Zu Hause ist überall. Eleanor Siegl Kofler
sie nicht einmal. Aber sie konnten unsere Sprache sprechen. Als wir weg waren, wurde aus dem deutschen Schönberg das tschechische Šumperk, mit diesem Häkchen über dem S.
Und dann gab es diese riesigen Fabriken in der Stadt und an deren Rande. Das waren hohe mehrstöckige Häuser, viel zu große Häuser, voller kleiner Fenster. Tausende Menschen arbeiteten hier. Sie webten feines Tuch, das dann an die noblen Hotels und die großen Schiffe verkauft wurde. Tischtücher, Bettbezüge, weiß und glänzend und wunderbar anzufassen. Berühmte Schiffe wie die Ozeandampfer der Hapag wurden damit ausgestattet. Und ganz Österreich belieferten sie, diese Tuchmacher aus dem Sudetenland. Einer davon war mein Vater. Ich glaube, mehr als tausend Menschen arbeiteten allein in seiner Fabrik.
Dass wir reich waren, hatte ich eigentlich nicht richtig begriffen. Ich wuchs in einer wunderschönen Villa auf, das ja. Sie hatte einen großen Garten. Aber so ein großer Garten ist langweilig, wenn man ganz allein darin ist. Und ich war sehr viel allein. Papi verjagte die Kinder und die Katzen.
Meine beiden Brüder Theo und Walter waren deutlich älter als ich, Theo zehn und Walter neun Jahre. Theo war der Große und kümmerte sich kaum um mich. Er studierte schon, da hatte er keine Zeit für ein kleines Mädchen wie mich. Meistens kam ich aber gut mit ihm aus. Walter beschäftigte sich mehr mit mir. Aber darauf hätte ich auch gerne verzichtet. Dauernd heckte er irgendetwas aus. Manchmal waren seine Streiche derb. Vielleicht war er ja eifersüchtig, ich weiß es nicht.
Einmal, da nahm er mich durch den Zugang für die Kaminkehrer mit aufs Dach. Und dann sperrte er ab und ließ mich da oben allein. Bis alle aus dem Haus unten zusammenliefen, weil sie nach mir suchten.
Das Haus war nicht leer. Ich hatte Kindermädchen und es gab Bedienstete. An die meisten erinnere ich mich kaum. Eines der Mädchen war besonders grob und Schläge waren an der Tagesordnung. Nur an Herti erinnere ich mich gerne, Herta Wimmer. Sie liebte ich sehr. Sie war wie eine Mutter für mich. Ich hatte ja keine Mutter mehr. Meine war weggegangen, da war ich erst ein Jahr alt.
Herti war lieb und gefühlvoll. Und sie hörte mir zu. Und manchmal spielten wir sogar etwas miteinander. Aber dann war auch Herti weg. Mein Vater hatte auch sie vertrieben. Dabei war sie doch gar nicht schuld.
Wir hatten sie eines Tages halb tot aufgefunden. Sie wollte sich das Leben nehmen, hatte sich in den Falschen verschaut, aus Liebeskummer hatte sie das getan, die Dumme. Da jagte sie mein Vater aus dem Haus wie die Katzen und die Kinder. Es wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, wenn ich sie aus den Augen verloren hätte. Aber wir hingen aneinander und hielten Kontakt. Viele, viele Jahre später besuchte sie mich und meine Familie, als ich endlich zur Ruhe gekommen war, als meine Flucht schließlich doch noch ein Ende hatte. Und einmal fuhr ich auch nach Frankfurt, um sie zu besuchen. Und tatsächlich fand ich meine Herti in einer gefährlichen Gegend von Frankfurt. Der Hausmeister machte ein merkwürdiges Gesicht, als ich nach Herti fragte. Aber dann stand sie vor mir.
Es gab Köchinnen in unserem großen Haus, Marta und Berta, es gab einen Gärtner und seine Frau. Und es gab einen Kutscher. Der war immer mürrisch und mochte mich nicht. Und auch das Gärtnerpaar kümmerte sich nicht um mich. Sie wohnten in einem eigenen kleinen Häuschen mit einem Garten und viel Gemüse darin. Hinter ihrem Desinteresse an mir versteckte sich wahrscheinlich auch Ärger auf mich. Das kam daher, dass es eines meiner liebsten Spiele war, einen Teil der täglichen Arbeit des Gärtners zu zerstören. Damals war es Mode, mit einem Rechen Wellen in die Gartenwege zu zeichnen. Diese Arbeit verrichtete der Gärtner jeden Morgen. Und ich machte seine Zeichnungen fast täglich wieder kaputt. Der mochte mich natürlich auch nicht. Kein Wunder. Ich liebte diese bunten Kugeln aus Glas und hätte sie wie die einfachen Leute gerne in unserem Garten aufgestellt. Aber bei uns gab es nur Statuen aus Stein.
Ich war allein, ständig war ich allein. Und wenn ich einmal aus dem Haus ging, dann verspotteten mich die anderen Kinder. „A Madl mit Lederhosen an.“ Das gehörte sich nicht, das war ungewohnt. Eigentlich hat es mir nicht viel gebracht, dieses Reichsein.
Schönberg war ein Zentrum der Textilindustrie in Mähren. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die erste mechanische Spinnerei in Betrieb genommen. Und schon damals gab es Spannungen zwischen den Reichen und den Armen. Gerade einmal zwei Jahre war die erste mechanische Spinnerei in Betrieb, da brachen bereits Unruhen aus: Alles war sofort teurer geworden, die Löhne waren zu niedrig, die Arbeitszeiten zu lang. Und trotzdem hatten die Leute nicht genug zu essen. Aber mit den mechanischen Webstühlen kam auch die neue Zeit und ein Krankenhaus, ein Bahnhof, ein Gaswerk wurden gebaut. Die Stadt erhielt damit auch urbanes Flair: Prächtig wurde sie, mit Theater und Kino und einem eigenen Kraftwerk. Und große Bälle wurden gegeben. „Klein-Wien“ wurde Schönberg damals genannt, das Schönberg meines Großvaters. Mein Großvater mechanisierte seine Weberei 1889. Noch nicht einmal dreißig Jahre alt war er da.
Ich mochte Großvater immer gerne. Emil hieß er, der berühmte Emil Siegl, ein Großindustrieller, wie er im Buche steht. Sogar Juror der Weltausstellung war er etliche Jahre lang. Wir verbrachten den Sommer immer in seinem großen Haus mit Portikus nahe der protestantischen Kirche in Schönberg. Ja, sein Haus hatte tatsächlich eine Säulenhalle vor der Haustür. Sein Vater hatte es von einem bekannten Architekten erbauen lassen, vom Dänen Theophil Hansen, der auch schon das Parlamentsgebäude in Wien an der Ringstraße entworfen hatte.
Großvater lebte in diesem Haus mit der Säulenhalle vor der Eingangstür, bis er starb. Er war ein lustiger Mann. Und schießen konnte er gut. Er liebte die Jagd und war ständig auf großen Jagdgesellschaften in Slowenien, in Tschechien oder in Österreich. Schützenkönig war er auch. Ich kann mich noch erinnern, wie sie bei ihren großen Paraden durch die Stadt marschierten, die Jäger in ihren grünen Anzügen, dann starteten sie vor seinem Haus.
Großmutter kam immer in sein Büro, um ihn abzuholen. Und dann machten sie einen Spaziergang von mindestens fünfzehn Minuten. Das war für die Gesundheit. Sie waren überhaupt ziemlich gesundheitsbewusst damals. Zweimal im Jahr fuhren sie auf Kur nach Karlsbad und nach Bad Gastein. Immer gutgetan hat Großvater das dauernde Reisen aber auch nicht. In Schlesien steckte er sich schließlich bei einer großen Hasenjagd mit Typhus an. Als er daran starb, 1939, da war er schon achtzig Jahre alt. Und in seinem guten alten Schönberg war ein neues Zeitalter eingezogen. Von dem gemütlichen habsburgischen Charme war in unserem Städtchen nicht mehr viel übrig.
Großvater starb im Oktober. Da war schon Krieg. Ich wusste nicht, was Krieg bedeutete. Unsere Väter wussten es schon. „Dieser Wahnsinnige treibt uns noch in den Untergang“, hieß es. Wir wollten den Anschluss an Hitlerdeutschland nicht, nur eine Autonomie. Aber da war nichts zu machen. Wir waren gespalten. Der Riss ging quer durch die Familien. Die einen wollten den Anschluss der Heimat an Hitlerdeutschland, die anderen waren für eine Autonomie und den Verbleib im Tschechenstaat. Mein Vater war Freimaurer, der hatte mit dem Größenwahnsinnigen nichts am Hut. Sein Bruder aber, Onkel Robert, war in der SA, als Großvater starb, und er fungierte als Wirtschaftsberater der Kreisleitung der NSDAP und Ratsherr der Stadt Mährisch Schönberg. Die Sudetendeutsche Partei, offen unterstützt durch Adolf Hitler, erreichte 1935 bei den Wahlen 64 Prozent der Stimmen, habe ich später gelesen.
Und die Ortsschilder mit den tschechischen Ortsnamen am Stadtrand wurden 1938 abmontiert. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Das wussten wir im Grunde alle. Inzwischen lebten im tschechischen Viertel ja Tausende von Menschen und nicht mehr nur ein paar Hundert wie noch vor dem ersten großen Krieg. Es waren ja immer mehr gekommen, seitdem die Truppen der Tschechoslowakei im Winter nach dem Ersten Weltkrieg Schönberg besetzt hatten, ohne dass dabei auch nur ein einziger Schuss gefallen wäre.
Großvater bekam von all dem nicht mehr viel mit. Er starb noch unbehelligt in seiner schönen großen Villa Siegl. Nach Großvaters Tod zog Großmutter aus der großen Villa mit Portikus aus und in das Haus in der Schillerstraße nahe der Siegl-Fabrik im Zentrum um. Für uns war sie eine junge Großmutter. Dabei war sie eigentlich nur zehn Jahre jünger als Großvater. Aber sie spielte mit uns Kindern, Fußball auf der Wiese hinter dem Portikushaus zum Beispiel. Großmutter stand im Tor. Ich weiß noch, wie mein Bruder schrie: „Schmeiß dich auf den Boden, Oma!“ Sie war für uns da, für uns Kinder. Aber auch für die anderen, Paula von und zu Eisenstein, so hieß sie. 1957 starb sie in Wien. Ihre Tochter, Tante Paula, hatte sie, die