Die Königsfälschung. Max Melbo
Louis täglich, sein Gesicht unter ihnen nicht verlieren zu müssen.
Um sich jedoch als König gegen die Normierung der Männer von Stande durch die Pflichtperücke abzuheben, trug Louis XIV in der Öffentlichkeit immer einen Hut. Die Könige vor ihm trugen manchmal eine Kopfbedeckung, wenn sie sich draußen zeigten oder malen ließen. Louis XIV installierte einen Hutzwang, dem nur er folgen musste. Niemand Französisches außer ihm durfte neben ihm einen Hut tragen. Er trug ihn bei jedem höfischen Erscheinen auch innerhalb von Gebäuden und – sehr unpraktisch – zu Pferde, wenn er an Jagden und Schlachten teilnahm. Man erkennt ihn auf einem Bild sofort als Mann mit dem Hut. Louis’ Hüte änderten sich wie seine Perücken. Filmstarvorweggenommen überrascht er seine Zeitgenossen und bis heute seine Betrachtenden mit immer neuen voluminösen Modellen. Louis trug keinen Hut ein zweites Mal! (Abb. 13, 14, 15, 16, 17)
Trotz Louis’ zweifacher Kopf-Einfassung mit Hut und Kunsthaar »rutschte« ihm sein eigener Körper »weg«.
Louis XIV war ein ganz besonders gesundes Kind, über das sich sein dritter Hofarzt, Antoine Vallot, wunderte, der 1647 in den königlichen Dienst kam, als Louis neun Jahre alt war. Vallot hatte Louis’ Offizial-Vater Ludwig 13 noch gekannt, dessen Tod 1643 bei Dienstantritt Vallots erst vier Jahre zurücklag. Vallot hatte Ludwig 13 in dessen letzten Lebensjahren so zerrüttet und verfallen erlebt, dass der Arzt glaubte, der von Louis XIII »gezeugte Sohn« werde gebrechlich sein und dem Jungen kein langes Leben bevorstehen (36, S. 11).
Das Strotzen und die ländlich stabile Gesundheit von Ludwig dem Vierzehnten hatte Vallot dem »Erbteil« der spanischen »Mutter«, Anna von Österreich, zugeschrieben. Aber die spanisch-habsburgische Prinzessin brachte pur physische Degeneration mit, da sie Inzuchtsopfer schon in dritter Generation war. Ihr Großvater, Philipp II., hatte in vierter Ehe seine Cousine Anna d’Austria (die Erste!) geheiratet und mit ihr den Thronfolger Philipp III. gezeugt. Der hatte wieder nach »Inner-Österreich« geheiratet, seine Cousine ersten Grades, Margareta d’Austria. Älteste Tochter dieses Paares wurde die Louis-XIV-Offizial-Mutter Anna d’Austria (die Zweite!), die nach ihrer inner-österreichischen Großmutter benannt wurde. Annas (der Zweiten) Bruder, Philipp IV., heiratete in zweiter Ehe abermals eine Habsburgerin, seine Nichte, Marie-Anna d’Austria, und zeugte als 60-Jähriger mit ihr den Top-Degenerierten, den späteren spanischen König Karl II., der sofort nach Kursierung seiner Beschädigtheit die ersten Ansätze zum spanischen Erbfolgestreit provozierte, weil ganz Europa wusste, nach dem Tod Philipps IV. war durch Karl II. mit keiner genealogisch-physischen Fortsetzung der Dynastie mehr zu rechnen.
Louis XIV als ein original-leiblicher Sohn aus Adern und Blut, Samen und Schoß seiner Offizial-Eltern, des »verfallen-zerrütteten« Ludwig 13 und der auf der Kippe zur Degeneration stehenden Anna Ö., hätte nicht mit der »fantastischen« Gesundheit des beschafften Ludwig des Vierzehnten konkurrieren können.
Aber der Mensch lebt nicht vom Gen allein! Und Louis XIVs extreme Spannung zwischen Sein und Schein, zwischen physischem Glanz und biografischem Elend ließ ihn fast Tag für Tag krank sein.
Sofort nach diesem Statement muss fein-medizinisch nachgeschärft werden: Wie krank ist Louis XIV, wo, an welchen Körperteilen und ab wann?
Ludwigs physisches Elend beginnt mit 24 – im Jahr nach dem Tod Mazarins, zu den Zeiten des Beginns von Ludwigs Alleinregentschaft, als seine Offizial-Mutter Anna sich aus dem Geschäft des Mitregierens zurückgezogen hatte. Mazarin starb 1661. Ab 1662 erleidet Louis XIV bis ins hohe Alter in unkontrollierbaren Intervallen Schwindelanfälle und Zustände.
Dass alles falsch (Schwindel) und Louis eigentlich kein Stand möglich, da er null »von Stande« (Zustände) war – das wusste sein Körper schon vor Annas Konfession der Wahrheit auf dem Sterbebett vier Jahre später.
Die immer wieder und immer noch schwer verständliche Psychosomatik gewinnt im Leben von Louis XIV eine Plastizität, die noch bis ins 20. Jahrhundert hinein unter Staatsführern ihresgleichen suchen muss. Das Krankheitsphänomen enthüllt sich gegen die Wortschöpfung »Psychosomatik« als ein Vorgang der Soziosomatik: Paar-, Freundes-, Familien-, Gruppen- und Gesellschaftskonflikte machen krank.
Auch Ludwigs königliche Vorläufer sind krank – manchmal! Sie zeigen aber nicht wie Ludwig Krankheit, Körper-Dysfunktion und Fehlreaktion als Lebensbegleiterscheinung. Henri IV ereilten nach großen Anstrengungen zuweilen Fieberschübe, die er mit ein paar Tagen Bettruhe kurierte.
Sogar der als »kränklich« geltende Offizial-Vater Ludwig 13 ist bei naher Betrachtung seiner Krankheiten ganz anders krank als Ludwig 14. – Als Schwuler hatte Ludwig 13 eine anders konturierte Unlösbarkeit mit auf den Thron Frankreichs bekommen. Die gesollte Heterosexualität ging von innen nicht, und die gewollte Homosexualität bekam von außen oft so hohe und schwere Hindernisse in den Weg zur Erfüllung gelegt, dass sich Krankheit als Reaktion der Unübereinkunft zwischen Individuum und Gesellschaft immer wieder einstellen musste. Ludwigs des Dreizehnten kolportierte Melancholie und gesundheitliche Mürbe zeigten sich jedoch erst nach dem Tod seines ersten Liebhabers, Charles de Luynes!
Ludwig 14 strotzte nicht nur gen-gesundheitlich, sondern auch heterosexuell! Frauen drängten sich in seine Nähe. Er hätte aus dem Bett regieren können. Aber, aber, aber: kein Alkoven konnte die Vorhänge über Ludwigs schärfster Asymmetrie zwischen Sein und Schein dauerhaft schließen.
War er bis zum Tode Mazarins als Künstler identisch mit sich selbst, mit diesem Beruf, so kippte er als Allein- und Realregent aus den Fugen jeglicher Identität. Künstler ging nicht mehr, und König ging »tiefsten Herzens« nie. – Das Grauen Ludwigs des Vierzehnten bestand für die Psyche dieses Mannes nicht in seiner Usurpation, sondern im Nicht-Darstellenkönnen, in der nie zu überwindenden Unmöglichkeit, die Wahrheit seiner Baby-Beschaffung herauszuschreien. Diese biografische Falle musste sich für einen so talentierten Darstellungskünstler, der Louis XIV theatralisch bis 1661 war, als Verhängnis auswirken. Er konnte die Fälschung, sein eigenes Gefälschtsein, nie vorführen, nie behandeln, nie »thematisieren« – wie es modern heißen würde. Ludwigs Körper musste die »Drecksarbeit« übernehmen, und sein königlicher Unkörper wütete so gut wie mit allem Möglichen und Unmöglichen an Instrumentarium, mit dem die Menschen zu seiner Zeit Konflikte und Komplikationen zum Ausdruck brachten.
Zu Schwindel und Zuständen – das sind Nervenanfälle, Verrutschungen des Selbstgefühls – kamen Hautausschläge, Darmgeschwüre, Abszesse, Gicht, Magen-Darm-Unpässlichkeiten, auslaugendes, lang anhaltendes Fieber, schwer zum ersten Mal zu praktizierende Operationen. Ludwig schüttelten Krankheiten, die weniger robuste Zeitgenossen nicht überstanden. Mit 16/17 Jahren zog er sich schon einen Tripper zu. Am Ende seiner Zwanziger wäre er an einer Krankheit fast gestorben. Ab Einzug in Versailles 1682 war er arthritisch und benutzte gern einen Rollstuhl (Abb. 20).
Doch das extremste Beispiel dafür, dass Louis XIV in seinem anlagemäßig gesunden und starken Körper psychosozial nicht »drinsteckte«, waren seine oral-analen Ausfall-Erscheinungen. Ludwigs feudal-ideologisch anathematisches Fehl-am-Platze-Sein machte sich mit körperlichem Fehlverhalten und an geistigen Fehlentscheidungen »bemerkbar«. Ludwigs Nicht-in-sich-selbst-Sitzen drückte sich zuallererst in einer hysterischen Angst vor Krankheiten aus, die für diesen Von-der-Wurzel-aus-Gesunden unwahrscheinlich gewesen wären, dann aber kamen »wie gerufen«.
Louis trachtete danach, uralt zu werden, um alle Mitwissenden und seine Königsfälschung Ahnenden zu überleben. 1685, schon mit 46 Jahren, ließ er sich alle Zähne seines Oberkiefers herausreißen, weil schadhafte Zähne im 17. Jahrhundert Infektionsherde waren, die damals unheilbare Krankheiten in den Körper schleusen konnten. Bei der Prozedur der Zahn-Amputation wurde ein Stück Kiefer mit herausgebrochen und Louis’ Gaumen versengt, wonach Louis unter Mundfäule und Mundhöhlen-Schmerzen litt, (36, S. 138). Kauen – unmöglich! Verdauen – eine Wunschvorstellung! Permanent-Verstopfungen die Folge, die Permanent-Abführmittel erzwangen, die zu multiplen Stuhlgängen Tag und Nacht führten – 18 Mal pro zwölf Stunden sind übermittelt! Das alles ohne WCs und mit den Multi-Trikotagen-Verpackungen des Körpers in den Königskleidern des 17. Jahrhunderts! – Durch das Loch im Gaumen konnte Louis nicht mehr regulär trinken. Die