Die Gerissene. Eva Schörkhuber
Schatten, der mich gehen und atmen lässt. Nur hat sich mein Unglück in manchen Momenten derart verdichtet, dass es sich, solcherart zur Potenz genommen, in Glück verwandelt hat.
Während der ersten Stunden meines Aufenthaltes in meiner ersten Hafenstadt bin ich von Missgeschicken geradezu heimgesucht worden. Dabei ist das Ankommen in dieser Stadt am Rande des Mittelmeeres äußerst vielversprechend gewesen. Am Vorplatz des Bahnhofs bin ich gestanden, zu meinen Füßen hat sich eine Kaskade aus Steinstufen ergossen, eine prächtige Einladung, hinunter in die Stadt zu steigen. Die Steinlöwen, die die Treppe flankieren, strahlten majestätisch im honiggelben Abendlicht und sprachen mir Kraft und Mut zu. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, hinunter in die Stadt. Als ich beinahe am Ende der Steintreppe angelangt war, sprachen mich zwei Männer an. Trotz des goldenen Abendlichts waren ihre Gesichter fahl, wie zwei gehetzte Tiere huschten ihre Augen hin und her. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie etwas Geld benötigten, und ich, noch ganz bewegt von dem pompösen Empfang, den diese Stadt mir hier bereitet hatte, zog meine Geldtasche hervor. Noch bevor ich das Fach mit dem Kleingeld öffnen konnte, riss mir einer der Männer die Geldtasche aus der Hand. Dann rannten beide davon, und ich stand mit leeren Händen da. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich uniformierte Menschen, mit Maschinengewehren patrouillierten sie vor dem Eingang eines Geldinstituts. Ich ging hin und erklärte ihnen mit Händen und Füßen, durchsetzt von ein paar Brocken Englisch, dass ich gerade ausgeraubt worden sei. Gelangweilt sahen sie mich an, einer zeigte mit einer ausholenden Geste auf ein Gebäude fünfzig Meter weiter. »Police«, sagte er und sah über mich hinweg. Ich ging in die Polizeistation hinein und versuchte mich dort einem Beamten gegenüber verständlich zu machen. Er sah mich an, klopfte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Wange und fragte: »Black?« – »No, white«, sagte ich, und er wollte meinen Ausweis sehen. Sein Blick sprang von meinem Pass in mein Gesicht und wieder zurück. »Très jeune«, murmelte er, und »Marseille is une ville dangerous.« Ich hätte ihm gerne erklärt, dass das nicht stimme, dass das ein Vorurteil sei, das aus den zahlreichen Mafiafilmen stamme, die in und über diese Stadt gedreht worden sind, dass ich das aus zuverlässiger Quelle hätte, von Marie und Asra nämlich, mit denen ich von Mailand bis nach Aix en Provence gefahren war, die das wissen mussten, denn schließlich haben sie lange hier gelebt. All das hätte ich dem Beamten gerne erklärt, aber mir fehlten dazu die Gesten und die Wörter auf Englisch, von Französisch ganz zu schweigen. Ich nickte, wollte aufstehen und gehen, aber da nahm er mich am Arm und meinte: »Not eighteen, tu must stay ici.« »What?«, stieß ich hervor, und er sah mich ernst an: »Tu stay ici, I will appeler your parents.« »But … but I …«, versuchte ich zu protestieren, aber da hatte er mich schon in eine Zelle geschoben und hinter mir abgeschlossen.
Da saß ich nun, in Polizeigewahrsam. Anstatt durch die Stadt zu spazieren, anstatt durch den Hafen zu streunen und das Kommen und Gehen zu beobachten, musste ich mich für die Nacht in dem kleinen kahlen Raum einrichten. Die prächtige Treppe, die sich wie eine Kaskade in die Stadt hinunterergoss, hatte mich schnurstracks ins Gefängnis geführt. Nein, auch hier war ich nicht gut angekommen, ebenso wenig wie in dem Dorf, in das meine Eltern gezogen waren auf ihrer Suche nach einem besseren Leben, die sie aber nur in den Schlachthof geführt hatte, wo sie ihre Tage mit Hilfs- und Putzarbeiten verbrachten, ihre langen Tage, die jetzt, nachdem ich abgereist war, wohl mit der bangen Hoffnung endeten, ich könnte plötzlich wieder nach Hause, ich könnte vielleicht doch wieder zurückkommen. Habe ich mich nicht auch auf den Weg gemacht, um wenn schon nicht ein besseres, so doch ein weiteres Leben zu finden? Und wo war ich gelandet, schon am Tag meiner Ankunft? In Gedanken so kratzig wie die Filzdecken auf den Zellenpritschen war ich verstrickt, als sich die Tür öffnete. Ich sprang auf in der Hoffnung, ich werde nun doch entlassen und könne hinaus, hinaus in die Stadt, hinaus in den Hafen. Die Tür aber hatte sich nicht für mich geöffnet, sondern für einen anderen Menschen, der in die Zelle trottete und auf der Pritsche mir gegenüber Platz nahm. Lang und verfilzt waren seine Haare, so wie die Haare der Leute von der Alten Mühle. Ein paar Wortfetzen stieß der Mensch zwischen den Zähnen hervor. An der Stimme erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Nach ein paar Augenblicken hob sie den Kopf, sagte »Bonsoir« und sah mich schief an. »What the fuck …«, zischte sie, nachdem ihre Augen ein, zwei Blicke lang auf meinem Gesicht geruht hatten. »T’es très jeune, qu’est tu fous ici?« – »No français«, stotterte ich, und sie fragte mich auf Englisch, was ich hier mache. Ich erzählte ihr von meinen Missgeschicken und fügte hinzu, dass die Polizei meine Eltern unter gar keinen Umständen anrufen dürfe, weil die nur darauf bestehen würden, dass ich zurückkehre in das Dorf, das tatsächlich eine uneinnehmbare Festung sei, mit seinen Wällen aus Gepflogenheiten und seinen Gräben des Misstrauens gegenüber allem, das sich nicht umstandslos den Anstands- und Alltagsmechanismen unterwerfe. »I will never go back, never«, rief ich, und die Frau legte ihre Hand auf meinen Arm, um mich zu beruhigen. »You don’t have to go back, I have an idea«, sagte sie. »Tiens, here is a phone number, a French phone number from Marseille.« Ich solle einem anderen Polizeibeamten sagen, ich hätte Familie in Marseille, weshalb ich hier sei, das habe der andere Kollege leider nicht verstanden. Sollte der andere Polizist auch kein Englisch sprechen, könne sie ja für mich dolmetschen. Auf jeden Fall könne die Polizei bei der Nummer anrufen, das seien Freundinnen, die würden alles bestätigen. Aus eigener Erfahrung wisse sie, dass die Polizei hier immer froh sei darüber, keine Scherereien zu haben. »They will let you go as soon as they have the confirmation on the phone that you’ve got family here.« Ich war sprachlos vor Staunen und Dankbarkeit. Sie aber lachte nur und stellte sich vor. Stella, so heiße sie, wie Stella maris.
»Mira«, sagte ich und: »Why are you here?« Stella führte ihren Zeige- und ihren Mittelfinger an den Mund und schürzte die Lippen, als würde sie an einer Zigarette ziehen. Die Polizei habe sie auf dem Schirm, sie würde sie jedes Mal hopsnehmen, wenn sie mit ein paar Gramm unterwegs sei, dann müsse sie einige Wochen lang regelmäßig zur Kontrolle kommen. Wenn das vorbei sei, würde sie weitermachen, mit dem Rauchen und dem Verkaufen. Bis zum nächsten Mal.
Die Nacht im Gefängnis ist lang gewesen und kühl. Ich habe mich nicht überwinden können, die kratzige Filzdecke zu verwenden, also bin ich fröstelnd auf der Pritsche gelegen und habe im Halbschlaf den vorangegangenen Tagen, meiner Abreise und meinem Ankommen nach gedacht. Die Bahnfahrt nach Italien habe ich Revue passieren lassen, ich habe mich zusammengekauert im Abteil sitzen sehen, voll Angst, von jemandem angesprochen, von jemandem erkannt zu werden, voll Freude, endlich davongekommen zu sein. Vor den Fenstern ist die Landschaft vorbeigezogen und hat sich zu falten begonnen. Die leuchtenden Berggipfel und die dunklen Täler haben mich träumen lassen von den Höhen und Tiefen, die ich durchwandern, von all dem Licht, in dem ich stehen würde, und von den großen Schatten, die auf jene fielen, die versuchten, mich aufzuhalten. Ich habe an Mailand gedacht, an mein zielloses Gehen durch die Stadt, die zu groß, zu laut für mich war, an das kleine Café, in dem ich Espresso getrunken und Asra kennengelernt habe. Asra mit den dunklen Augen und der roten Jacke, die mich auf Englisch angesprochen und mir schließlich vorgeschlagen hat, mit ihr und ihrer Freundin nach Frankreich zu fahren, nicht direkt ans Meer, aber in die Nähe davon. Mit Marie und Asra im Auto, ein blauer Peugeot, die laute Musik, das Singen und Lachen, die Zigaretten und die Sandwiches, schließlich die Einladung, mit ihnen in das Dorf zu fahren, in dem sie lebten. Meine Panik davor, wieder in eine Umlaufbahn hineinkatapultiert zu werden, die ich nur kraft der fremden Saite, die in meine Existenz hinein- und hinausschwingt, verlassen kann, so wie das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Meine zögerliche Ablehnung, Maries Verständnis, Asras Unverständnis, ihre Diskussionen darüber, ob ein Leben am Land oder ein Leben in der Stadt freier und selbstbestimmter sei, alles auf Englisch, damit ich ihnen zuhören konnte, ich aber schweigend, neugierig, mit gespitzten Ohren und ängstlich. Die Erleichterung, als Marie und Asra mich in Aix en Provence am Bahnhof aussteigen ließen, Marie, die mit mir zum Schalter ging, das Ticket kaufte und mich in den Zug nach Marseille setzte. Die Aufregung, als ich Richtung Marseille abfuhr, das Kribbeln in den Armen, den Beinen, jeden Augenblick der Fahrt festhalten, jeder Lichtfleck auf den Fassaden, den Hügeln und Bäumen schien mir aus Sternenstaub. Die steinernen Kaskaden im Abendlicht, die fahlen Gesichter und gehetzten Augen, die grelle Wachstube, all das hat sich in dieser Nacht verdichtet und mich kreisen, taumeln und torkeln lassen. Irgendwann, als die ersten Morgengeräusche schon dumpf in die Zelle gedrungen sind, habe ich meine Eltern gesehen, ein verschwommenes Bild hat sich auf meine Augenlider gelegt, wie sie mit