Die Königsfälschung. Max Melbo
durch den das Geschwür nach unten hängen konnte, sitzen ließ. – »Wahnsinns«-Operation erst, nachdem Männer aus dem Volke gefunden wurden, die am gleichen hinterlichen Fremdkörper litten und mit denen der königliche Chirurg die damals schwierige, weil neue OP üben konnte. Nach einigen Volksmann-Trainings-OPs dann am 18. November 1686 der gelingende Versuch am inzwischen 48-jährigen König – damals ohne Betäubung! Aber das infernalische und unkönigliche Schmerzgefühl provozierte in Biografie-somatischer Logik das Realitätsgefühl »nichts ist am richtigen Platz«, das Ludwigs Körper mit jedem Schmerz von oben bis unten ganz durchdringen konnte.
Von einer gewaltsamen Zahn-Amputation in seinen Vierzigern wird bei keinem anderen König berichtet. – Ludwig 14 geht seinen Hof-Ärzten auf den Leim, die sich an ihm versuchen, die stümpern, sich irren und ihn unnötig quälen. Louis XIV hat kein Körpergefühl, kann sich von seinen Ärzten nicht abgrenzen, lässt sich zum Jaucheschlauch verunstalten: Verlust von Anfang und Ende, Eingang und Ausgang, die selbstverschuldete Zerstörung seines Lebensanfangsorgans Mund mit den widerwärtigen Folgeerscheinungen des oben und unten produzierten Dauergestanks, der ihm die Verhöhnung einbrachte »L’odeur – ç’est moi!« (Der Gestank bin ich!) (187)
Unheimliches, undurchdringbares, ver-rücktes Misslingen auch bei Louis’ Versuchen, sich mit legitimen Nachkommen »nach unten« fortzusetzen: Fast alles Männliche in Louis’ Umfeld starb vor ihm, Sohn, Enkel, Urenkel. Ein einziger Urenkel, erst 5-jährig, schaffte es noch gerade, den knapp 77-jährigen Sterbenden zu überleben.
Dieses Legitimierungs-Verenden der königlichen Erben geschah nicht in gleicher Weise mit Louis’ 13 illegitimen Kindern und ungezählten Kindeskindern.
Nicht Louis’ Körper war »degeneriert« oder Nachkommen-insolvent. Seine feudal-soziopsychischen Bedingungen der Legitimationsverheerung, die seine Beschaffer ihm angetan hatten, wirkten auf seine dynastiebelasteten männlichen Nachkommen krankmachend und verhaltensstörend, so dass sechs königliche Nachfolge-Männlichkeiten in jüngstem, jüngerem und bestem Alter vor Louis starben. Nur Louis’ Enkel, der spätere spanische König Philipp V., der als 17-Jähriger aus Louis’ Sozialkonfliktfeld herausgestellt wurde – weg von Paris nach Madrid –, konnte sich aus dem Legitimationsdilemma des Großvaters, das wie ein Familienfluch generativ weiterwirkte, befreien und wurde alt, was dem überlebenden Urenkel und Nachfolger auf dem französischen Thron, Ludwig dem Fünfzehnten, auch gelang.
Der Legitimationsbruch nach oben ließ nach unten – mit einer Ausnahme – alle Louis’schen Nachfolgekandidaten zu Bruch gehen, so dass bei den unüblich vielen Toden unter Louis’ Kronerben immer wieder von Vergiftungen fantasiert wurde. So viele Menschen in so verschiedenen Lebensumständen und Altersphasen können nicht von einem äußeren Feind attackiert worden sein. Solch ein Feind lässt sich nicht personifizieren, noch hätten jemals der Feind oder die Feinde als dynastische Rächer der durch die Königsfälschung ausgebooteten realkönigsberechtigten hochadligen Franzosen vergiftenden Zugang zu Louis’ legitimen Erben gehabt.
Der Gifthauch von Louis’ gefälschtem verdorbenem System ist es, der die männliche Brut dahingerafft hat.
Mit solch »hinraffender« Energie verzehrte aber auch Louis XIV selber sein legitimes »Erbfeld«. Seine königsdisparate Situation provozierte in ihm eine Unersättlichkeit, auf dem Thron Frankreichs sitzen zu bleiben und von dort aus seinen frankreich- und europapolitischen Dreck zu machen. Louis XIV ist der längstamtierende europäische Herrscher dieses Gebildes gewesen. Die langen Thronperioden von Fürsten umfassten zehn bis 20, allerhöchstens 30 Jahre, wobei die formalen Kinderregent-Zeiten nicht als Machtzeiten mitgezählt werden. Louis’ 54 Jahre der Alleinthronung und insgesamt 72 Jahre des Sitzens überhaupt auf Frankreich wurden von niemandem sonst erreicht.
Die unkönigliche Sitzfleischgroteske Ludwigs des Vierzehnten springt am Tragikomischsten ins Gesicht, wenn der Blick auf Leben und Sterben von Ludwigs Sohn, dem verhöhnenderweise »Grand Dauphin« genannten, gerichtet wird, der seinen Namen seiner voluminösen Größe und Fettleibigkeit verdankt. Den Kronprinzen überfiel eine starrmachende Angst in der Nähe seines Vaters (Abb. 17). Er starb am 14. April 1711 mit 49, viereinhalb Jahre vor dem zu dieser Zeit 72-jährigen Louis XIV. – Ein Alter von 49 erreichten nur wenige französische Könige. Anstatt seinem Sohn noch eine adäquate Regierungszeit zu vergönnen, überlebt Louis ihn wie zum Trotz – gemäß der Abwandlung von Cäsars »Keiner neben mir!«: Keiner nach mir!
Im Jahr danach, 1712, sterben auch die anderen männlichen Thronerben: Enkel und Urenkel. Louis XIV ist 73/74. – Und es sieht 1715 um ein Haar so aus, als würden alle direkten Kronerben vor Louis sterben. Der fünfjährige Urenkel, Ludwig der Fünfzehnte, war der letzte männliche Nachfahre, der Ludwig den Vierzehnten bei dessen Tod am 1. September 1715 überlebte!
Auch die Länge der Louis-XIV-Königszeit entblößt etwas Monströses, Adels-Inadäquates. Das Falsche konnte keine sogenannte Erfüllung finden, konnte auch nicht zu Läuterungen reifen, gar in altersweisen Humanisierungen münden: Die »Schleifungen« der französischen Protestanten, die Zerstörungen ganzer Ketten von südwestdeutschen Städten, der Versuch, vom Meer aus England zu überfallen, die 13 Jahre spanischer Erbfolgekrieg – alles Ereignisse in Ludwigs Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern!
Die nicht bewussten Anteile der Person des Unkönigs steuerten auf eine Königs-untypische Lösung des Zusichkommens zu, die frei nach Andersens Märchen »Des Kaisers neue Kleider« geheißen hätte: »Ich bin’s nicht! Macht euern Dreck alleine!«
Aber ein freiwilliger Rücktritt Louis’ ging wegen seines 27 Jahre lang geformten König-Ichs nicht, das der royalen Kunstbiografie »Louis XIV«, beginnend von den ersten Tagen ihrer höfischen Präsentation, in die Person eingraviert worden war. So ging nur, die Existenz eines neuzeitlichen Minotaurus bis zur physischen Alterserschöpfung durchzuziehen und durchzuhalten – unter »sagenhaften« Schmerzen, die dem eigenen Körper, dem Volkskörper Frankreichs und den um Frankreich lebenden Völkern Europas zugefügt wurden.
Mazzarinos Wunder
Der Aufstieg des Papstvertrauten und Vertragsunterhändlers, Giulio Raimondo Mazzarino, zum fast 20 Jahre lang wirkenden Beherrscher der Geschicke Frankreichs (1643–1661) und seine Metamorphose zum französischen Spitzenpolitiker Jules Mazarin ist ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der europäischen Neuzeit, höchstens vergleichbar mit der Papstwerdung selbst, wie sie ihm sein Mentor und Protektor von Jugend auf, Maffeo Barberini, späterer Papst Urban VIII. (1623–1644), vorgemacht hat.
Günstlinge, Favoriten, Regenten, Co-Regenten und Regierungschefs gab es in der Geschichte des europäischen Feudalismus zuhauf, aber deren Macht war immer limitiert – bezogen auf die Zeit der Minderjährigkeit eines Königs oder auf die Dauer der Gunstbezeugung des legitimen Herrschers. Das Ende der Macht eines Günstlings konnte von einem auf den anderen Tag eintreten, wenn der »gottbegnadete« Herrscher starb oder der Regierende in Ungnade des aktuellen legitimen Thron-Einnehmers fiel.
Mazarins Macht scheint auf den ersten Blick nach den gleichen Gesetzen funktioniert zu haben. Es gab sofort nach Antritt seiner Position als französischer Regierungschef 1643 die Bewegung der »Importants« gegen ihn und fünf Jahre später den vier- bis fünfjährigen Aufstand von Richtern, Adligen, Bürgern und Bauern, die »Fronde«, der es fast gelungen wäre, Mazarins Regierung auf ein Intermezzo zu beschränken.
Erst bei näherer Betrachtung von Mazzarinos 13-jährigem Anmarsch auf die Position des französischen Regierungschefs wird deutlich, dass es sich bei seinem Werdegang ganz und gar nicht um den Aufstieg eines normalen Günstlings handelte.
Der italienische Louis-XIV-Macher Giulio Mazzarino wurde systematisch auf die eigene französische De-facto-Regentschaft vorbereitet, die der Kardinal Mazarin schließlich 1642/43 übertragen bekam, als er zuerst Stellvertreter und dann Nachfolger Kardinal Richelieus wurde.
Deutliche Weichenstellungen auf dem Wege zum französischen Kardinalskönig Mazarin gibt es schon, kaum hat der 27-/28-jährige Mazzarino die französische politische Szene zum ersten Mal betreten.
Am 15. September 1629 wird Mazzarino