Herbst der Amateure. Jürgen Petschull

Herbst der Amateure - Jürgen Petschull


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und spürte erneut ein Magendrücken. Er konnte ein vernehmliches Magenknurren nicht verhindern und räusperte sich, um das Geräusch zu übertönen.

      »Es bestehen seit einiger Zeit Anzeichen einer persönlichen Krise bei Rosenblatt. Er hat aus ethisch-moralischen Gründen am Sinn seiner Arbeit zu zweifeln begonnen. Ihm werden in diesem Dossier hier sogar Kontakte zur Friedensbewegung nachgesagt. Bei einer Kundgebung für Generalsekretär Gorbatschow während dessen letztem USA-Besuch soll er gesehen worden sein. Seine Freundin gehörte einer militanten Anti-Atom-Bewegung in Kalifornien an. Und: Kollegen gegenüber hat er zunehmend gewisse sozialistische Thesen vertreten.«

      Ingham blickte von seinem Rosenblatt-Dossier auf. Er beobachtete, wie der US-Präsident zunehmend beunruhigt reagierte. Er klopfte mit dem Zeigefinger auf die Schreibtischplatte, setzte seine Brille auf und ab, schob mit den Kniekehlen seinen Stuhl nach hinten, ging quer durch das Oval Office zum Kamin und legte ein paar Holzscheite in das heruntergebrannte Feuer. Schweigend beobachteten die drei Männer, wie kleine Flammen an dem Birkenholz nach oben züngelten, immer größer wurden und schließlich fauchend nach oben schossen.

      »Unsere Leute haben inzwischen die Ermittlungen in der Bundesrepublik übernommen«, fuhr Ingham auf ein Zeichen seines Chefs hin fort, »es ist ihnen gelungen, eine seltsame Tonbandaufnahme von Rosenblatt sicherzustellen, die offenbar unter Alkoholeinfluß entstanden ist. Eine psychologische Analyse habe ergeben, daß Rosenblatt sich möglicherweise in den Osten absetzen wolle.«

      »Mein Gott ...«, sagte der Präsident und drehte sich um.

      »Es kommt noch schlimmer, George«, sagte Brent Scowcroft. »Dieser Rosenblatt ist, wie gesagt, zunächst dienstlich in der Bundesrepublik gewesen. In geheimer Mission. Er sollte führende Militärs und Verteidigungspolitiker der NATO über das Star-wars-Programm informieren – natürlich positiv. Denn beim nächsten Manöver im Frühjahr 1991, bei dem die NATO, wie alle zwei Jahre, einen Atomkrieg in Europa, speziell auf west- und ostdeutschem Gebiet, üben wird, soll entgegen den offiziellen Erklärungen erstmalig der Einsatz atomarer Laserstrahl-Kanonen und anderer SDI-Waffen geprobt werden. Die Vorbereitungen für das Manöver haben bereits in dem unterirdischen Atomkriegs-Bunker der deutschen Bundesregierung begonnen.«

      »Verstehe ich euch richtig?« fragte George Bush und blieb auf dem Rückweg vom Kamin zum Schreibtisch mitten im Raum stehen, »dieser verschwundene Mister Rosenblatt weiß nicht nur alles über SDI, von ihm ist nicht nur das Programm abhängig – er kennt auch noch die neuesten NATO-Strategien für den atomaren Verteidigungsfall ...?«

      Ein unangenehmes Schweigen entstand.

      »Ich fürchte, das ist richtig, Mister President«, sagte Ingham schließlich.

      »Mein Gott ...! Was wird getan, um zu verhindern, daß er tatsächlich überläuft, oder daß er in den Osten geschleust wird?«

      »Seit gestern werden in Europa alle Grenzübergänge zu allen Ländern des Warschauer Paktes verschärft überwacht. Auf allen Flughäfen werden Passagiere, die in ein Ostblock-Land reisen, besonders kontrolliert. Die Leute in Langley sind bis zu dieser Minute sicher, daß Rosenblatt noch in der Bundesrepublik Deutschland ist – falls er noch lebt.«

      »Das ist, verdammt nochmal, ziemlich wenig! Findet ihr nicht?!«

      Brent Scowcroft schaltete sich ein und sagte, er habe deswegen mit dem CIA-Direktor telefoniert. »Ben Webster sagt, daß seine Leute in der Bundesrepublik und in der DDR zur Zeit völlig überlastet seien, wegen der aktuellen Ereignisse im Ostblock und in Ostdeutschland. Er will deshalb ein Spezialteam nach Deutschland schicken, das Rosenblatt suchen soll ...«

      »Das ist eine vernünftige Idee«, sagte der Präsident, »dieser Fall hat wegen der möglichen Konsequenzen absolute Priorität! Sag Ben das bitte!«

      »... aber er hat Probleme, die richtigen Leute zu finden, Leute, die Deutsch sprechen und sich in West- und Ostdeutschland auskennen.«

      »Ich glaube, ich höre nicht richtig?! Wir haben den teuersten Geheimdienst der Welt, und der hat keine Leute für so einen Fall?!« Der Präsident knallte seinen Kugelschreiber auf die Tischplatte. Ingham zuckte zusammen.

      »Als ich in Langley war, hatten wir in der Europa-Division einen Deutschland-Experten«, sagte George Bush, der ehemalige CIA-Direktor, nach einer Weile wieder ruhig, »der selber jahrelang hinter dem Eisernen Vorhang gearbeitet hat, dann wurde er, glaube ich, Chief of Station in der Bundesrepublik, bevor er nach Langley an den Schreibtisch zurückkam. Der hieß ...« Bush überlegte. »... Dilden oder so ähnlich.«

      »Dillon!« sagte Ingham. »Henrik C. Dillon! Ich war in seiner Abteilung. Er wurde der Maulwurfsjäger genannt. Unter seiner Leitung sind ein halbes Dutzend Spione und Verräter im Dienst und beim Militär enttarnt worden.«

      »Richtig ... Dillon! Ich erinnere mich«, sagte der Präsident, »ein erstklassiger, erfahrener Mann. Ich will Ben Webster ja nicht in seinen Job reinreden, aber er soll ihn rüberschicken. Dillon soll diesen Rosenblatt finden, bevor der sich möglicherweise tatsächlich in den Ostblock absetzt!«

      »Soviel ich weiß, Mister President«, sagte Ingham und räusperte sich erneut, weil es in seinem Magen wieder zu rumoren begann, »soviel ich weiß, hat sich Dillon vorzeitig pensionieren lassen ... nach der Iran-Contra-Geschichte.«

      »Hatte er denn damit etwas zu tun?«

      »Im Gegenteil. Er war darüber so empört, daß er mit dem Dienst nichts mehr zu tun haben wollte.«

      Es schien Ingham, als blicke George Bush ein wenig betroffen. Dann griff er mit der rechten Hand unter die Schreibtischplatte. Seine Sekretärin trat ein. Der Präsident bat um einen offiziellen Briefbogen. George Bush nahm den Kugelschreiber, der zur Seite gerollt war und begann, das Papier mit schnellen, kurzen Handbewegungen zu beschreiben. Als er fertig war, reichte er das Papier Donald Ingham über den Tisch.

      »Geben Sie das Mister Dillon.«

      Als sie aufstanden und sich verabschiedeten, sagte der Präsident der Vereinigten Staaten und frühere Geheimdienst-Chef zum Assistenten seines Sicherheitsberaters: »Sie sollten ein paar Bananen essen, Don, das hilft gegen dieses lästige Magenknurren ...«

      Das Gespräch hatte statt 30 mehr als 40 Minuten gedauert. Im Vorzimmer des Oval Office trafen sie den Protokollchef des Weißen Hauses. Der knetete nervös seine Hände und sagte, der Außenminister Saudi Arabiens warte seit 15 Minuten auf den Präsidenten und sei wegen der Verspätung bereits gekränkt.

      Sie gingen in das Büro des Sicherheitsberaters. Während Brent Scowcroft den CIA-Chef Ben Webster telefonisch von dem Gespräch beim Präsidenten informierte und aus dessen Sorge und Verärgerung über den Rosenblatt-Fall keinen Hehl machte, überflog Donald Ingham das Schreiben, das ihm George Bush gegeben hatte. Unter dem Amtssiegel mit dem amerikanischen Adler und dem Aufdruck »White House – The President« las er:

      Lieber Mister Dillon,

      gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Zeit in Langley. Soeben erst habe ich mit großem Bedauern gehört, daß Sie in der Zwischenzeit den Dienst dort quittiert haben. Dennoch bitte ich Sie persönlich um einen Gefallen, weil ich überzeugt bin, daß Sie der am besten geeignete Mann sind. Bitte übernehmen Sie im Interesse unseres Landes den Fall, den Ihnen Mister Donald Ingham, der Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsberaters, in meinem Auftrag erläutern wird. Ich bin Ihnen sehr dankbar.

      Herzlich, Ihr George Bush

      Eine Stunde später schreckte Donald Ingham in seinem Büro hoch. Er hatte die Beine hochgelegt, die Lehne seines Schreibtischstuhls in Liegeposition gestellt und war mit halboffenem Mund eingeschlafen. Als das Telefon klingelte, rutschten seine Füße von der Schreibtischplatte und stießen den gefüllten Papierkorb um. Ingham fluchte. Am Apparat war der Leiter der Hauptabteilung Special Operations (SO) der CIA in Langley.

      Der teilte ihm mit, seine Abteilung habe auf Anweisung des Direktors ab sofort die Leitung der Ermittlungen »in der Sache Rosenblatt« übernommen. Und: er habe gerade mit Henrik C. Dillon telefoniert. »Er wollte mich gar nicht ausreden lassen. ›Es reicht, wenn ihr meine Pension regelmäßig


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