Die Gerissene. Eva Schörkhuber

Die Gerissene - Eva Schörkhuber


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Klumpen, der in meiner Brust pulsierte und seine galligen Strahlen den Rachen hinaufschickte. Gerne hätte ich die traurigen Ikonen meiner Eltern durch ein anderes Bild ersetzt, eines, auf dem sie zu sehen waren, wie sie mit Freunden im Garten saßen, wie sie Kuchen und Schnaps kredenzten, in ihren alten und neuen Sprachen Sprüche klopften. Aber es ist mir nicht gelungen, das Bild zu verändern.

      Am nächsten Morgen wurden Stella und ich gemeinsam entlassen. Stella hatte sich schriftlich dazu verpflichtet, dass sie dreimal die Woche zur Polizeistation kommen, sich melden und ihre Urinproben abgeben würde, und ich, ich hatte einem Beamten die Telefonnummer von Stellas Freundinnen gegeben, er hatte angerufen und von den Freundinnen die Bestätigung erhalten, dass ich ihre Nichte sei, auf die sie schon sehnsüchtig warteten. Von der Polizeistation traten wir in den warmen Vormittag hinaus, auf die breite Straße, auf der so viele unterschiedliche Menschen unterwegs waren, wie ich sie in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte. Menschen in zerschlissener, vor Schmutz steifer Kleidung gingen neben Menschen in silbrig schimmernden Anzügen, kräftige Rot-, Grün- und Blautöne leuchteten auf schwarzer Haut, weiße, braune und rote Köpfe bahnten sich ihre Wege, schoben sich über das Pflaster und drängten in die Busse. Ich konnte meinen Blick nicht lösen von dem Treiben, von dem farbenprächtigen Wogen und blieb wie angewurzelt vor dem Eingang der Polizeistation stehen. Stella berührte mich schließlich am Arm und fragte, wo ich denn eigentlich wohnen wolle, hier in Marseille. Ich zuckte mit den Schultern. Einen Moment lang zögerte sie und meinte dann, dass ich mit ihr kommen solle, sie wisse einen Platz, wo ich bis auf Weiteres unterkommen könne. »In the port?«, fragte ich ganz aufgeregt. »Mais non, that’s not a hotel, that’s La Reine.« Also gingen wir nicht in den Hafen, sondern die breite Straße noch ein Stück hinauf, an der Stufenkaskade vorbei, die sich vom Bahnhofsvorplatz in die Stadt hineinergoss, und bogen in eine dunkle Seitengasse ein. Auf den Treppen vor den Hauseingängen saßen Frauen in engen Kleidern und mit grellen Farben im Gesicht, mit rubinroten Lippen und türkisblauen Augenlidern. Sie rauchten und blickten gelangweilt auf die Straße. Eine von ihnen erhob sich, schritt auf uns zu, die hohen Absätze ihrer schwarzen Lackstiefel bohrten sich in den Asphalt.

      »Stella, ma chérie, tu m’as apporté quelque chose?«

      Die Stimme der Frau klang wie die in die Höhe geschraubte Stimme eines Mannes. Stella schüttelte den Kopf und wechselte mit der Frau ein paar Worte auf Französisch, ich verstand nur »police« und »désolée«. Die Frau stand mit zusammengepressten Lippen da und machte immer wieder eine Handbewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen.

      Zum Abschied küsste sie Stella und umarmte sie. Als wir unseren Weg die dunkle Straße hinauf fortsetzten, erzählte mir Stella, dass Hervé einer ihrer Kunden sei, dass er immer bei ihr das Gras kaufe.

      »He?«, fragte ich erstaunt. Sie lachte und meinte: »T’es vraiment très jeune, yes, Hervé is a man, he just works in women clothes.« An diesem Tag habe ich nicht verstanden, dass die Männer und Frauen in den engen Kleidern und mit den grellen Farben im Gesicht auf Freier, manchmal auch auf Freierinnen warteten, ich habe das wenig später selbst herausgefunden. Stella aber wollte ich an jenem Vormittag nicht mehr fragen, zu sehr habe ich ihr »t’es très jeune« gefürchtet, von dem ich damals nur erahnen konnte, dass es etwas mit mir, mit einem Mangel an mir zu tun hatte.

      Am Ende der dunklen Straße überquerten wir einen Platz, bogen danach in ein paar weitere Gassen ein und standen schließlich vor einem Haus, auf das ein großes Bild von einem Mädchen mit langen roten Haaren gemalt war. Wie ein langes, aufgeblähtes Segel standen die Haare seitlich vom Kopf weg, ein Kopf-, ein Haarsegel, das sich über der Hauswand ausgebreitet hat. Neben die Eingangstür, auf der zentimeterdick Plakate und Aufkleber geschichtet worden waren, war ein N mit Pfeil gesprayt, feuerrot wie das Haarsegel. »Nous voilà«, sagte Stella und klopfte an die Tür. Mit den zwei Frauen, die die Türe öffneten, wechselte sie ein paar Worte, und gemeinsam gingen wir in das Haus hinein, stiegen die Treppen hoch in den fünften Stock. Eine Tür zu einer kleinen Kammer öffnete sich, ein Stahlbett, ein schwarz lackierter Tisch und ein wackeliges Regal, zusammengezimmert aus unterschiedlichen Holzplatten, standen darin.

      »Here you can stay for a while.« Ich sah Stella an und ging langsam in die Kammer. »So, have a good stay here, see you.«

      Ob sie denn nicht hier wohne, wollte ich wissen. Sie meinte, dass sie hier einmal gewohnt, jetzt aber eine kleine Wohnung in der Nähe gemietet habe, »avec ma petite amie«, fügte sie hinzu und lächelte. Wir verabschiedeten uns und ich blieb in der kleinen Kammer zurück, in meiner ersten Wohnung auf einer Reise, die mich jener seltsamen Bewegung näherbringen sollte, die Menschen über Meere trägt, die den Fluchtpunkt einer wogenden Sehnsucht bildet, von dem wir ausgehen, dem wir folgen auf Pfaden, die manchmal farbenprächtig und verheißungsvoll, ein anderes Mal in ein dämmriges Blau gehüllt sind.

      Ich habe es kaum erwarten können, in den Alten Hafen zu gehen, um dort die Menschen zu beobachten, wie sie ankommen, wie sie abreisen, wie sich ihre Wege kreuzen und tangieren, wie sie ihre flüchtigen Spuren hinterlassen, bevor das Meer sie wieder fortträgt. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, durch die Stadt bin ich geschlendert, habe mich in die Gesichter der Menschen vertieft, wollte in ihnen die zurückgelegten Wege lesen wie auf Karten, in denen alle möglichen Passagen verzeichnet sind. Die Gesichter aber sind verschlossen gewesen, hier und da hat sich ein schmales Lächeln auf die Lippen gelegt, sacht und leise, die Augen hingegen haben mir keinen Einlass gewährt. Grüne, blaue und braune Blicke haben mich gestreift, gleichgültig und unbeteiligt sind sie meinen stummen Fragen nach ihrem Woher und Wohin begegnet: die alten Männer, die auf den Straßen gestanden und auf den Terrassen der Kaffeehäuser gesessen sind, vertieft in eine Schale Tee oder Kaffee, als könnten sie daraus die Zukunft, eine bessere Zukunft lesen; die jungen Männer, die an den Straßenecken Sprüche geklopft haben; die Frauen in langen, weiten Kleidern, die mit vollen Körben und Taschen ihrer Wege gegangen sind; die jeunes filles, die im schwindelerregenden Redetempo Neuigkeiten ausgetauscht haben; die Damen und Herren, die schnellen Schrittes dahingeeilt sind und ihr pardon! jedem entgegengeschleudert haben, der ihnen in die Quere gekommen ist, der ihnen hat ausweichen müssen auf den schmalen Gehsteigen. Sie alle haben mir nichts von ihrem Ankommen hier, in dieser Hafenstadt am Rande Europas zeigen wollen.

      Im Hafen selbst wird es wohl anders sein, habe ich mir gedacht und meine Schritte beschleunigt, um so schnell wie möglich hinunterzukommen. Als ich jedoch am Ende des Boulevards stand, an der Kreuzung, die ich überqueren musste, um in den Alten Hafen zu gelangen, sah ich weder die großen Schiffe noch die Menge der An- und Abreisenden, mit denen ich gerechnet hatte, sondern nur Kutter und kleine Segelboote, die im Hafenbecken vor Anker lagen. Die Menschen, die sich auf der Hafenpromenade tummelten, sahen auch nicht aus wie Seeleute oder Abenteurerinnen, sondern eher wie die Tagestouristen, die mit ihren karierten Blusen und wadenlangen Hosen in das Dorf gekommen waren. Die einzigen Schiffe, die immer wieder an- und ablegten, waren Ausflugsschiffe, die auf die nahe gelegenen Inseln fuhren. Mir wurde ganz schlecht vor Enttäuschung – das also sollte der Hafen sein, an dem all die Menschen ankamen, die ich auf den Straßen gesehen hatte, all die Menschen mit ihren braunen und grünen Augen, ihrem schimmernden Teint, ihrer farbenprächtigen Kleidung und ihren Kopfsegeln? Hier gab es kein Ankommen zu studieren, nur satte Bequemlichkeit und stupide Selbstgefälligkeit, die sich auf den Terrassen der Bars und Restaurants an den Hafenkais breitmachten, sich in die tiefen Clubsessel fläzten. Die Übelkeit, die mir dieses Szenario bereitete, trieb mich aus dem Alten Hafen fort, den breiten Boulevard hinauf und zurück in das Haus mit dem feuerroten Haarsegel, in dem ich die kleine Kammer bezogen hatte.

      Der Eindruck meines ersten, entsetzlich enttäuschenden Hafenspazierganges hat so tief gesessen, dass ich die darauffolgenden Wochen das Haus nicht mehr verlassen habe. So habe ich immerhin die bunte Gesellschaft, die in dem Haus gewohnt hat, besser kennengelernt. Die meisten sind den ganzen Tag über beschäftigt gewesen, haben Lebensmittel aufgetrieben, Veranstaltungen geplant, Kampagnen organisiert und jenen Menschen geholfen, die sich ohne Papiere in der Stadt aufhielten. Die Gruppe rund um Berthe und Louise ist mit Fahrrädern durch die Stadt gefahren, hat Supermärkte abgeklappert und Mülltonnen durchsucht, um die Hausgemeinschaft mit Essen zu versorgen. Marie und André haben sich um die Partys gekümmert, Konzerte, Lesungen und Cocktailbars haben sie veranstaltet, meistens um Geld zu sammeln. Brigitte, Claire und Aaron haben in der


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