Herbst der Amateure. Jürgen Petschull
doch mal in seiner Abteilung? Es scheint, als ob er sie nicht in schlechtester Erinnerung hat.«
Ingham notierte Dillons Adresse: Forest Creek No. 9 in Stratton Woods, einer kleinen Neubau-Waldsiedlung, kaum zwanzig Meilen entfernt, auf halbem Wege nach Rockville.
Er aß ein Sandwich und ließ sich starken Kaffee machen. Bevor er sein Büro verließ, steckte er den Brief des Präsidenten an Dillon in einen Umschlag und klebte ihn zu, nahm das Rosenblatt-Dossier und einen Aktenordner mit Hintergrundmaterial dazu, die ihm die CIA für seinen Vortrag beim Präsidenten zugeliefert hatte.
Donald Ingham lenkte seinen schwarzen 190er Mercedes zur nahegelegenen Theodor Roosevelt Bridge, überquerte den Potomac und nahm am anderen Ufer die Ausfahrt zum George Washington Memorial Parkway, der am Flußufer entlangführt. Von den Bäumen des Langley Forest waren die ersten Blätter gefallen. Hinter einem hohen Sicherheitszaun konnte man den modernen Gebäudekomplex der Central Intelligence Agency mit seinen von außen undurchsichtigen Rauchglasscheiben sehen. Sechs Jahre lang war Ingham tagtäglich durch das große Tor gefahren, bevor er in den Stab des Weißen Hauses berufen worden war. Jetzt nahm er den Highway 495 Richtung Norden und bog an der 39. Ausfahrt ab. Dillon, so dachte er, hatte es früher nicht weit zum Dienst gehabt.
Stratton Woods war eine dieser typischen, sauberen Vorortsiedlungen für die gehobene Angestellten-Klasse. Idyllisch mitten in einem hügligen Mischwald gelegen, in dem es jetzt herzhaft nach Herbstlaub roch. Eine Stichstraße führte zu einem großen Kreisel mit einer kleinen Kirche und einem kleinen Einkaufszentrum. Von hier aus gingen U-förmige Straßenzüge ab. Die Häuser waren nachgemachte Klassiker aus einem Fertighausprospekt: Tudorstil mit Fachwerkgiebel, weiß verputzte Fassaden, rote Backstein-Schornsteine, Sprossenfenster mit Klappläden. Das Haus No. 9 lag am oberen Ende der Straße Forest Creek. Das Grundstück war von einer welkenden Weißdornhecke umgeben. Die Klingel war abgeschaltet. Die Gartenpforte stand offen.
Ingham ging um das Haus herum. Das überraschend große Grundstück fiel zum Wald hin ab. Am unteren Ende sah er einen Mann mit grauem Vollbart und nacktem, behaartem Oberkörper, der, obwohl es schon kühl geworden war, bis zum Bauch mitten in einem Seerosenteich stand. Unbeweglich wie eine Statue. Mit einem Käscher in den Händen.
Auf den ersten Blick hätte er Henrik C. Dillon nicht wiedererkannt, den »Maulwurfsjäger«, der wie kein anderer einen Instinkt für Verräter und ihre Motive hatte, und der sich selber und seine Ideale verraten gesehen hatte, als die Machenschaften der CIA und der Reagan-Administration im Nahen Osten und in Mittelamerika aufgedeckt wurden.
Nach dem Iran-Contra-Skandal hatte Henrik C. Dillon die CIA im Zorn verlassen: Mit 52, zwei Jahre nach dem frühestmöglichen Zeitpunkt, war er in Pension gegangen und hatte beim Abschied gesagt, er wolle nie wieder etwas mit der Firma zu tun haben.
Der Mann im Teich tauchte den Käscher ganz vorsichtig ins Wasser, starrte eine Weile mit weit vorgebeugtem Oberkörper nach unten und zog das Fangnetz mit einem plötzlichen Ruck wieder hoch, so daß ein paar Seerosenblätter zur Seite schwappten. Im Netz zappelte und spritzte etwas. Dillon watete mit seiner Beute an Land. Er hatte nasse Boxershorts, Gummisandalen und Gartenhandschuhe an.
»Petri Heil!« sagte Ingham und ging über den Rasen zum Teich hinunter. »Züchten Sie jetzt Karpfen oder Forellen?«
Dillon drehte sich überrascht um.
»Nein, Schlangen«, sagte er, als er Ingham erkannte. Der halbnackte Mann im Wasser, der mit seinem Käscher aussah wie eine Karikatur des Meeresgottes Neptun, grinste breit und holte ein zappelndes, daumendickes, graugeflecktes Reptil aus dem Netz. Ingham erschrak. »Die ist ganz harmlos, jedenfalls für Menschen«, sagte Dillon, »aber sie frißt meine Jungfische auf. Ich bin schon seit ein paar Wochen hinter dem Biest her.«
Er steckte die wütend züngelnde Schlange in einen Jutesack und sagte, er werde sie ein paar Meilen entfernt im Wald wieder aussetzen.
Ingham wartete im Wohnzimmer, einem großen Raum mit hellem Teppichboden, Sitzgruppe vor dem Kamin und offener Pantryküche, bis Dillon geduscht und sich umgezogen hatte. Auf dem Glastisch lag eine farbige Broschüre mit dem Titel »Treffpunkt Gartenteich – Alles über Pflanzen und Tiere«. Aufgeschlagen war die Seite »Die Ringelnatter«.
Henrik C. Dillon genoß den harten, warmen Strahl der Massagebrause. Sein Körper war gut in Form, einen kleinen Bauchansatz hatte er mit einer Vollkorndiät und durch Gymnastik abgespeckt. Seit ein paar Tagen hatten auch die Kopfschmerzen endlich aufgehört. Die seien wohl psychosomatisch bedingt, hatten ein Neurologe und ein Psychotherapeut in Rockville nach gründlicher Untersuchung übereinstimmend gesagt – kein Wunder, wenn ein Mann nach mehr als zwanzig Ehejahren von seiner Frau verlassen würde. Und wenn er gerade seinen Beruf aufgegeben habe. Und wenn er sich nun in durchschwitzten Nächten fragte, was das Ganze denn überhaupt für einen Sinn habe ...
Freunde, richtige Freunde, hatte einer mit einer beruflichen Vergangenheit wie Dillon natürlich nicht. So hatte er zu trinken angefangen – und das Verhältnis mit Joan, der nicht mehr ganz frischen Boutiquenbesitzerin aus der eleganten Einkaufspassage in der M-Street in Georgetown. Joan kannte er noch aus den siebziger Jahren, als sie ein bekanntes Callgirl gewesen war, das der Firma hin und wieder ein paar Tips über ihre Kunden aus den Ostblock-Botschaften gegeben hatte.
Wie aus heiterem Himmel war das mit seiner Frau nicht gerade passiert: Sie hatte ihm oft genug gesagt, daß er seit seiner Pensionierung unerträglich geworden sei. Er solle sich doch endlich um eine neue Arbeit kümmern, schließlich sei er doch noch im besten Alter.
»Ich habe doch nichts Vernünftiges gelernt«, hatte er wütend gebrüllt, »ich war noch nicht mal ein richtiger Spion, bloß ein Angestellter des Geheimdienstes, ein unterbezahlter Maulwurfsjäger ...«
Ja, ja, er werde sich schon irgendwann um einen Job kümmern – vielleicht als Detektiv in einem Supermarkt, hatte er bitter hinzugefügt. Aber er war dann doch völlig überrascht gewesen, als er drei Tage nach ihrem letzten Ehekrach nach Hause zurückkam und seine Frau nicht mehr da war. Ihre Schränke waren leer, und etwa die Hälfte der Möbel fehlte. Und als er sich volllaufen ließ und dann Trost bei Joan suchen wollte, da hatte Joan gesagt, sie sei, verdammt nochmal, nicht von der Heilsarmee und ihre Wohnung sei keine Herberge für verlassene Ehemänner. Er solle wieder anrufen, wenn er besserer Laune sei.
Noch nicht einmal fünf Monate war das alles jetzt her. In der ersten Zeit hatte Dillon sich im Garten ausgetobt, hatte gegraben und gepflanzt, den verschlammten Teich in Ordnung gebracht, stunden- und tagelang am Ufer gesessen, Fische und Frösche, Libellen, Molche und Schnecken beobachtet. Und irgendwann war ihm die Erkenntnis gekommen, daß er viele Fehler gemacht hatte. Einer davon war die Kündigung in der Firma gewesen.
Als dann heute mittag das Telefon ging und Langley dran war und ihm der Besuch von Ingham angekündigt wurde, da wußte er, daß sie ihn wieder brauchten. Henrik C. Dillon stand vor dem Spiegel, sah sich ins Gesicht und erkannte, trotz des wildwachsenden Bartes, daß sich sein Spiegelbild freute. Er suchte Rasierschaum, Pinsel und Messer, seifte sich ein und schabte sorgfältig den Bart ab. Die Haut brannte höllisch, als er sie mit Aftershave einrieb. Zufrieden befand der CIA-Frührentner, daß er ohne den grauschwarzen Bart wie Mitte Vierzig aussah. Oder jünger – wenn die Falten um die hellbraunen Augen und um die Mundwinkel nicht gewesen wären. Er suchte ein Paar khakifarbene Designer-Jeans, Größe 50, die er lange nicht getragen hatte – tatsächlich, sie paßten wieder! –, und zog ein Polohemd an. Dann ging Henrik C. Dillon mit federndem Schritt ins Wohnzimmer hinunter.
Ingham war verunsichert, weil Dillon schon so lange auf sich warten ließ. Jetzt hätte er ihn beinahe zum zweitenmal nicht wiedererkannt.
»Verdammt, Henrik, Sie sehen ja ohne Bart zehn Jahre jünger aus«, sagte er. Dillon grinste, fast ein bißchen verlegen, wie es Ingham schien, machte zwei Martini, hatte aber keine Oliven im Haus. Er fragte, wie es in der Firma in Langley gehe und erkundigte sich nach diesem und jenem Kollegen. Als er hörte, daß Ingham seit Beginn der Amtszeit von George Bush für das Weiße Haus arbeite, gratulierte er herzlich und meinte, er habe schon damals, als sie noch gemeinsam in der Deutschland-Abteilung gewesen seien, geglaubt, daß dieser Donald Ingham einmal Karriere machen