisen, vielleicht besuche ich dich auch einmal in Heidelberg oder wo du sonst sein wirst. — Oder du kommst zu uns nach Schweden. Du, das wird ein schönes Leben für dich werden, wenn du erst aus alledem hier heraus bist. —“

      „Ein schönes Leben ohne dich“, wollte Jürgen sagen, aber er verschluckte auch das — und statt dessen meinte er nur, „ich glaube, Märta, das sind Zukunftsträume, die sich nicht erfüllen werden. Natürlich, ich werde das Abitur machen, sogar gut, denke ich, denn ich will meinen alten Herrschaften zeigen, dass ich trotz ihrer ewigen Ermahnungen doch etwas leiste, und ich werde auch auf die Universität gehen . . . Das hat mir der Vater versprochen — und sein Wort hält er immer, so wunderlich er auch sonst ist. Aber im übringen — mit dem freien Studentenleben und Lebengeniessen wird es nicht viel werden. Ich weiss durch Zufall, dass der Vater bei dem letzten Zusammenbruch der Landesbank grossen Geldverlust gehabt hat. Scholtenkamp wirst nichts ab —.“ Ein finsterer Blick kam in seine Augen. Wieder strich Märta ihm wie in Mitleid über die sonnengebräunte Hand. Sie wusste, wie Jürgen im geheimen über die altmodische Bewirtschaftung des Gutes und den Oberinspektor


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