Brücken, die die Sehnsucht schlug. Liane Sanden
moderne Baulichkeiten an ihre Stelle zu setzen und die ganze Milchwirtschaft von Grund auf fachmännisch aufzubauen. Aber es hatte einen furchtbaren Auftritt gegeben, und Inspektor Schlinker hatte mit einem hämischen Lächeln dabeigestanden, als der alte Scholtenkamp seinen Sohn wie einen Schuljungen abkanzelte. Wären nicht Frau Renates Bitten und Beschwörungen gewesen — es wäre in dieser Stunde schon zu einem unheilbaren Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen. Aber dieser Bruch konnte nicht ausbleiben — und er kam schneller, als Frau Renate selbst in ihren schlimmsten Angstträumen gefürchtet.
Es war ein heisser, schwüler Sommerabend. Die ganze Zeit schon hatte ein schieferfarbener Gewitterhimmel über der Insel gestanden — und ein dumpfes Schweigen lag drohend über dem sommerträchtigen Lande. Jürgen war an seinem letzten Ferientage mit dem Boot auf dem Meer gewesen. Aber er war bald heimgekehrt. Unheimlich dünkte ihn die bleierne Stille, in der das dunkle Wasser der See unter einem drohenden Himmel lag. Nur ein leises empörtes Murmeln war hörbar, wenn die weissen Wogenkämme gegen den weissen Strand gischten. Mit einem eigentümlichen Gefühl der Bedrückung hatte Jürgen gestanden und über die weite Wasserfläche hinweggesehen. Wie oft war er mit Märta hier gewesen. Sie liebte diesen kleinen Wasserarm, der zwischen dem Schilf eines kleinen Wasserlaufs, wie abgeschlossen, ein winziger Binnensee, hier träumte. Damals war blühender, lichter Frühling gewesen, vor wieviel Jahren. — Es waren erst zwölf Monate her, dass sie hier auf Scholtenkamp zu Besuch war, als er auch Ferien hatte — und die glücklcihe, unbeschwerte Jugendzeit war mit ihr zu dem Einsamen zurückgekehrt. Nur stiller war Märta geworden, und sie gestand ihm auch den Grund: Vic war verschollen . . .
Seit Monaten hatte sie nichts mehr von ihm gehört, auch ihre Verwandten in Amerika wussten nichts. Flüchtig hatte sie einmal aus der Ferne seine Mutter gesehen — Donna Carola — eine alte, müde, gramgebeugte Frau war sie seit der Flucht des Sohnes geworden, während der alte Herr von Fischer in seinen andern, kräftigen, robusten Söhnen längst einen Ersatz für den Tunichtgut gefunden, wie er allenthalben dröhnend verkündet. Aber ein Mutterherz konnte wohl nicht vergessen, und angesichts der gramgebeugten Frau überkam es Märta wie ein Gefühl der Reue — hatten sie und der Vater damals recht gehandelt, als sie Vic zur Flucht verhalfen? Hätte man nicht doch seine Eltern benachrichtigen und versuchen sollen, einer Aussöhnung zu ermöglichen? Aber Jürgen, mit dem sie damals von ihren Zweifeln gesprochen, hatte ihr das alles energisch augeredet. „Nie wäre es gut geworden zwischen Victor und seinem Vater“, hatte er gesagt. „Wie Feuer und Wasser nicht zusammenkommen können und eins dem andern weichen muss, so ist es auch mit dem heissen Herzen Vics und dem eiskalten Verstande des Vaters gewesen. Ausserdem — die Abenteuerlust in Victor wäre nicht einzudämmen gewesen. Er kannte genau den Lebensplan, der vor ihm lag — landwirtschaftliche Schule, dann aufs Gut, Heirat mit einer der zahlreichen Fischerschen Kusinen — und dann, in immer gleichem Trott — bis zum Sterben. Glaubst du, dass Victor ein solches Leben ausgehalten hätte, ohne auszubrechen?“
„Nein, das glaube ich nicht“, hatte Märta leise gesagt. „Das Blut seiner schönen Mexikanischen Mutter rumort wohl zu sehr in ihm.“
„Und darum musste er fort. Hier wäre er erstickt oder hätte mit seiner überschüssigen Kraft nur Unheil angerichtet. Draussen wird er seinen Mann stehen, auch wenn er jetzt verstummt ist.“ Jürgen hatte das so warm, so überzeugend gesagt, dass Märta ihm plötzlich um den Hals gefallen war, und er hatter zitternd, glühend heiss vor Glück, diesen ersten Kuss von ihr empfangen. Seitdem hatte er sie nicht wiedergesehen. Aber noch immer musste er an diesen Kuss denken. Auch jetzt. Ja, damals war eine reine, helle Sonne über Land und Meer gewesen; jetzt hüllten schwer herniedergehende Wolken die Ferne ein, die Ferne, wo auch Märta weilte. Wie er sie liebte, wie er sich nach ihr sehnte . . . Sie war der Stern, der über seinem einsamen Leben leuchtete, sie war der Talisman, der gute Schutzgeist, der ihn in der unruhigen Studentenzeit vor sich selbst bewahrt hatte. Märta — um sie allein war es wert, zu leben . . .
Der erste grelle Blitz, herniederzuckend aus dunklem Gewölk, weckte ihn aus seiner Träumerei. Eilig sprang er ins Boot und stellte den Motor auf höchste Tourenzahl — er musste zu Hause im Hafen sein, ehe das Gewitter mit voller Gewalt losbrach. Durch das wütend und wütender aufbrausende Meer jagte von der Insel Vilm aus das kleine Motorbootchen, in das Brummen des Motors grollte bald das Geräusch des Donners. — Immer schneller zuckten die grellen Blitze vom Himmel hernieder, — und gerade als Jürgen den schützenden Hafen von Scholtenkamp erreicht hatte, brach das Gewitter mit einer geradezu urwelthaften Wut los. Blitz auf Blitz fuhr zuckend hernieder, der Donner brüllte um dei Wette mit dem empörten Meere, es schien fast dunkle Nacht, obwohl es erst gegen Abend war — und nur die grellen Blitze erhellten das Land. Dabei fiel keinTropfen Regen, als ob selbst die Wolken, gelähmt vor Entsetzen. Sich zusammenballten. Das Vieh in den Scholtenkamper Ställen brüllte und rasselte mit den Ketten, Mägde und Knechte flohen von den Feldern und aus dem Hof in die Gesindestuben, und bald lag das ganze Gehöft leer unter den unaufhörlich herabprasselnden Donnerschlägen und den grüngelben Blitzen.
Jürgen stand in seinem Zimmer am Fenster und sah das empörte Toben der Elemente. Er liebte es, wenn die Natur sich ihrer ganzen grandiosen Majestät offenbarte. Er liebte den Aufruhr der Elemente, weil in ihm selbst etwas Aufrührerisches war. Da — ein Zischen, ein Licht, so jäh, dass er zurücktaumelte — nun ein Krachen, als ob die Erde auseinanderbersten wollte — Jürgen schrie auf — aus dem Dach des Schullehrerhauses, dort gegenüber im Dorf, schlug eine brennend rote Lohe, wuchs in den fahlen Himmel. „Feuer!“ schrie Jürgen, „Feuer!“, rannte die Treppe hinunter und: „Feuer!“ schrie es aus den Gesindestuben.
Wenige Minuten später war alles auf den Beinen. Die Knechte von Scholtenkamp rasten hinunter ins Dorf, wo sie die rote Lohe aus dem Dach des Lehrerhauses höher und höher zum Himmel steigen sahen. Ein Wind hatte sich aufgemacht, drohte, den roten Feuervogel weiterzutreiben zu den benachbarten Häusern . . . Die Glocke der kleinen Holzkirche, vom alten Küster geläutet, wimmerte kläglich in das Brüllen des Donners. —
Drittes Kapitel
Jürgen war als erster beim Spritzenhause — sein Herz erstarrte — die Unzulänglichkeit der alten Feuerlöschgeräte, er hatte sie ganz vergessen! Erst vor kurzem war es erneut deshalb zwischen ihm und dem Vater zu einem Streit gekommen — nun war das Unglück da. Mit der kleinen Handspritze konnte man einen solchen Brand nicht löschen, da hätte eine richtige Motorspritze bereit sein müssen und nicht, wie hier, geborstene Schläuche und verrostete Geräte. Aber alle Vorwürfe halfen nichts. Jetzt musste man versuchen zu retten, was zu retten war. —
Als Jürgen mit den ersten Männern der freiwilligen Feuerwehr den Rettungsschuppen geöffnet und die Geräte heraustransportiert hatte, formierte sich bereits die Gutsund Dorfwehr. Aber während noch alles im Stadium der Vorbereitung war, krachte das leicht gebaute Schulgebäude schon in allen Grundfesten. Händeringend und weinend stand der Lehrer mit den Seinen vor dem Hause. Angstvoll duckten sich die Kinder — da schrie die Aelteste auf: „Die Ina, die Ina ist vorhin wieder auf den Boden gegangen zu der Bücherkiste, die Ina . . .“ Die Lehrersfrau stiess einen markerschütternden Schrei aus und sank in die Arme ihres Mannes, der schreckgelähmt auf das brennende Haus starrte.
„Gott erbarme dich unser —“ flüsterte er. Da hörte man auch schon ein klägliches Wimmern hoch oben, und in der Bodenluke, von Rauch und Flammen umloht, erschien ein verzerrtes Kindergesicht —
„Wasser“, keuchte Jürgen, „gebt Wasser!“ Aber der Schlauch, alt, morsch, überansprucht, barst in zwei Teile auseinander — er reichte nicht mehr nach oben. Ein Schrei der Angst ging durch die Menge — da stiess Jürgen einen der Feuerwehrleute von det Leiter, kletterte hinauf, Rauch und Feuer raubte ihm fast die Besinnung — aber er klomm weiter. Die Augen hielt er geschlossen, er achtete nicht auf die sengende Hitze, nicht auf den Rauch, der ihn zu töten drohte, denn er vermochte kaum noch zu atmen, nicht auf die Flammen, die ihn jede Sekunde in eine lebende Fackel verwandeln konnten. Er verfolgte weiter seinen Weg nach oben, erreichte das halb bewusstlose Mädelchen, packte es und hastete die Sprossen wieder hinunter. Er fiel mehr als er ging, und im selben Augenblick, als das Haus zusammenkrachte, legte er taumelnd der Mutter das gerettete Töchterchen in die Arme . . .
An dem Tage, der diesem Abend