Die Gerissene. Eva Schörkhuber
Sonnenuntergang.
An diesem Abend habe ich die Oud gespielt wie nie zuvor. Aus den Augen der Konzertbesucher hat sich der Wunsch, irgendwo, bei irgendjemandem gut anzukommen, von selbst gelöst, in kräftigen Farbtönen ist er aufgestiegen und hat den ganzen Raum in ein klingendes Farbenspiel verwandelt. Saitenweise habe ich den kratzigen Stoff durchtrennt, der über dem seidenen Sehnsuchtsgewebe lag, und ihn neu verknüpft, zu einem Teppich, der sich über die Köpfe erhob, um das Weite zu suchen. Joseph legte mir nach dem Konzert den Arm um die Schulter und meinte: »Tu joues comme une grande voyageuse.« Dass ich die Oud spielte wie eine große Reisende, war das schönste Kompliment, das ich jemals bekommen hatte. Joseph und ich sind Freunde geblieben, wir haben unser Saitenspiel bei verschiedenen Gelegenheiten fortgesetzt. Ihm verdanke ich, dass ich es zu einer ganz passablen Oud-Spielerin gebracht habe.
Nach meinem ersten rauschenden Streifzug habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, ausgedehnte Spaziergänge über die Straße, die rechter Hand vom Hafen wegführt und leicht ansteigt, durch die Passage de Lorette hinauf in den ältesten Teil der Stadt zu machen. Die Straßen und Gassen sind voll gewesen von Menschen, von Waren und verschiedenen Sprachen. Französische und arabische Wörter, auf verschiedene Arten und Weisen akzentuiert, sind durch die Luft gesegelt, in der immer auch die Gerüche von Tierfett, Kohle und Holz gelegen sind. Menschen haben hier gelebt und gehandelt, die aus Ländern jenseits des Mittelmeeres gekommen sind, aus Algerien, Tunesien, Mali, dem Senegal und vielen anderen. Ihr Ankommen in dieser Stadt hat sich meist über viele Jahre hinweggezogen, ist von Behörden, aber auch schlicht von Mittellosigkeit blockiert und boykottiert worden. Eines Tages, als ich mich wieder einmal in dem Gassengewirr des Panier, des Korbes, wie das Viertel genannt wird, verloren hatte, traf ich Renée aus unserem Haus. Sie stand bei einer Gruppe Menschen und versuchte, ihnen etwas begreiflich zu machen. So sah es zumindest aus. Sie gestikulierte und zeigte immer wieder auf ein Flugblatt, das sie unter den herumstehenden Menschen verteilte. Ich gesellte mich zu ihnen, Renée begrüßte mich und meinte, dass sie sich gleich mit den anderen, mit Pascale, Georges und Martine treffen würde, ich solle doch mitkommen. Wir schlenderten zu einem kleinen Platz, auf dem sich ein Café mit einer einladenden Terrasse befand. Wir setzten uns an einen der Tische. Aus dem Dunkel des Cafés, in dem sich eine kleine Bar abzeichnete, auf der schmutzige Gläser und blaue Tonvasen mit Sonnenblumen standen, trat eine großgewachsene Frau. Sie trug eine Art Turban, leuchtend gelb türmte sich der Stoff auf ihrem Kopf. »Mesdames?«, fragte sie und lachte. Renée bestellte einen café und ich ein Glas Mineralwasser. Sie fragte mich, wie es mir denn hier, in Marseille, gefiele. Ich schilderte ihr meine Eindrücke, sprach auch kurz von dem Ankommen, das ich kennenlernen wollte.
»Oui, c’est vrai. Arriver ici, c’est vraiment difficile«, seufzte sie und erzählte mir, dass die rafles, die Razzien, zunahmen, bei denen Menschen ohne offizielle Ausweisdokumente festgenommen und abgeschoben wurden. »Tu sais, il y aura un autre problem avec cette ville«, sagte sie, nachdem sie ein paar Sekunden lang gedankenverloren in ihrem Kaffee gerührt hatte. Die Stadt werde nach und nach herausgeputzt, um zahlungskräftigere Menschen als die jetzt Ankommenden anzulocken. Noch sei davon nicht allzu viel zu bemerken, doch die Bautätigkeiten hätten schon eingesetzt und würden sich im Laufe der kommenden Jahre über das gesamte Stadtzentrum ausbreiten. Wie Fäulnis würden sich die Fassadensanierungen – denn darum ginge es, um prächtige Fassaden und nichts weiter – hinauffressen, vom Alten Hafen bis hin zur Joliette. Was mit all den Menschen, die hier lebten, die die alten Häuser bewohnten, geschehen werde, wollte ich wissen. Renée verzog das Gesicht. Sie presste die Lippen aufeinander und zog die Mundwinkel nach unten. »Alors«, sagte sie, die würden verdrängt und vertrieben werden, entweder zurück in ihre sogenannten Heimatländer, die viele aber gar nicht kannten, da sie hier geboren seien. Oder sie würden hinausgedrängt werden an die Ränder der Stadt, in die quartiers nords, die Banlieues. Diese riesigen Wohnviertel waren berüchtigt und sehr schlecht angebunden an das Stadtzentrum. Die U-Bahnen verkehrten auf diesen Strecken nur bis zum späten Nachmittag und die Busse waren unzuverlässig. Für all jene, die kein Auto besaßen, war es so gut wie unmöglich, regelmäßig in die Stadt zu pendeln, zur Schule oder zur Arbeit ins Zentrum zu fahren. Am glücklichsten seien noch jene, meinte Renée, die nach Noailles, in das Marktviertel hinter dem Alten Hafen ziehen könnten. »Pourtant«, sagte sie, auch das sei nur eine Frage der Zeit, bis sie auch aus dieser Gegend vertrieben werden würden. Sie vermute, dass es im Fall von Noailles Vernachlässigung sein werde, die die Menschen aus ihren Häusern treiben würde. Sie traue der Stadtverwaltung sogar zu, die Häuser einfach einstürzen zu lassen, um die wertvollen Grundstücke verhökern zu können. Menschenleben hin oder her, das seien Männer und Frauen, die der Stadt nicht allzu teuer wären. Wir schwiegen eine Weile. Ich versuchte mir vorzustellen, wie die Straße, die vom Alten Hafen wegführte, aussehen würde ohne die Menschen, die ihre Tage vor den Häusern verbrachten, ihre Waren feilboten, aßen und tranken und in ihren kehligen Lauten und Akzenten Neuigkeiten austauschten.
»Mais ça va changer toute l’atmosphère dans la ville«, sagte ich und Renée nickte.
»Mais oui, imagine-toi …« und dann beschrieb sie mir, wie die Straßen und Viertel bald aussehen würden. Eine Straße mit protzigen Hausfassaden, die Häuser würden großteils leer stehen, sie würden nichts anderes mehr beherbergen als Anlagekapital und potemkinsche Straßenläden. Wahrscheinlich würde der Stadtverwaltung nichts anderes einfallen, als die leer stehenden Geschäftslokale mit großen Plakaten zuzukleben, auf denen Straßenszenen, geschäftiges Treiben und schöne, einkaufende Menschen abgebildet seien. Dieser potemkinsche Straßenzug würde, so stellte ich mir vor, in seiner aufpolierten Herrlichkeit gespenstischer sein als jetzt mit seinen Schattenspielen vor abbröckelndem Stuck, vor von Feuchtigkeit angeschwärztem Mauerwerk.
»Et est-ce que tu penses que ça va arriver aussi au Panier?«, fragte ich. Renée ließ ihren Blick über den kleinen Platz schweifen und schüttelte dann sachte den Kopf. Nein, sie glaube, dass den Panier mit seinen schmalen Gassen ein anderes Schicksal ereilen werde, schmucke Boutiquen, Cafés und Restaurants würden sich ansiedeln, die die Touristen aus dem Alten Hafen anlockten und den längerfristig Ankommenden immer weniger Raum ließen. Ich malte mir aus, wie sich statt des Duftgewebes aus Tierfett, Kohle und Holz Tourismuskitsch breitmachte, Stadtaccessoires an allen Ecken und Enden, die einen Flair verbreiteten, der die Ausdünstungen dieser Hafenstadt am Rande Europas übertünchen sollte.
Auf meinem Weg zurück durch das Gassengewirr des Panier, die Rue de la République hinunter in den Alten Hafen, fielen mir an manchen Stellen jene Bautätigkeiten auf, von denen Renée gesprochen hatte. In das Stadtbild frästen sich die ersten Schneisen, durch die Geld ein- und menschliches Strandgut ausfließen sollte. Der einsetzende Verfall dieser Stadtteile, in denen die Ankommenden lebten und aus denen sie nach und nach vertrieben wurden, hat auf seltsame Art und umgekehrte Weise mit meinem Ankommen korrespondiert. Während die einen von äußeren Kräften aus ihren Bahnen hinauskatapultiert wurden und ihre gewohnte Stadtumgebung verloren, konnte ich immer besser Fuß fassen. Es gelang mir, immer weitere Kreise zu ziehen und dabei etwas Neues in Umlauf zu bringen, so als hätte sich das Unglück der anderen derart verdichtet, dass es sich, solcherart zur Potenz genommen, in mein Glück verwandelte.
Begonnen hat alles freilich wiederum mit einer ausgesprochen unglücklichen Situation, in der ich mich befunden habe. Im Laufe der Zeit sind sowohl meine ohnehin geringen Geldreserven knapp und meine Kleidung immer abgetragener geworden. An den Kauf neuer Kleidung war nicht zu denken, also habe ich mich, dem Vorbild von Berthe und Louise folgend, die mit ihren Fahrrädern durch die Stadt gefahren sind, um weggeworfene Lebensmittel für die Hausgemeinschaft einzusammeln, auf den Weg gemacht, um in den Mülltonnen nach noch brauchbaren Kleidungsstücken zu suchen. Und wie erfolgreich ich dabei gewesen bin! Als ich zum ersten Mal den Deckel eines Müllcontainers hochklappte und mich hineinbeugte, pochte die Scham noch in meinen Schläfen, kribbelte das Gefühl, nun am untersten Ende der Verbraucherkette angekommen zu sein, in meinen Armen und Beinen. Als ich jedoch zwischen den stinkenden Plastiksäcken einen marineblauen Pullover hervorzog, verflogen die schamvollen Bedenken und ich wühlte mich durch die Mülltonnen verschiedener Straßen und Gassen. Die erste Ausbeute war beachtlich, neben dem marineblauen Pullover fischte ich an diesem Tag zwei bunte T-Shirts und zwei Paar Hosen aus den Abfällen. Zwar hatten die Kleidungsstücke an manchen Stellen Löcher, waren da und dort ausgefranst und lädiert,