Herbst der Amateure. Jürgen Petschull

Herbst der Amateure - Jürgen Petschull


Скачать книгу
Kriegsende geboren, aber in seinem eigenen Lande herrsche noch immer Besatzungsrecht, man solle sich da nichts vormachen, das sei in der Bundesrepublik keinen Deut besser als in der von Sowjettruppen besetzten DDR.

      »Wir sind kein souveräner Rechtsstaat, sondern eine amerikanische Kolonie! Da habe ich einen Fall direkt vor meiner eigenen Haustür, und da kommt ein gewisser Bernie Greenberg, aus Michigan oder Iowa oder wo du herstammst, mit zwei merkwürdigen Landsleuten und nimmt mir den Fall weg! Einfach so ... als sei das die selbstverständlichste Sache der westlichen Welt ...!« Lohmer redete sich in Rage. »Eure Politiker und eure Propagandaleute wollen uns seit Kriegsende einreden, wir seien eure demokratischen Partner, eure Freunde – in Wahrheit sind wir eure nützlichen Idioten in der NATO, euer Abladeplatz für Raketen und Atomsprengköpfe und diesen ganzen Scheiß und der Absatzmarkt für Coca Cola und Hamburger ...«

      Greenberg sah seinen deutschen Kollegen mit halboffenem Mund an. Eine Chesterfield glimmte zwischen seinen Lippen. Schließlich nahm er die Zigarette heraus und schnippte die Asche auf den Linoleumboden.

      »Wenn ich nicht wüßte, daß du sonst ein prima Kerl bist, würde ich sagen: Du redest wie ein verdammter Kommunist!«

      »Na und ...? Vielleicht haben die ja recht! Wenigstens in dieser Hinsicht!«

      Lohmer schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung. Genau auf das Bild des verschwundenen Amerikaners.

      4

      Montag, 2. Oktober 1989

      Der auffallend blasse junge Mann nahm sich drei Bananen aus einer der Kisten, die der Gemüsehändler schon am Morgen vor seinen kleinen Laden neben dem feinen Willard-Hotel in Washington gestellt hatte. Donald Ingham ließ sich auf einen Dollar zehn Cent herausgeben. Er hatte noch nichts gegessen, aber zuviel geraucht und zuviel Kaffee getrunken. Seine Augen waren gerötet. Sein Magen knurrte immer häufiger. Ingham hoffte, das peinliche Geräusch durch den Verzehr der Südfrüchte so lange unterdrücken zu können, bis er das Oval Office wieder verlassen würde.

      Natürlich hätte er auch eines der Büromädchen zum Einkaufen schicken können, aber er hatte die Nacht durchgearbeitet und wollte noch frische Luft schnappen an diesem milden Indian-Summer-Tag, an dem sich ein blaßblauer Himmel wolkenlos über der amerikanischen Hauptstadt wölbte. Ingham ging am Schatzministerium vorüber, das er früher wegen der gewaltigen Eingangssäulen für ein neoklassizistisches Theater gehalten hatte und spazierte mit den Bananen in der Hand an dem drei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun an der Ostseite des Weißen Hauses entlang. Eine endlose Schlange von Menschen wartete hier bereits auf Einlaß in jenen Teil des vierstöckigen Präsidentensitzes, dessen Ostflügel wochentags zur Besichtigung für das Volk freigegeben wird. Keiner der Touristen, die an diesem prächtigen Herbstmorgen durch Washington spazierten, wäre auf die Idee gekommen, daß der junge Mann, der noch mitten auf dem Hamilton Plaza in die erste Banane biß, in gut einer halben Stunde eine Verabredung mit dem amerikanischen Präsidenten haben würde.

      Aus den Lautsprechern, die hinter dem Zaun unter Büschen versteckt sind, klang Marschmusik, gespielt von der Bigband der US-Navy. Im Lafayette Park sonnten sich ein paar Dutzend Jugendliche, meist politisch links engagierte Demonstranten, hinter ihren Schildern und Spruchbändern: »Hände weg von Panama« – »CIA raus aus Nicaragua!« – »Freiheit für das palästinensische Volk!«

      An der Ecke Pennsylvania Avenue und Jackson Place rempelte Ingham aus Versehen eine farbige Bettlerin an, die ihre Habseligkeiten in einem blauen Müllsack hinter sich herschleifte. Die Frau schlug nach ihm und fluchte laut. Ingham murmelte eine Entschuldigung und flüchtete schnell durch das schmiedeeiserne, hohe Gittertor zum Old Executive Office Building. Er eilte die Treppen zum Eingang hinauf und warf dabei die Schale der dritten Banane in einen Papierkorb. Einer der Sicherheitsbeamten beobachtete ihn mißtrauisch, trat hinter einer der Doppelsäulen hervor und kam auf ihn zu. Die Kontrolleure wechselten aus Sicherheitsgründen häufig, so daß sich sogar die Altgedienten unter den 1600 Mitarbeitern des Hauses jedesmal ausweisen mußten. Ingham klappte sein rostfarbenes Jackett zurück. Er hatte seinen Office Pass an der Brusttasche seines Hemdes befestigt.

      Der uniformierte Türwächter trat nah an ihn heran, um das Paßbild zu betrachten. Auf dem eingeschweißten Farbfoto hatte Ingham eine verblüffende Ähnlichkeit mit seinem irischen Großvater Murray Ingham aus Ballyshannon: kleingelockte, rötliche Haare, vorn schon ein wenig ausgedünnt, kantige Wangenknochen, schmaler Mund, massive Kinnpartie. Sogar die dick verglaste, rundliche Brille des gelernten Juristen (mit erstklassigem Examen von der Yale University) glich der seines Vorfahren, der sich in einem Stahlwerk in Pittsburgh zu Tode geschuftet hatte.

      Nach einer Sekretärin mit dünnen Stöckelschuhen und dicken Hüften wurde Ingham in der Röntgenschranke durchleuchtet, legte Hartgeld und Schlüssel ab und ließ sich mit dem Metalldetektor abtasten. Schließlich durfte der Special Assistent des Sicherheitsberaters des amerikanischen Präsidenten über den roten Marmorflur, in dem es nach einem scharfen Fußboden-Reinigungsmittel roch, in sein winziges, altmodisch möbliertes Büro in den ersten Stock gehen. Er öffnete die durch ein Schloß mit Zahlencode gesicherte Tür. Auf seinem Schreibtisch lagen die liberale Washington Post und die konservative Washington Times. Ingham überflog die Schlagzeilen. Beide Blätter berichteten auf der ersten Seite über die dramatische Entwicklung in Deutschland: 7000 Bürger aus der Deutschen Demokratischen Republik, die in die Prager Botschaft der Bundesrepublik geflüchtet waren, durften gestern nach zähen Verhandlungen des westdeutschen Außenministers Genscher mit Sonderzügen in den Westen ausreisen. Über einem Foto von jubelnden, sich umarmenden Deutschen aus Ost und West auf einem Grenzbahnhof in der Bundesrepublik stand: »Der Zug in die Freiheit ist nicht aufzuhalten.« Ingham schob die Zeitungen zur Seite und nahm die Unterlagen, die er in einer Klarsichthülle auf seinem Schreibtisch bereitgelegt hatte. Oben links prangte ein roter Stempel: Top Secret. Darunter stand: »Peter Rosenblatt, SDI-Wissenschaftler, Lawrence Livermore National Laboratory.«

      Donald Ingham hatte sich auf das Gespräch beim Präsidenten sorgfältig vorbereitet, jedenfalls so gut, wie das innerhalb eines halben Tages und einer Nacht möglich gewesen war. Sein Chef Brent Scowcroft, der Berater des Präsidenten für Fragen der nationalen Sicherheit, hatte ihn sehr kurzfristig mit diesem Fall beauftragt und ihn gebeten, die Fakten im Oval Office selbst vorzutragen. Er blickte in den Spiegel über dem kleinen Handwaschbecken in der Ecke seines Zimmers, fand, daß er schlecht aussah, kämmte sich, zog seine Krawatte hoch und tröpfelte ein paar Tropfen in die durch Übermüdung und Zigarettenqualm schon stark geröteten Augen. Die Bananen wirkten. Sein Magenknurren hatte tatsächlich aufgehört. Der Assistent des Sicherheitsberaters spürte nur noch ein leichtes Drücken, aber das konnte auch die Nervosität sein.

      Es war 9.45 Uhr.

      Es ging über die verwinkelten Treppen und Flure des Verwaltungsgebäudes und über den Asphaltparkplatz, der früher eine Straße zwischen den beiden Gebäuden gewesen war, zum Westflügel des Weißen Hauses. Noch immer ergriff ihn ein heimliches Staunen: er, Donald Ingham, Enkel des Stahlarbeiters Murray Ingham aus Pittsburgh, Sohn des Automechanikers Lou Ingham aus Detroit, betrat wie selbstverständlich das Machtzentrum der westlichen Welt. Wie immer führte ihn einer der Sicherheitsleute über den weichen, weinroten Velourteppich zum Büro des Sicherheitsberaters. Scowcroft, so sagte die Sekretärin, sei bereits im Oval Office. Er werde dort schon erwartet. Sie gingen eilig weiter, am Büro des Vizepräsidenten und am nebenan liegenden Eckzimmer des Stabschefs des Weißen Hauses vorüber, folgten dem Flur links herum, passierten den »Roosevelt-Konferenzraum« und die Bibliothek des Präsidenten und bogen wieder links ab. Nach vierzig Schritten blieb der Sicherheitsbeamte am Eingang zum Vorzimmer des Oval Office stehen. In der Brusttasche seines dunkelblauen Jacketts piepte ein bleistiftdünnes Funkgerät. Darunter trug der Mann seine automatische Dienstwaffe in einem Holster. Als sich die Tür öffnete, nahm er Haltung an, nickte knapp, wünschte Ingham einen guten Tag und ging zurück zum Empfang.

      Zwei Minuten vor zehn stand Donald Ingham im Vorzimmer des Präsidenten. Es war ihm unangenehm, daß sein Chef vor ihm da war. Brent Scowcroft unterhielt sich bereits mit John Sununu, dem Stabschef des Weißen Hauses. Es ging offenbar um den bevorstehenden Besuch des saudischen Königs Fahd.

      »Hello


Скачать книгу