Brücken, die die Sehnsucht schlug. Liane Sanden
Die rätselhafte Abhängigkeit des Vaters von diesem Inspektor Schlinker wäre ihm immer unerträglicher geworden — es hätte stets zu erneuten Auftritten geführt. All das schrieb er in ruhigen Worten den Eltern. Gegen den Vater war auf einmal, nun Jürgen vor so entscheidender Veränderung des Lebens stand, jeder Groll gewichen. Vielleicht würde er auch draussen, in dem ungewissen Dasein, mehr Verständnis für den alten Mann finden. Wohin er zunächst gehen wollte, wusste er noch nicht. Erst galt es zu versuchen, Victor aufzufinden. Aber wire würde das möglich sein? Eher konnte man schliesslich eine Stecknadel in einem Heuhaufen finden, als einen Menschen, von dem man nichts weiter wusste, als dass er seit seinen Knabentagen eine romantische Sehnsucht nach den Gefilden von Texas hatte. — Doch wie er mit seinen geringen Ersparnissen, dem Inhalt einer Sparbüchse, dei seit Kinderzeiten zu allen Geburtstagen und bei guten Zeugnissen gefüllt wurde, bis nach Texas kommen sollte, das schien ihm selbst das räteselhafteste von allem, genau so unwahrscheinlich wie das Wiederauffinden von Vic. Wäre Märtas Vater dagewesen, vielleicht hätte er ihm hinübergeholfen wie seinerzeit dem Freunde. Aber Märta hatte diese Möglichkeit entschieden abgelehnt. Sie besass einen klaren Verstand und sah die Dinge, wie sie wirklich waren.
„Mein prachtvoller alter Herr würde niemals seine Hand zu deiner Flucht bieten, Jürg“, belehrte sie ihn. „Vei Victor war das etwas ganz anderes. Den kannte der Vater vorher ebensowenig wie seine Eltern. Bei den freundschaftlichen Beziehungen indessen, die sich zwischen unseren Familien angebahnt haben, ist seine Beihilfe für dich einfach ausgeschlossen, mein Junge. Es ist beinah ein Glück, dass Vater unterwegs ist. Er würde sofort deinen Eltern Nachricht gegeben haben, und eigentlich hätte ich’s auch tun müssen!“ hatte sie grübelnd hinzugefügt, „aber ich tu’s nicht. Ich kenne dich zu gut. Wenn du glaubst, es daheim nicht mehr aushalten zu können, dann ist es höchste Zeit, dass du fortgehst. Wenn du dir erst einmal in einem fremden Lande hast den Wind um die Nase wehen lassen, dann wirst du alles anders ansehen — und auch zu deinem Vater eine richtige Einstellung gewinnen.“
So kam denn Jürgen in Hamburg an. Er wollte dort sehen, ob sich eine billige Passage nach Amerika gegen Arbeitsleistung finden lassen würde. Er stieg in einem kleinen, bescheidenen Hotel ab, das man ihm im Verkehrsbüro empfohlen hatte. Und alsbald machte er sich auf den Weg, um die ersehnte Heuer zu finden. Aber der erste Versuch, ein selbständiges Leben zu beginnen missglückte. Bei dem Darniederliegen der Handelschiffahrt gab es eine unendliche Anzahl arbeitsloser Matrosen, die die Heuerbüros belagerten. Da hatten die Reedereien Auswahl an geschulten und seetüchtigen Leuten. Man brauchte nicht auf Menschen wie Jürgen zurückzugreifen, die wohl Diplome aufzuweisen hatten, aber keine Ahnung von dem, was sie an Bord zu leisten hätten. Jürgen begriff zum ersten Male, dass die Bildung und die gesellschaftliche Stellung, die er bisher genossen, für sein neues Dasein eher ein Hindernis denn ein Vorteil waren. Das Herz ward ihm immer schwerer; aber sein Wille blieb zähe. Er musste fort, musste sich auf eigene Füsse stellen, musste dem Vater beweisen, dass er kein grüner Junge mehr wäre, der vor einem Inspektor Schlinker zurückzuweichen hatte. Er musste hinüber nach Amerika, mochte kommen, was da wolle. — Er hatte Märta gebeten, ihm postlagernd nach dem Hamburger Hauptbahnhof zu schreiben. Er hoffte, noch eine Nachricht von ihr zu erhalten, wie die Eltern auf Scholtenkamp seine Flucht aufgenommen. Am zweiten Tage seiner Anwesenheit in der Alsterstadt wurde ihm denn auch ein Schreiben Märtas ausgehändigt.
„Lieber Jung“, schrieb die Jugendfreundin, „ganz schnell jage ich diese Zeilen hinter Dir her. Geh’ sofort ins Hotel Atlantic, und melde Dich auf Empfehlung von mir dort bei Mr. Henderson. Denke nur, welches Glück in allem Unglück! Mir schreibt eine ehemalige Schulkameradin und fragt an, ob ich zufälligerweise einen gebildeten, deutschsprechenden jungen Mann in meinem Bekanntenkreise habe, der sich die Ueberfahrt nach San Francisco auf einer Privatjacht als Sekretär des Besitzers verdienen möchte. Die ,Winnetou’ gehört einem reichen deutschamerikanischen Selfmademan, der mit seiner Tochter, die den gleichen indianischen Namen trägt wie das Schiff, nach den Staaten zurückkehrt. Der Sekretär ist in Hamburg erkrankt und muss dort zurückbleiben. Mr. Henderson arbeitet an einem wirtschaftlichen Werk, das in Deutsch und Englisch erscheint und täglich aus dem stenographischen Diktat in die Maschine übertragen werden muss — Künste also, die Du beherrschst — und Miss Winnetou sucht einen sehr guten Tennis- und Schwimmpartner. Feine Sporthalle und heizbares Bassin gibt’s an Bord — ausserdem wöchentlich 20 Dollar Taschengeld, bei einer auf zwei Monate berechneten Reisedauer! Sigrid, meine Kameradin, ist Winnetous Freundin und Begleiterin; sie fleht mich geradezu an, mich nach Ersatz für das Unglückswurm von Sekretär umzusehen, da sie nicht den ersten Besten an Bord nehmen wollen und können . . .“
Sobald Jürgen sich zurechtgemacht hatte, galt sein erster Besuch den Hendersons, angenehmen, natürlichen Menschen, die dem jungen Landwirtssohne, der gesellschaftlich auf gleicher Stufe mit ihnen stand, schnell über das Peinliche der Situation hinweghalfen. Auch Sigrid Martensson erwies sich als nette, höchst umgängliche junge Dame. Als Jürgen die drei wieder verliess, einen Hundertmarkschein für noch nötige Anschaffungen in der Tasche, tat er es in dem angenehmen Bewusstsein, nun erst einmal geborgen zu sein.
Am nächsten Tage sollte er alles erledigen, was noch mit seiner Ausreise im zusammenhang stand. Da nichts Nachteiliges über ihn bekannt war, würde das amerikanische Generalkonsulat, dem der Name Sam Hendersons, des grossen Dollarmillionärs, eine Macht bedeutete, seinem Sekretär mit den Einreisepapieren keine Schwierigkeiten machen. „Wir können solange zusammenarbeiten, wie es Ihnen passt, Mr. Hauer, wenn Sie die an Sie gestellten Ansprüche erfüllen, denn mein ehemaliger Mitarbeiter bleibt auf alle Fälle hier!“ waren Hendersons Worte gewesen, als Jürgen nach seinem ersten Besuch im Hotel Atlantic sich vor ihm zum Abschied verneigte. „Alle Reiseanschaffungen, die Sie machen müssen, junger Mann, lassen Sie mit quittierter Rechnung hierherkommen. Der Hundertmarkschein ist nur für solche Dinge bestimmt, die Sie allein angehen“, hatte Henderson bestimmt. Selbstverständlich belegen wir hier ein Zimmer für Sie, müssen Sie aber leider gerade den ersten Abend sich selbst überlassen, da wir bei hiesigen Freunden eingeladen sind!“ Jürgen hatte aufgeatmet. Er wäre in seiner jetzigen Gemütsverfassung völlig ausserstande gewesen, den angenehmen Gesellschafter zu spielen.
Aber er setzte sich sofort nach seiner Uebersiedelung ins Atlantic hin und schrieb einen langen, dankbaren Brief an Märta. Genau schilderte er alles, seinen ersten Empfang bei den Hendersons, die freie, herzliche Art, mit der sie ihn als Freund Märtas sofort aufgenommen, und die grosszügige Weise, in der sie ihm seine Stellung erleichterten.
„Ich werde mich wirklich nicht wie ein Angestellter fühlen“, schrieb er, „denn man behandelt mich schon jetzt, als wäre ich ein Kamerad. Besonders Deine Freundin Sigrid ist so herzlich, so zutraulich, sie erinnert mich in ihrer ganzen Art manchmal stark an Dich, liebe Märta — und Du kannst Dir denken, wie schön, aber wie wehmutsvoll zugleich diese Erinnerung für mich ist. Liebe, geliebte Märta, lass es mich Dir noch einmal sagen, wie teuer Du mir bist. Ich weiss, dass Dein Herz einem anderen gehört — und ich will alle Kraft daransetzen, über den Schmerz hinwegzukommen. Das Leben liegt ja noch vor mir, und es wird gerade jetzt tausend Schwierigkeiten für mich bieten. Aber immer wird Dein liebes Bild um mich sein, mich trösten und halten, wenn ich einmal straucheln sollte. Hab Dank für all Deine Freundschaft, liebe Märta, die mir wieder einmal die Wege so geebnet hat. Ich fühle nur den einen heissen Wunsch in mir: Dir alles einmal vergelten zu können und Deinen Vic drüben zu finden. Vergiss meine Eltern nicht, Märta, wenn ich sie zu sehr betrübt habe, so versuche, ihnen meine Handlungsweise menschlich näherzubringen. Fahre einmal zu ihnen, ich bin ja auch nicht aus der Welt — und so Gott will, kehre ich als ein anderer wieder . . .“
Lange sass Jürgen dann noch und dachte an Vergangenheit und Zukunft. Aber er hätte kein junger Mensch in den schönsten Jahren sein müssen, wäre die Zukunft nicht jetzt in seinen Gedanken lichter und stärker geworden. Würde er Victor finden — und würde sich etwas von dem romantischen Abenteurerleben erfüllen, wie er es sich einst in glücklichen Jugendträumen mit dem Freunde zusammen ausgemalt hatte? . . .
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Der, an den er jetzt dachte und der sich drüben in Anlehnung an seinen deutschen Namen Vic Fisher nannte, lebte freilich ganz anders als er und seine Kameraden es sich in den heimischen Wäldern ausgemalt hatten; besonders