Die Gerissene. Eva Schörkhuber

Die Gerissene - Eva Schörkhuber


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Rechtsberatung angeboten und spontane Demonstrationen bei Polizeirazzien und Deportationen organisiert. Sie sind es auch gewesen, deren Telefonnummer mir Stella auf der Polizeistation gegeben hat und die sich, ohne mich zu kennen oder auch nur den Anflug einer Ahnung von meiner Geschichte zu haben, den Polizeibeamten gegenüber als meine Verwandten in Marseille ausgegeben haben. Neben diesem aktiven Kreis der Bewohnerinnen und Bewohner hat es auch einige gegeben, die sich, wie sie es zumeist nannten, auf ihre eigene Arbeit konzentrieren wollten, unter ihnen Céline, die an einem großen Roman schrieb, der den Titel »Zeitlose Untergänge« tragen sollte; Robert, der unentwegt winzige, bis ins kleinste Detail penibel ausgestaltete Comicszenen ent- und wieder verwarf; und schließlich Stan, mein Zimmernachbar, der seine kurzen Tage und langen Nächte mit dem Lesen und Verfassen philosophischer Schriften verbrachte. Er war es auch, der mir anbot, mir mit der französischen Sprache auf die Sprünge zu helfen. Jeden Tag sollte ich eine Stunde lang zu ihm ins Zimmer kommen, um Französisch zu lernen. Vor meinem ersten Besuch dachte ich, er würde mir zunächst die einfachsten Alltagswendungen beibringen, bonne journée, au revoir, s’il vous plaît etcetera. Aber ich habe mich getäuscht.

      Als ich sein Zimmer betrat, das dunkel, verraucht und von oben bis unten mit alten, zerfledderten Büchern vollgestopft war, forderte er mich auf, ein Buch auszuwählen. »We will read this book together – en français bien sûr«, meinte er. Auf meine schüchterne Anmerkung hin, dass ich noch kein einziges Wort Französisch sprechen, geschweige denn lesen könne, schüttelte er nur den Kopf. »Take one book and – choose well«, sagte er, und ich wühlte mich auf der Suche nach einem Titel, der mir irgendetwas sagte, durch die Papierberge. Schließlich zog ich ein Buch mit einem schlichten, beigefarbenen Cover hervor. La Peste stand in großen roten Lettern drauf. Ich dachte mir, dass La Peste wohl so etwas wie Die Pest bedeutete und dass ich da wenigstens so halbwegs wüsste, worum es geht, nämlich um die schreckliche Krankheit, die es nicht mehr gab, die es aber im Mittelalter gegeben und einigen Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. Als ich dieses Buch aus einem der Stapel zog, leuchteten Stans Augen, »Bravoooo«, rief er, »that is indeed a very good choice«. Und wir begannen gemeinsam La Peste zu lesen.

      Während dieser Wochen, in denen ich mich enttäuscht von der Stadt mit dem langweiligen Alten Hafen abgewandt habe, haben mich von den ganzen Aktivitäten im Haus vor allem die Feste interessiert. Sie sind nicht so schön und stimmungsvoll gewesen wie in der Alten Mühle, wo Pete, Agnès und die anderen mit ihrer Musik flüchtige Unendlichkeiten in die Ohren, die Herzen und Köpfe der Dorfbewohner gelegt hatten. An sie erinnere ich mich gerne.

      Die Alte Mühle lag wenige Kilometer außerhalb des Dorfes am Fluss, ein großes, altes Steinhaus mitten in einer grünen Auenlandschaft. Wie lange die Mühle schon nicht mehr bewirtschaftet worden war, hatte ich nicht herausfinden können, ich kannte sie nur als verlassenes und immer etwas unheimliches Gemäuer. An jenem fünfzehnten Mai, am Tag des ersten Festes, aber hatte sich das gesamte Dorf auf den Weg zur Alten Mühle gemacht. Um Punkt halb sieben Uhr abends standen alle auf der Wiese vor dem Steinhaus. Die Abenddämmerung legte einen blauen Lichtschleier auf die Granitsteinmauern, die satten Grüntöne der Wiesen und Bäume vertieften sich in ein dunkles Moll. Vor dem Eingang zur Mühle hingen Papierlampions, aus Pappmaché geformte Vögel, die mit ihren Lichtflügeln helle Flecken in die blaue Luft zeichneten. Die Stille, die sich über den Platz gelegt hatte, begann zu vibrieren, ein zarter Ton schwang sich auf, über unsere Köpfe hinweg flog er auf der Suche nach Weite. Ich drängte mich durch die Menge, um das Instrument sehen zu können, das diese Töne erzeugte. Vor dem Eingang zu dem alten Steinhaus saß eine Frau mit kurzen, grauen Haaren, eine seltsame tränenförmige Gitarre in der Hand. Meinen Blick konnte ich nicht abwenden von ihren Händen, mit denen sie den Saiten die Klänge entnahm, die in meinem ganzen Körper ihren Widerhall fanden. Ich wollte lachen und weinen gleichzeitig und war froh darüber, dass ich Norbert, Andrea, Stefan und Romana in der Menge zurückgelassen hatte, dass sie nicht neben mir standen und ich ihnen nicht beweisen musste, dass ich völlig unberührt blieb von den Klängen der tränenförmigen Gitarre, zu der sich nach und nach andere Saiten gesellten, Geigen- und Harfensaiten, Zither- und Violoncellosaiten. In den Lichtkegeln vor dem Steinhaus standen sie, die Menschen mit den langen verfilzten Haaren, und machten Musik. Der Abend sank langsam auf den Platz, auf die Wiese und den Auenwald, der sanfte, blaue Lichtschleier der Abenddämmerung wich einem dichteren, samtenen Gewebe. Mit angehaltenem Atem lauschten die Dorfbewohner dem Konzert. Nachdem der letzte Ton verklungen war, setzte Stille ein, schwer und leichtfüßig zugleich, ein Andante des Schweigens. Der alte Hofer, der trotz seiner schweren Krankheit zur Alten Mühle gekommen war, war der erste, der zu klatschen begann. Die anderen setzten ein und über den Platz vor dem alten Steinhaus ergoss sich schließlich tosender Applaus. Einen Augenblick lang fragte ich mich, ob vielleicht auch die anderen im Dorf eine verbotene Saite in sich trugen, die sie verbergen wollten.

      Der Applaus hielt an, die Menschen von der Alten Mühle verbeugten sich und stellten sich vor. Sie erzählten, dass sie aus verschiedenen Städten, aus verschiedenen Ländern kämen, dass sie hier in der Alten Mühle nun leben wollten, Gemüse und Obst anbauen, Fahrräder reparieren, Tische, Stühle, Schränke bauen und Holzspielzeug schnitzen. Und natürlich Feste feiern, zusammen mit allen, die im Dorf lebten. Überhaupt seien alle jederzeit willkommen, und jetzt sei auch das Buffet endlich eröffnet. Alle drängten sich in die Alte Mühle, um den Umbau, die neuen Wohnungen und Werkstätten zu besichtigen, vor allem aber, um ans Buffet zu gelangen. Von ein paar unzufriedenen Stimmen abgesehen, die sich halblaut darüber beschwerten, dass es am Buffet kein Fleisch gäbe, war die Stimmung in und vor der Alten Mühle ausgezeichnet. Alle tranken, redeten und ein paar tanzten sogar bis in die frühen Morgenstunden hinein.

      Die Feste im Haus in Marseille sind nicht so stimmungsvoll gewesen, aber sie haben mir die Möglichkeit gegeben, mich in verschiedenen Lagen auszuprobieren, mich mit verschiedenen Menschen und Substanzen bekannt zu machen. Während der ersten Abende und Nächte bin ich immer la petite gewesen, die Kleine, die an ihrem Bier genippt und ihren Platz am Rande des Konzert- und Tanzgeschehens eingenommen hat. Mit der Zeit aber bin ich aufgetaut und habe meine ersten französischen Sätze ausprobiert, die, da sie nicht an herkömmlichen Bonne-Journée-Au-Revoir-Lehrwerken, sondern an La Peste geschult waren, durchaus mit Interesse aufgenommen wurden. Von traurigen Städten im Süden des Mittelmeers, die mit dem Rücken zum Meer lagen, habe ich gefaselt, von der Absurdität der menschlichen Existenz und der Tiefe einer Humanität, die jenseits jeglicher Metaphysik liege. Der Haken an Stans Methode allerdings war, dass ich zwar durchaus in der Lage war, die Sätze aus dem Buch zu wiederholen und an die französischsprachige Frau oder an den Französisch sprechenden Mann zu bringen, aber Gespräche über mein Sätzereservoir hinaus zu führen, habe ich nicht gelernt. Die Unterhaltungen über die menschliche Existenz, das Absurde und die algerische Stadt Oran sind dementsprechend schnell versandet, und ich habe mich mit der Hilfe von Alkohol, Marihuana und anderen Substanzen entweder über den Verlust meiner Gesprächspartner hinweggetröstet oder mir Mut zugesprochen, ein neues Gespräch zu beginnen. So habe ich die ersten Wochen in Marseille verbracht, mit langen Nächten und kurzen Tagen im Haus, das in der ganzen Stadt unter dem Namen La Reine, die Königin, bekannt gewesen ist, wohl aufgrund des feuerroten Haarsegels, das sich über seiner Fassade ausgebreitet und mir beim Betreten des Hauses stets das Gefühl vermittelt hat, ein Schiff zu besteigen, ein Schiff mit geblähtem Segel, das nach egal-wohin fuhr, Hauptsache hinaus, hinaus aufs Meer, auf dem das dämmrige Blau einer vagen Sehnsucht bald einer klaren, sonnentrunkenen Sicht auf unbegrenzte Weiten weichen würde.

      Eines Tages liefen Marie und André aufgeregt im ganzen Haus herum und fragten alle irgendetwas. Stan erklärte mir, dass an diesem Abend ein Konzert stattfinden solle, ein Oud-Konzert, dass sich aber Malika, die eine Oud-Spielerin, am Finger verletzt habe und nicht spielen könne.

      »There have to be two ouds, so they are looking for someone who can play the oud. But I guess that they won’t find anybody, it is very difficult to play the oud.«

      »I can play the oud«, sagte ich, und Stan sah mich mit großen Augen an.

      »Well, a little bit, but I’ve learned it when I lived in the small village«, fügte ich noch hinzu, er aber hatte mich schon am Ärmel geschnappt und zu Marie und André geschleppt. André fiel mir um den Hals und Marie schnalzte anerkennend mit der Zunge. Sie


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