Johanna spielt das Leben. Susanne Falk
er nach ihren Schuhen und stellte sie leise auf dem Boden ab. Genauso sanft und entschlossen griff sie mit ihren freien Händen nun nach seiner Brille und zog sie ihm von der Nase, klappte sie zusammen und legte sie auf dem Nachttischchen ab.
Langsam, ganz langsam beugte er sich vor und suchte mit den Lippen ihren Mund. Sein Kuss war warm und zart und angenehm und sie ließ sich ausgesprochen gerne küssen. Offensichtlich wusste er, was er da tat. Folglich küssten sie sich eine ganze Weile, bis sie schließlich fand, es könne jetzt die nächste Stufe erklommen werden und sie ihm zuflüsterte: »Vielleicht sollten Sie Ihren Mantel ausziehen.«
»Ja«, sagte er, »das habe ich mir auch schon gedacht. Ist ja auch etwas heiß hier herinnen.«
Er stand auf, öffnete die Knöpfe seines Mantels und in diesem Moment rutschte das Programm der heutigen Aufführung aus der Manteltasche und fiel zu Boden. Kabale und Liebe, konnte Johanna im Schein der Straßenlaterne, die in das dunkle Zimmer schien, lesen. Darunter standen die Namen der Darsteller, auch der ihre: Johanna Jedlicka als Luise Miller.
Auch er sah auf das Programm auf dem Boden, hob es hastig auf und drehte es dann etwas verlegen in seinen Händen.
»Ich hoffe, Sie denken nicht, dass ich mit Ihnen nur … also, weil Sie doch ein Star sind.«
»Nein«, sagte sie, »das denke ich bestimmt nicht.« Sie hielt sich außerdem nicht für einen Star. Noch nicht.
»Sie sind einfach nur wunderschön«, brach es aus ihm hervor.
Das war der Moment, in dem sie endgültig das Ruder übernahm, aufstand, den einen Schritt zu ihm machte, ihm das Programm aus der Hand nahm, es erneut auf den Boden fallen ließ und ihm, während sie ihn küsste, den Mantel auszog.
1961
»Sie können Ihren Mantel gerne hier hinhängen«, deutete ihr die Sekretärin. »Es wird noch eine Weile dauern, bis ich Sie zum Herrn Direktor vorlassen kann.«
Johanna nickte ergeben. Sie wusste, dass es an dem Fräulein Schmid kein Vorbeikommen gab. Direktor Haeusserman verließ sich voll und ganz auf seine Vorzimmerdame, die wahnsinnige Regisseure genauso von ihm abzuhalten hatte wie nicht minder wahnsinnige Schauspieler, Bühnen- oder Maskenbildner. Ihr streng in Wellen gelegtes Haar konnte quasi dank seiner Sprungkraft unliebsame Besucher hinausbefördern und ihr strenger Blick ließ das Ego exzentrischer Darsteller auf die Größe des Selbstbewusstseins unwichtiger Komparsen schrumpfen. Ganz zu schweigen von dem, was sie mit dem Unterrichtsminister jüngst aufgeführt hatte, der, gefragt, ob er sich nicht setzen wolle, während er auf den Herrn Direktor wartete, dies großspurig abgelehnt hatte und dafür mit einer zusätzlichen Wartezeit von nicht weniger als fünfzehn Minuten bestraft wurde. In diesen fünfzehn Minuten hatte sie ihn so durchdringend und wissend durch ihre konkaven Brillengläser hindurch gemustert, dass er schließlich nach und nach innerlich zusammenbrach, fühlte er doch, dass all sein Selbst, all das mit Lügen und Großspurigkeit zusammengezimmerte Etwas, das seinen Namen, Hut und Mantel trug, vor dem Blick dieser Frau nicht bestehen konnte. Sie wusste alles! Die langen Nächte in den Bars in Begleitung zweifelhafter Gesellschaft, die teure Armbanduhr auf Staatskosten und dass er den Geburtstag seiner Mutter neulich vergessen hatte. Nach einer Viertelstunde des Angestarrtwerdens durch das Fräulein Schmid war der Herr Minister so weichgekocht, dass er Haeusserman eine Etataufstockung bewilligte, die weit über das hinausging, was Haeusserman ursprünglich von ihm fordern hatte wollen.
Also setzte sich Johanna auf den Stuhl, den der Minister verweigert hatte, und wartete. Sie wartete und wartete und im Kopf rechnete sie die Stunden und Minuten zusammen, die sie brauchen würde, um das Kind wieder abzuholen und heimzubringen und so zu tun, als wäre sie gar nicht wirklich fort gewesen, als hätte sie dieses Gebäude nie betreten und nicht im Vorzimmer vom Haeusserman gesessen und gehofft und gewartet und jedes Mal, wenn die Tür kurz aufging, weil das Fräulein Schmid dem Herrn Direktor Kaffee oder Unterlagen oder die Post bringen musste, sie seine Stimme hören konnte und ängstlich jede Stimmungsnuance aufnahm, um sie zu analysieren. War der Herr Direktor in guter Stimmung? War er ungehalten? Eigentlich war Haeusserman stets ungehalten und dennoch in guter Stimmung, jedenfalls ließ sich sein Unmut selten am Klang seiner Stimme ablesen, so viel wusste Johanna immerhin. Wollte man wissen, wie es dem Direktor ging, musste man sehen, wo er seine Brille trug. Lag sie auf der Nase, war er konzentriert. Hatte er sie ins langsam immer spärlichere Haar geschoben, war er noch konzentrierter, weil er dann nichts zwischen sich und seinen Papieren haben wollte, nicht einmal ein Stückchen Brillenglas. Und lag die Brille gar neben ihm auf dem Schreibtisch und er schloss beim Zuhören die Augen, dann hatte man beinahe schon gewonnen, denn dann hatte der Herr Direktor Zeit und Muße, wirklich zuzuhören.
All das konnte Johanna natürlich nicht sehen und deshalb klammerte sie sich an die sanfte Stimme Haeussermans, die, gleich ob sie einen nun lobte oder in die Hölle hinabstieß, immer denselben liebenswerten Klang aufwies. Es war zum Verrücktwerden!
»Sie können jetzt hineingehen«, sagte das Fräulein und zeigte dabei so wenig Zähne wie nur möglich. Lächelte die eigentlich nie?
Johanna holte tief Luft, stand von ihrem Stuhl auf und schritt durch die schmale, gepolsterte Tür hindurch in Haeussermans Büro. Der begrüßte sie mit einem freundlichen Händedruck, bei dem er sich halb von seinem Stuhl hinterm Schreibtisch erhob und sie bat, Platz zu nehmen. Dann griff er nach seiner Brille, nahm sie vom Kopf und legte sie neben den Telefonapparat. Johanna starrte die Brille an und ihr Herz begann wild zu schlagen.
1949
Die Brille war das, woran sie sich am deutlichsten erinnern konnte. Nicht das Quietschen des alten Bettes, nicht das leichte Schwingen der Gardine im Takt ihrer beider Körper, nicht die Nachttischlampe mit dem angeschlagenen grünen Lampenschirm – es war die Brille auf dem Nachtkästchen, an die sie sich erinnern würde, wenn sie später an ihr erstes Mal zurückdachte.
Da lag es, dieses Ungetüm, und schaute sie beide mit blinden Augen an, wie sie sich nach und nach entkleideten und er dann nackt auf ihr zu liegen kam. Sie hätte sich sehr gewünscht, jemand hätte das ganze von Außen choreografiert, wie ein Regisseur, denn weder er noch sie schienen genau zu wissen, wo welcher Arm oder welches Bein genau hingehörten. Alles wirkte so ungelenk und hilflos, bis er endlich die richtige Position zwischen ihren Beinen gefunden hatte, und selbst dann zögerte er noch, als er auf Widerstand stieß, von dem sie erwartete, dass er ihn schnellstmöglich überwinden möge. Aber auch das dauerte eine ganze Weile und war zudem recht schmerzhaft, was er mit vielen Küssen und leise dahingeflüsterten Worten wiedergutzumachen versuchte. Doch irgendwann hörten auch die Küsse und die Worte auf und Johanna vernahm nur noch ihrer beider Keuchen und das Knirschen des Bettes, als er sich rhythmisch in ihr bewegte.
Das alles kam ihr vor wie ein Film, ein Kinofilm auf besonders kleiner Leinwand, denn sie konnte sie beide die ganze Zeit über beobachten, wie sich ihre Nacktheit und ihre Bewegungen und sein Zittern beim Höhepunkt in den Brillengläsern auf dem Nachttisch spiegelten. Johanna hatte noch nie einen Erotikfilm gesehen, so war also auch das eine Premiere für sie und sie fand das Bild ihrer Brüste und seiner Hände darauf um ein Vielfaches aufregender und lustvoller als das, was sie tatsächlich miteinander taten. So blieb das Bild in ihr lebendig, während sich ihre Körper schon längst wieder voneinander gelöst hatten und nun nebeneinanderlagen. Georg fischte nach einer kleinen Flasche Cognac, die er im Nachtkästchen versteckt hatte.
»Magst du einen Schluck?«, fragte er sie.
Offensichtlich, so ging es Johanna durch den Kopf, hatten sie mit ihren Kleidern auch alle Sprachbarrieren abgelegt und duzten einander nun.
»Ja«, sagte sie, nahm die Flasche und trank einen Schluck daraus. Das heiße Brennen in Hals und Speiseröhre tat ihr wohl, anders als das Brennen zwischen ihren Beinen. Dann reichte sie die Flasche an ihn zurück.
»Ich hätte nicht gedacht …«, begann er und brach dann seinen Satz einfach ab. Verlegen drehte er die Cognacflasche in seinen Händen.
»Was hättest du nicht gedacht?«
»Dass