Johanna spielt das Leben. Susanne Falk
gnä’ Frau!«, brüllte ihr der schwerhörige Mann ins Ohr und die Mutter nickte nur und wischte sich hin und wieder eine Träne aus dem Gesicht. Ob vor Rührung oder vor Erleichterung, dass Georg die schwangere Johanna nicht sitzen gelassen hatte, vermochte sie nicht einmal selbst zu sagen. Es war wohl eine Mischung aus beidem.
Als Hochzeitsgeschenk erhielten die zwei eine kleine Summe Geld und bezahlten davon eine dreitägige Hochzeitsreise nach Salzburg, wo sie sich den Dom anschauten, die Festung und ansonsten ziemlich viel Zeit zu zweit im Bett verbrachten, ganz so, wie man es von ihnen erwartete.
»Reichst du mir einmal den Wein herüber?«
Johanna lag ausgestreckt auf dem Bett, ein Zahnputzglas in der Hand, das sie nun ihrem frisch angetrauten Ehemann entgegenhielt.
»Du weißt, dass das nur Traubensaft ist, oder?«, fragte Georg, der ihr bereitwillig aus der Flasche Traubenmost, den sie am Markt gekauft hatten, einschenkte.
»Ich bin Schauspielerin, Liebster«, entgegnete sie, »ich kann spielen, dass es echter Wein ist!«
»Das glaube ich dir sofort!«, stimmte er ihr zu. »Was meinst du, wird unser Kind einmal beruflich machen?«
»Wenn es ein Bub wird, kommt er nach mir und wird Schauspieler«, bestimmte Johanna.
»Und wenn es ein Mädchen wird?«, wollte Georg wissen.
»Dann kommt sie gleichfalls nach mir und wird ebenfalls Schauspielerin«, antwortete sie.
»Aha«, stellte er fest und setzte sich vorsichtig neben seine Frau auf das schmale Ehebett, »du willst also keinen zweiten Juristen in der Familie?«
»Machst du Witze? Was sollen wir denn mit mehr als einem Juristen in der Familie anfangen?«
»Gut, gut«, sagte Georg, stellte den Wein, der keiner war, auf dem wackligen Nachtkastl ab, das gut zum wackligen Bett passte. Das nächste Mal, sagte er sich im Stillen, sollten sie bei der Auswahl des Fremdenzimmers vielleicht nicht ganz so sparsam sein. »Wenn das dein Wille ist, dann soll es so sein – eine Schauspielerfamilie.« Georg verzog das Gesicht.
»Eine großartige Schauspielerfamilie!«, schmetterte Johanna und verschüttete dabei glatt etwas von ihrem Traubensaft auf das Laken. »Ups«, sagte sie und Georg sprang sofort auf.
»Hast du Salz dabei?«, fragte er.
»Nein, aber wie ich gehört habe, kann man in dieser Stadt durchaus so etwas bekommen. Nomen est schließlich omen, liebster Mann!«
»Ja, aber hast du jetzt Salz?«, fragte er.
»Nein, wieso?«
»Na, wenn Salz Rotweinflecken wegmacht, dann funktioniert das ja vielleicht auch bei rotem Traubensaft.«
Verzweifelt begann Georg in den Schubladen des Nachtkastls herumzusuchen.
»Was suchst du denn da?«, fragte Johanna belustigt.
»Na, Salz natürlich!«, gab er zurück. »Ich will nicht für die Reinigung der Leintücher extra zahlen müssen.«
»Sparmeister!«, schalt ihn Johanna und nahm aus einer Laune heraus ihr halb volles Glas Traubensaft und schüttete es langsam und zielsicher über Leintuch, Decke und Polster.
»Was zur Hölle …?!«, rief er aus, doch Johanna lachte nur aus vollem Halse.
»Man stelle sich das vor: in Salzburg ohne Salz!«, brüllte sie, während ihr die Lachtränen nur so über die Wangen rannen.
Für einen kurzen Augenblick war Georg drauf und dran, seine exzentrische junge Ehefrau für übergeschnappt zu erklären – aber dann sah er, wie sich ihr runder Bauch vom Lachen hob und senkte, wie ihre Wangen eine gesunde, rötliche Farbe annahmen, wie sie strahlte und wie ihr Glanz dabei jeden Zentimeter dieses gottverlassenen, hässlichen Hotelzimmers erhellte. Das entfachte seine Liebe nur noch mehr und er küsste sie, wobei er ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm.
»Ich liebe dich, du Wahnsinnige!«, sagte er und blickte ihr dabei tief in die Augen.
»Ich weiß«, war ihre Antwort. Sie küssten sich mitten in einem von Obstsaftflecken übersäten Bett. Und wie er da nackt in ihren Armen lag, seinen Kopf an ihren Bauch gelegt, da dachte er, er müsse vor Glück schier zerspringen, weil er all das hier hatte: eine Frau, ein Kind, ein Leben.
»Komm, lass uns die Stadt erobern«, schlug Johanna schließlich vor und er sagte Ja, weil er in diesem Augenblick zu allem Ja gesagt hätte. Sie zogen sich an und spazierten durch die Getreidegasse, wo sie ein überaus hässliches, aber sündhaft teures Paar Lederhandschuhe für Johanna kauften, in die sie kurze Zeit später gar nicht mehr hineinpasste, weil durch die Schwangerschaft ihre Finger zu stark anschwollen. Einen Tag später fuhren sie wieder heim nach Wien, weil Johanna eine ihrer letzten Vorstellungen als Luise Miller geben sollte, bis das Ensemble endlich in die Sommerpause entlassen werden würde.
Johanna verbrachte den gesamten Juli damit, zu lesen. Von Zola bis Eichendorff verschlang sie alles, was ihr in die Hände kam. Nur Erziehungsratgeber lehnte sie strikt ab. »Das Kind hat sicher mehr davon, wenn ich es mit klugen Gedanken füttere, als zu lernen, wie ich es nur ja schön schreien lasse, um es nicht zu verzärteln.« Wann immer Georg also aus dem Ministerium heimkam, deklamierte Johanna irgendetwas an hoher Literatur für das Kind und er ließ sie lächelnd gewähren. Es war alles genau so, wie es sein sollte, dachte Georg. Bis die Wehen einsetzten.
1950
Sie hatten ihn das Kind anschauen lassen. Johanna hatte man es nur ganz kurz gezeigt und es dann nach dem Durchtrennen der Nabelschnur schnell aus dem Raum getragen und in den Brutkasten gelegt, um es nicht auf dem kalten Boden des Kreißsaals sterben zu lassen. Aber er durfte es sehen. Er betrachtete diesen winzigen, mageren Körper mit dem kleinen Köpfchen, das mehr an einen kleinen Affen als an einen Menschen erinnerte. Er stand neben dem Primar, den eine der Schwestern geholt hatte und der nur den Kopf schüttelte, weil doch schon alles zu spät war. Und er stand neben dem Pfarrer, der den Körper des Kindes nicht beerdigen wollte, und der Schwester, die Stein auf Bein schwor, sie habe das Kind notgetauft, bevor es gestorben war, sodass er es bestatten durfte.
Er stand da und sah still dabei zu, wie sie ihn in eine Decke wickelte. Seinen toten Sohn anzufassen hatte er sich nicht getraut, aus Angst, dem winzigen Körper Schaden zuzufügen. Wer weiß, ob er ihm nicht eine seiner winzigen Rippen gebrochen hätte.
»Ich werde dem Bestatter Bescheid geben«, hatte die Schwester gesagt und ihn mit dem toten Kind allein gelassen. Und er hatte immerzu nur auf dieses winzige Bündel geschaut und sich gefragt, ob das wirklich gerade eben passiert war, ob sein Sohn wirklich gerade gestorben war.
Siebeneinhalb Monate. Ihm war natürlich bewusst gewesen, dass das zu kurz war. Und nun würde er mit einem Bestatter reden müssen und sich um ein Grab kümmern, denn Johanna war noch viel zu mitgenommen von der Geburt, um irgendetwas zu entscheiden. Sie würde nicht einmal bei der Beerdigung dabei sein. Anweisung vom Arzt: Die Patientin sollte unter gar keinen Umständen das Bett verlassen.
Wie gerne hätte er jetzt mit Johanna geredet, nur für einen kurzen Augenblick seinen Kopf an ihre Schulter gelehnt, die Augen geschlossen und sich wieder sicher gefühlt, so als wäre noch immer alles in bester Ordnung. Aber das war es nicht.
Er stand neben dem Bestatter, als der ihm diskret die Papiere zeigte, die es zu unterschreiben galt, und nickte nur kurz, als dieser ihn fragte, ob er das wirklich wolle, weil man so kleine Wesen eigentlich nicht beerdigte. Ja, hatte er gesagt und nicht gewusst, ob er es wirklich meinte. Ob es ein Sarg aus Buche sein solle, hatte der Bestatter gefragt und wieder hatte er mit Ja geantwortet.
»Auf welchen Namen soll ich den Totenschein denn ausstellen?«, hatte der Bestatter gefragt und Georg nannte ihm fälschlich seinen eigenen Namen, weil er nicht wusste, dass das Kind doch auch einen Namen brauchte, wenn man es beerdigen wollte. So hatte er sein totes Kind nach sich selbst benannt.
Weil er der Mann war, wurde von ihm erwartet, dass er den Sarg trug. Also trug er ihn. Und wäre