Herbst der Amateure. Jürgen Petschull

Herbst der Amateure - Jürgen Petschull


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er von der aktuellen Entwicklung in der DDR halte? Wie lange könne das Honecker-Regime wohl noch durchhalten, bei dieser Flüchtlingswelle und bei den wachsenden Protesten im Lande? Und wie das überhaupt mit Deutschland und in Europa weitergehen solle?

      »Warum sind Sie in Langley eingestiegen?« fragte der Ältere.

      »Weil mich einer dieser CIA-Anwerber dazu überredet hat, als ich mein Jurastudium in Stanford beendet und keine Lust hatte, mich ein Leben lang mit Paragraphen herumzuschlagen. Es war das Übliche: ein bißchen Abenteuerlust, ein bißchen Patriotismus, überwiegend Neugier.«

      Dillon schien mit der Antwort unzufrieden. Er begann, über sich zu reden.

      »Ich war ein glühender Patriot, einer von diesen Idioten, die ihrem Land unbedingt dienen wollen. Erinnern Sie sich an den Satz von John F. Kennedy ›Fragt nicht immer, was euer Land für euch tun kann – fragt euch, was ihr für euer Land tun könnt‹? Ich wollte etwas für mein Land tun, und der Geheimdienst, der Kampf gegen die unsichtbaren Feinde unserer Gesellschaft entsprach meinen Ideen und Neigungen ... Ja, ich habe tatsächlich geglaubt, daß wir die Fahne der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte in die Welt tragen müßten, daß wir Amerikaner das auserwählte Volk seien, daß wir als Weltpolizisten das Recht haben, uns überall einzumischen. Wir von der CIA – kämpften wir nicht an vorderster, dunkler Front? War die Drecksarbeit, die wir machten, nicht ganz im Sinne einer höheren Gerechtigkeit, um nicht zu sagen: Des lieben Gottes ...« Dillon redete sich in Rage.

      Ingham sah beunruhigt, daß er wieder zur Flasche greifen wollte, um nachzuschenken, aber Dillon brach die Bewegung ab und redete weiter.

      »Und dann kam Vietnam und unser Versagen im Iran und der schmutzige Krieg gegen die Sandinistas in Nicaragua und der Bombenangriff auf Libyen und schließlich die Iran-Contra-Affäre ... Mein Patriotismus wurde immer dünner, bis er sich ganz aufzulösen schien.«

      Dillon machte eine Pause, holte tief Luft und sagte: »Weiß der liebe Gott oder der Teufel warum, manchmal glaube ich aber noch immer an unsere alten amerikanischen Freiheitsideale: an unsere Geschichte, an unser Land, an unser ›Vaterland‹, wie die Deutschen sagen ...«

      Draußen ging die Sonne hinter den hohen Kiefern unter, und der Sensor an der Hauswand schaltete automatisch das Außenlicht ein. Im Halbdunkel konnten sie ihre Gesichter kaum noch sehen. Schließlich unterbrach Ingham Dillons Monolog und fragte, ob man ihm bereits am Telefon gesagt habe, was er eigentlich von ihm wolle.

      »Keine Ahnung«, sagte Dillon, »vielleicht sollen Sie mir mitteilen, daß meine Rente erhöht wird.«

      »Das könnte möglich sein«, sagte Ingham, »aber vielleicht könnten Sie den alten Ärger verdrängen und vorher Ihrem Land wieder mal einen Dienst erweisen ...«

      »Nein«, sagte Dillon abrupt, »ich arbeite nie wieder für die CIA! Und dabei bleibt es!«

      »Nicht für die Firma«, sagte Ingham schnell, »sondern direkt für das Weiße Haus – für den Präsidenten persönlich, wenn Sie so wollen.«

      Er holte den Umschlag aus seinem Pilotenköfferchen und reichte ihn über den Tisch. Ingham schaltete eine Lampe ein und blinzelte erstaunt, als er das Siegel sah. Er holte einen Dosenöffner vom Tresen der Pantryküche und schlitzte damit den Umschlag umständlich auf. Er las den kurzen Brief. Ingham beobachtete, wie sich ein ungläubiger Ausdruck auf seinem Gesicht abzeichnete, der schließlich in ein Grinsen überging, das an den Mundwinkeln begann und an den Augenwinkeln auslief.

      »Gute Arbeit von der Dokumentenabteilung«, sagte Dillon, »macht einen ziemlich echten Eindruck!«

      »Der Brief ist echt! Ich war dabei, als der Präsident ihn heute morgen geschrieben hat. Der Sicherheitsberater auch!«

      Dillon grinste noch ein bißchen breiter.

      Ingham fragte, ob er mal telefonieren könne. Er schaltete den Lautsprecher des Telefons ein, wählte die Nummer des Weißen Hauses und ließ sich von der Zentrale mit der Sekretärin von Brent Scowcroft verbinden. Erst als er es dringend machte, stellte sie zum Chef durch, der gerade eine Besprechung hatte.

      Ingham erklärte, er sei gerade bei Henrik C. Dillon zu Hause, und es gebe gewisse Probleme wegen des Präsidenten-Briefes. Schließlich sprach Scowcroft selber mit Dillon und erklärte ihm, daß alles seine Richtigkeit habe. Dillon war verblüfft. So etwas sei ihm noch nicht passiert, sagte er. »Ein Brief vom Präsidenten ...«

      Er faltete das Schreiben und legte es in die Gartenteich-Broschüre zwischen die Seiten über die Ringelnatter und machte zum zweitenmal zwei Martinis ohne Oliven. Nach einer längeren Pause stieß er unvermittelt mit Ingham an. »Dann erzähl mal, was ihr für Sorgen habt, Don ...«

      Donald Ingham berichtete von dem verschwundenen SDI-Wissenschaftler Peter Rosenblatt, sprach von dem Verdacht, der Mann könne in den Osten überlaufen oder sogar ein vom Osten eingesetzter Agent sein. Er breitete Fotos von Rosenblatt auf dem Glastisch aus. Die Bilder zeigten den Forscher als Studenten in einem Labor des Massachusetts Institute of Technology in Boston, an einem Computer und vor einer Maschine, die wie ein gigantischer Schiffsdiesel aussah. Rosenblatt vor der Nova-Laser-Versuchsanlage in Livermore stand auf der Rückseite. Das letzte Foto zeigte den jungen Mann auf dem unterirdischen Atomwaffen-Versuchsgelände in der Wüste von Nevada, wo sich armdicke Meßkabel wie Riesenspaghetti auf einem Teller schlängelten. Er hielt irgendein Meßinstrument in der Hand und blickte ernst, wie auf den anderen Bildern auch.

      Dillon betrachtete ihn mit dem Interesse eines Schmetterlingssammlers, der ein besonderes Exemplar vor sich hat.

      »Sieht sympathisch aus, der junge Mann«, sagte er, »scheint einer dieser introvertierten Wissenschaftler-Typen zu sein.«

      Ingham nickte und berichtete von den ersten Ermittlungen der westdeutschen Kriminalpolizei und der CIA-Residenten in der Bundesrepublik: von der leeren Motorjacht mit den Blutspuren in Niedersachsen, von der Vernehmung seiner neuen Freundin, einer Fernsehjournalistin.

      »Ist die Dame überprüft worden, ob die möglicherweise für die andere Seite arbeitet?« warf Dillon ein.

      Dafür gebe es nach den ihm vorliegenden Berichten bisher keine Anhaltspunkte, antwortete Ingham. Er erzählte von der merkwürdigen Tonbandaufnahme mit Rosenblatts Stimme. Das Band sei inzwischen von CIA-Experten in Frankfurt ausgewertet und von Psychologen begutachtet worden. »Rosenblatt«, so zitierte Ingham aus den Berichten, »ist möglicherweise psychisch erkrankt. Es scheint, als ob seine moralisch-geistigen Koordinaten durcheinander geraten sind. Besonders beunruhige eine etwas wirre Sequenz auf dem Tonband: wo die Guten einen Krieg anfangen, um das Böse auf der Welt endgültig zu besiegen und dadurch selbst zu den Bösen würden.

      Ingham überschlug einen Teil und kam zum Resümee der Analyse: »Auf dem Tonband ist offenbar unter dem Einfluß von Alkohol und in einer besonderen Atmosphäre Rosenblatts Seelenlage deutlich geworden. Er hat unterdrückte Gedanken ausgesprochen, wenn auch in einer verschwommenen, bildnishaften Form ...«

      »Psychologen-Quatsch«, warf Dillon ein.

      »... falls der Vermißte noch lebt und nicht Suizid begangen hat oder einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist, sondern, was naheliegender sei, an Bord des Boots durch Blutspuren und andere ausgelegte Hinweise einen Selbstmord beziehungsweise ein Gewaltverbrechen vorgetäuscht hat, um seine Flucht zu tarnen«, fuhr Ingham fort, »so spricht manches dafür, daß er sich in den Osten absetzen wolle.«

      Ingham zitierte den Schlußsatz des Berichtes: »Es wird von hier aus dringend empfohlen, zu überprüfen, ob Rosenblatt möglicherweise nicht schon längere Zeit für den Gegner gearbeitet hat, ob er ein Maulwurf gewesen ist.«

      Dillon stellte sein Glas hart auf den Tisch.

      Er stand auf und ging zu seiner Bücherwand, die von gebundenen Bänden, von ungeordneten Aktenordnern und gehefteten Papieren überquoll. Nach einer Weile fand er, was er suchte.

      »Es gab«, sagte er, ohne aufzublicken, »Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre in Los Alamos einen Nuklearwissenschaftler, der bei der Entwicklung der H-Bombe mit Oppenheimer und Teller zusammengearbeitet


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