Johanna spielt das Leben. Susanne Falk
auf eine Viertelstunde pro Tag. Der Rest war Johannas Sache.
»Wir hatten eine Abmachung«, erinnerte er sie, »und die hieß: kein Kindermädchen! Drei Jahre lang.«
Da riss ihr der Geduldsfaden. Irgendetwas setzte aus und das Nächste, was sie wahrnahm, war das Zersplittern des Porzellans, als die Mutter-Tochter-Statuette, die er ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte, an der Zimmerwand zerbarst. Und alles, was er dazu zu sagen hatte, war: »Du musst auch aus allem eine Szene machen.« Dann verließ er, die verschreckte und brüllende Lore auf dem Arm, die die Szene von der Gehschule aus beobachtet hatte, wortlos das Zimmer. Johanna aber holte ihn nicht zurück. Stattdessen nahm sie den Besen aus dem Schrank, um die Scherben aufzufegen. Natürlich hätte sie die Haushälterin bitten können, dies zu tun. Aber solange sie fegte, kümmerte er sich um Lore und solange sie sich nicht um Lore kümmern musste, würde sie weiter fegen – und sollte es auch eine Stunde dauern. Oder zwei. Oder die nächsten sechsundzwanzig Monate lang.
Später am Abend, als das Kind schon schlief und sie sich selbst fürs Bett fertig machte, konnte sie seine Stimme aus dem Arbeitszimmer hören. Es klang, als wäre er am Telefon.
»Nein, ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist … Ja, ich sage es dir doch: Ein Rums und das Ding war hin! … Könnte schon sein. Du meinst, ich soll Dr. Rudloff kommen lassen? … Nein, das würde sie nie … Andererseits ist sie in letzter Zeit so komisch mit unserer Lore …«
Da hatte sie bereits mehr gehört, als sie wollte. Und auch mehr, als sie verkraften konnte. Kaum hatte er am nächsten Morgen das Haus verlassen, packte sie ein paar Kindersachen zusammen, hängte sich eine Tasche um, schnappte sich Lore und balancierte Kind und Gepäck zur nächsten Straßenbahnhaltestelle. Es würde Zeit kosten, aber es war ja noch früh. Und sie hatte keine Ahnung, wo sie das Kind sonst lassen sollte, also fuhr sie den ganzen Weg nach Favoriten und klingelte schließlich in der Quellenstraße 112 auf Tür Nummer 8.
Die Mutter war nicht da. Unter der Woche putzte sie oft bei wohlhabenden Leuten in Simmering. Der Vater steckte wer weiß wo. Aber Mitzi war da.
Niemand hatte Johanna erzählt, wann es angefangen hatte, aber sie kannte die Geschichte, in der Tante Mitzi, die ältere Schwester ihrer Mutter, eines Tages nackt auf den Treppen von Maria am Gestade aufgegriffen wurde, als sie mit ihrer Kleidung die Treppen scheuerte. Danach verbrachte sie Monate auf dem Steinhof und wurde entlassen, ohne geheilt zu sein. Man versuchte alles. Sogar der berühmte Doktor in der Berggasse, der in die Seelen der Leute blicken konnte, wurde bemüht. Ein Arzt der Tante hatte sich für eine Konsultation bei Freud starkgemacht und sie schließlich arrangiert. Danach trat zwar zeitweilige Besserung ein, als jedoch der März 1938 kam, ging der Spuk von vorne los und Mitzi, die stets singende, immer fröhliche Irre, geriet in die Fänge der Nazis. Ein Onkel des Vaters, ein illegaler Anhänger der Deutschnationalen, machte sich schließlich für ihre Freilassung stark und so stand sie eines Tages plötzlich wieder da, in der Quellenstraße Nummer 112, sprach kein Wort mehr und hörte über Monate nicht mehr auf zu zittern, es sei denn, die kleine Johanna legte sich zur Tante ins Bett und drückte sie fest an sich.
So blieb es. Das junge Paar, Johannas Eltern, rückte zusammen und die Tante zog in das winzige Kabinett neben dem Wohnzimmer ein, in dem auch Johanna schlief. Als die Bomben auf Wien fielen, war es Mitzi, die Johanna an der Hand in den sicheren Keller führte, und es war Mitzi, die, Gott weiß woher, Essen für das Kind besorgte, als nichts zu bekommen war. Wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, dem Johanna bedingungslos vertraute, dann war es ihre stumme, verrückte Tante.
Sie drückte der lächelnden Mitzi ihre kleine Tochter in den Arm, dazu die Tasche mit den Windeln, die auch eine Dose mit vorgekochtem Milchbrei enthielt, den die Haushälterin am Morgen gemacht hatte.
Johanna nahm Mitzis fahles Gesicht mit den unruhigen Augen zwischen ihre Hände und sagte eindringlich: »Ich muss für ein paar Stunden weg. Aber ich bin bis zum Nachmittag zurück. Pass bitte auf Lore auf! Schaffst du das?«
Mitzi nickte so heftig, dass ihre grauen Locken vor- und zurückschlugen und sie beinahe das schlafende Kind geweckt hätte. Johanna küsste Tante Mitzi kurz auf die Stirn, rannte dann aus der Wohnung, die Treppe hinunter und eilte aus dem Haus.
1961
Sie hatte das grüne Kostüm angezogen, nicht etwa weil es ihr gut stand, sondern weil es teuer war. Sie wollte nicht so aussehen, als hätte sie es nötig, um ein Engagement zu betteln. Aber natürlich war es so. Nur ging es nicht um Geld.
Zu klein durfte die Rolle nicht sein, denn das hätte einen klaren Abstieg bedeutet. Wer einmal Julia und Luise Miller gewesen war, der schlüpfte nicht so einfach in das Kostüm von Dienstmädchen Nummer zwei. Und wer behauptete, es gebe keine kleinen Rollen, der hatte noch nie versucht, seinem Dasein als Mutter zu entfliehen unter dem Hinweis auf die unabdingbare Anwesenheit seiner selbst bei den Proben eines Tschechow-Stücks. Auf das Dienstmädchen Nummer zwei konnte man bei Proben ohne Weiteres verzichten, auf die weibliche Hauptrolle schon viel weniger. Und er würde sie nur gehen lassen, wenn die Rolle wichtig war. Wenn überhaupt.
Die Handschuhe störten sie. Das Kind hatte sie vollgeschmiert mit ihre ewigen Rotznase und nun sahen sie nicht mehr blütenrein aus. Außerdem klebte der Dreck Favoritens an ihnen. Sie hätte das Kind doch bei der Haushälterin lassen sollen. Aber dann wäre es nicht mehr möglich gewesen zu verschweigen, was sie zu tun beabsichtigte, und wenn es ein Misserfolg wurde, dann wäre auch dieser bald herausgekommen und das hätte das Ende aller Ambitionen bedeutet. Er durfte nicht wissen, was sie tat, mit wem sie sich traf, wohin sie wollte und was sie plante. Nicht bevor sie eine Zusage in der Tasche hatte.
Sie sah erneut auf ihre dreckigen Handschuhe, drehte sie hin und her, zog sie schließlich aus und stopfte sie in ihre Handtasche. Noch drei Straßenbahnstationen, dann war sie da. Tief Luft holen, Johanna. Es wird schon alles gut gehen. Es musste einfach gut gehen. Und wieso auch nicht? Das konnte sie doch, andere überzeugen. Das war schließlich ihr Beruf. Vielleicht war sie keine selbstbewusste Theaterdiva, die sich ein neues Engagement erkämpfte, aber sie konnte eine spielen. Brust raus, Luft holen, aussteigen. Sie war da.
Die letzten Monate hatte sich alles nur um das Kind gedreht. Und nun sollte es sich einzig und allein um sie drehen. Es war ihr Augenblick, ihr Auftritt, und den wollte sie genießen. Er würde nicht lange dauern und dann ging es zurück nach Döbling in die Villa, heim zu Mann und Kind und Gummibaum und zu einem Leben, das sie freiwillig gewählt hatte und dennoch nicht wollte.
1949
»Vielleicht sollten wir heiraten«, hatte er gesagt.
Nein, eigentlich war das nicht der Anfang der Geschichte. Es begann viel, viel früher, mit einem weinseligen Abend im Gössinger. Da hatten sie sich alle nach der offiziellen Premierenfeier eingefunden, um noch ein wenig auf den abendlichen Triumph anzustoßen, Kabale und Liebe, und sie, Johanna Jedlicka aus Favoriten, war die gefeierte Luise Miller. Im zarten Alter von knapp neunzehn Jahren war das nach Romeo und Julia bereits ihr zweiter großer Erfolg an der Burg, die nicht die Burg, sondern das Ronacher war, und vor Johanna lag eine rosige Zukunft als junge Naive. Das war in der Tat ein guter Grund, mit den Kollegen anzustoßen, und so floss der Veltliner aus großen Dopplerflaschen und die Stimmung war ausgelassen. Es wurde zugeprostet und gesungen, was das Zeug hielt, und lautstark deklamierte man die besten Stellen des Stückes, um sich daran zu erinnern, dass man gerade der Welt nichts weniger als wahre Kunst geboten hatte.
»Ihr Theatervolk«, raunzte der Wirt, setzte dabei aber ein zufriedenes Lächeln auf und schenkte munter weiter aus, »ihr könnt’s feiern! Aber seid’s net gar so laut. Ich bitt euch!«
In diesem ganzen Durcheinander aus prostenden und rauchenden Herren und wenigen Damen saß also Johanna, still lächelnd, und nippte an ihrem sauren Achterl, als sich zwei junge Männer an den Nebentisch setzten und voller Neugierde zu der Schauspieltruppe hinüberschauten.
»Na, was glotzt ihr so?«, wollte der äußerst gut gelaunte und nicht weniger betrunkene Oskar Werner von den jungen Männern wissen. Einer von