Johanna spielt das Leben. Susanne Falk
du gleich mit mir mitgekommen bist«, gab er unumwunden zu.
Sie richtete sich auf ihrem Ellbogen auf. »Du hast mich für eine Schlampe gehalten?«
»Nein!«, gab er entrüstet zurück.
»Doch«, stellte sie fest. »Du hast geglaubt, ich mache so etwas regelmäßig und dass ich mit jedem mitgegangen wäre. Richtig?«
Er schwieg und kletzelte das Etikett des Cognacs herunter. Da richtete sie sich vollends im Bett auf, wobei die Bettdecke von ihren Brüsten rutschte und den Blick auf zwei dunkelrosa Höfe freigab.
»Ich will dir mal was sagen, Georg Neuendorff aus dem Justizministerium: Hör auf, schlecht von dir selbst zu denken. Wer das macht, hat keine Zukunft vor sich. Der kann gleich da bleiben, wo er ist. Ich bin nicht mit dir mitgegangen, weil ich so etwas öfters mache, ich bin mit dir mitgegangen, weil du mir gefallen hast.«
Beschämt hielten seine Finger beim Herunterlösen des Etiketts inne.
»Aber an mir ist ja nichts Besonderes«, sagte er leise.
Da nahm sie seinen Kopf zwischen ihre langen, schlanken Finger und sah ihm direkt in die Augen. »Da, wo ich herkomme, da gibt es keinen, der so ist wie du. Und ich würde ja schließlich nicht mit jedem x-beliebigen Hanswurst ins Bett gehen. Also red nicht schlecht von dir selbst. Das macht mich zornig.«
Zorn, so fand er, stand ihr enorm gut. Also nahm er einen kräftigen Schluck vom Cognac und reichte ihn an Johanna weiter. Die setzte die Flasche an die Lippen und trank sie in einem Zug leer. Im Nu war sie vollkommen betrunken. Mit einem langen Blick besah sie sich das Schlachtfeld, in dem sie lagen, die leichten Blutspuren an ihren Oberschenkeln, die Flecken auf dem Laken. Das hatte so gar nichts Glamouröses oder gar Überwältigendes an sich, eher schon etwas Animalisches. Und es war so gar nicht das, was sie für ihr erstes Mal geplant hatte. Dieses alte Bett, dieses kleinbürgerliche Zimmer und diese alberne Brille auf dem spießbürgerlichen Nachtkastl – das roch zu sehr nach der Welt, aus der sie gerade aufgebrochen war, nach etwas Vertrautem, fast Heimeligem.
Wenn man sich die Einrichtung so ansieht, dachte sie, dann hätte ich es auch mit dem Kurti Mischkulnig von nebenan treiben können. Doch dann verdrängte sie den Gedanken an den Nachbarsjungen ihrer Favoritener Kindheit, der ihr immer unter den Rock hatte greifen wollen, schnell wieder. Sie war kein kleines Mädchen mehr und Georg war nicht der Kurti, aus dem nichts Gescheites geworden war und sicher auch nichts mehr werden würde. Man sollte sich von der Umgebung nicht blenden lassen. Dieser hier, da war sie sich ziemlich sicher, war anders. Und auch sie war anders. Wenn die Freundinnen aus der Schulzeit sie jetzt so sehen könnten! Da lag sie im Bett mit einem Herrn vom Ministerium. Hätte schlimmer kommen können! Zumal er jung und nett und rücksichtsvoll war und seine Sache ja gar nicht mal so schlecht gemacht hatte.
Sie deutete auf das beschmierte Bettlaken. »Was wird wohl deine Wirtin dazu sagen?«
Da fing er an zu lachen, leise und mit für sein Alter ausgesprochen vielen kleinen Lachfältchen um die Augen. »Rausschmeißen wird sie mich«, sagte er, »aber hochkant!«
Sein Lachen war ansteckend. Jetzt, dachte Johanna und betrachtete seine schmale Brust und die freundlichen Maulwurfsaugen, sah er richtig süß aus, ihr Georg vom Ministerium. Sie ließ ihre Hand über seinen Bauch gleiten.
»Komm«, schlug sie vor, »machen wir es noch einmal.«
»Wirklich?«, fragte er ungläubig, aber dennoch hoffnungsvoll.
»Na ja, jetzt ist eh schon alles wurscht, oder?«
1949
Auf dem Heimweg von ihrem ersten Besuch bei Georg hatte sie in der Straßenbahn gesessen und gelächelt. Sie hatte sich vorgestellt, wie er sie am Abend vor ihrem Elternhaus erwarten würde, weil sie an dem Tag keine Vorstellung hatte, einen Blumenstrauß in der Hand, und wie sie vielleicht tanzen gehen würden und der Vater ihnen hinterherrufen würde: »Aber bringen S’ mir des Madl nicht zu spät ham!« Und sie hätte gelacht, weil der Vater so überbesorgt tat und die Mutter ihr Gesicht in Falten zog, dabei war ja ohnehin schon alles geschehen, was hätte geschehen können. Folglich machte sich Johanna keine Sorgen mehr. Warum auch? Das strenge »Wo warst du so lange? Was hast du gemacht?« der Eltern, als sie diesen Morgen nach Hause kam, schmetterte sie mit einem »Nirgendwo« und »Das geht euch gar nichts an!« ab und legte sich erst einmal schlafen. Zu Mittag stand sie auf, briet sich ein paar Spiegeleier auf dem neuen Herd, den sie der Mutter von ihrer Gage als Julia gekauft hatte, und fand sich unheimlich erwachsen.
Und dann hatte er tatsächlich dort gestanden, mit Blumen in der Hand und in einem grauen Anzug mit einer scheußlichen weinroten Krawatte und plötzlich war ihr das Lächeln abhandengekommen. Das war es also, wovon alle braven Mädchen träumten. Nur dass die braven Mädchen nicht zuvor die Nächte mit den Stars des Burgtheaters durchgesoffen hatten und im zerwühlten Bett eines Endzwanzigers mit Hornbrille aufwachten, der im Justizministerium arbeitete und dessen Hauswirtin nicht einmal an die Tür klopfte, sondern gleich das Zimmer betrat. Diesen Gesichtsausdruck würde Johanna nie vergessen, als sie über ihre aufgestellten Beine hinweg in den offenen Mund der Wirtin blickte, die ihrerseits mit großem Entsetzen auf den nackten Hintern des stöhnenden Georg starrte, der, war es Absicht?, sie nicht zu hören schien und einfach weitermachte, nicht innehaltend bis auch Johanna nicht mehr anders konnte und das Bett zur Bühne umfunktionierte. Folglich stöhnte und schrie sie, was das Zeug hielt – und es gefiel ihr. Es gefiel ihr so sehr, dass sie sich selbst bis zum Höhepunkt schrie.
Hinterher zogen sie sich kichernd an und packten Georgs Habseligkeiten in eine Reisetasche und einen Koffer. Dass er auszog, war nur logisch. Niemand sah gerne täglich seiner Wirtin in die Augen, wenn sie einen beim Sex beobachtet hatte.
»Und gehört!«, rief sie ihnen noch nach, als sie schon auf der Straße standen. »Das ganze Viertel hat Sie gehört! Sie Hure!«
Das galt eindeutig Johanna. Die sah daraufhin ihren neuen Begleiter an und fragte: »Was ist eigentlich die männliche Entsprechung für Hure?«
»Sachbearbeiter«, antwortete Georg.
»Nein, das kann nicht sein«, befand Johanna.
»Aber das ist es nun einmal, was ich bin«, hatte er geantwortet und nach Koffer, Reisetasche und Johannas Hand gegriffen, als die Wirtin damit begann, mit Blumentöpfen nach ihnen zu schmeißen. Sie waren so schnell gerannt, wie sie konnten, bis sie an der nächsten Straßenecke vor lauter Lachen nicht mehr weiterkamen.
»Wohin gehst du denn jetzt?«, wollte Johanna wissen.
»Ich such mir eine Pension«, sagte Georg und küsste sie noch einmal leidenschaftlich auf den Mund. »Wird sich schon was finden.«
Was sich fand, war Johannas Hand in seiner und ein paar Augen, die nicht voneinander lassen wollten. Aber dann kam die Sonne über die Schindeln des Hauses gegenüber der Straßenecke gekrochen, blendete sie beide und brach so ihren Blick. Also verabschiedeten sie sich voneinander mit dem Versprechen, sich am Abend wiederzusehen.
Nun stand er da, in der elterlichen Küche, die gleichzeitig das Bad war, und ihr armer grauer Vater hielt ihm seine vom Krieg zitternde Hand entgegen und wusste nicht recht, was er sagen oder tun sollte. Also strich der Vater sich über das abgestoßene Jackett, das er übergeworfen hatte, und fühlte sich so fehl am Platz, wie er es nur sein konnte, als wäre er nicht der Herr über die zweieinhalb Zimmer mit enger Küche und dem Klo am Gang. Er hatte nie seinen Platz im Leben gefunden, er hatte nur akzeptiert, dass er nach dem Krieg keinen besseren Platz finden würde als den in der Quellenstraße Nummer 112. Anton Jedlicka, ehemaliger Gießer, nun Kriegsversehrter, mit einem halben rechten Bein und einem Tremor in der linken Hand, verheiratet, Vater einer Tochter – das war er. Das war vielleicht nicht viel, aber immerhin so etwas wie ein Leben, eine Existenz. Dafür durfte man sich schämen oder es lassen, ganz wie man wollte, aber aufgeben tat man es dennoch nicht, dieses Leben. Nicht wie so viele andere, die nach dem Krieg aufgegeben oder alles verdrängt und von vorne angefangen hatten, was auf dasselbe hinauskam. Er, Anton Jedlicka, war noch da. Und nun stand dieser junge Mann hier