Zu Hause ist überall. Eleanor Siegl Kofler

Zu Hause ist überall - Eleanor Siegl Kofler


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Frau für mich. Und bei dem Kaffeekränzchen durfte ich auch nicht dabei sein. Ich musste mit unfreundlichen Kindern draußen spielen. Später ließ sie sich mit Boris in Woltersdorf, in der Nähe von Berlin, nieder. Und dort nähte sie für die Russen Uniformen. Boris kam ja aus Russland und hatte dort so seine Beziehungen.

      In Schönberg waren inzwischen unruhige Zeiten angebrochen. In der Schule lernte ich marschieren und „Heil Hitler!“ sagen. Und am Haus musste die Hitlerfahne gehisst werden. Mein Vater hatte die Fahne oft nicht draußen, er war ja Freimaurer. Er war auch nicht einverstanden mit dem, was da passierte. Viele unserer Kunden waren Juden und die waren plötzlich weg. Das spürten sogar wir. Ich weiß, hinterher haben sie alle gesagt, sie hätten das alles nicht gewusst. Aber das stimmte nicht. Wir wussten durch unsere Verbindungen, welchem Terror die Regimegegner und die Juden ausgesetzt waren. Die Mehrheit siegte. Und sie wählte den Weg in den sicheren Untergang. Wir hatten keine Freude mit dem Hitler.

      Wir müssen fliehen

      Mein Vater war nicht bei den Nazis. Genutzt hat es ihm nichts. Die Tschechen haben ihn trotzdem erschlagen, gleich nach dem Krieg. Vielleicht haben sie ihn erschlagen, muss ich sagen. So ganz genau weiß ich das eigentlich gar nicht. Ich weiß nur noch, dass er mich allein losgeschickt hat, weil er noch Ordnung machen wollte. Leere Flaschen wollte er aufklauben, die im Garten herumlagen, glaube ich. Deswegen ist er noch einmal zurück. Weil er nicht anders konnte. Sonst wäre er nachgekommen. Sie haben ihn dann verhaftet. Ich habe ihn nie wieder gesehen.

      Das glaubte ich fast ein ganzes Leben lang. Inzwischen zweifle ich daran. Denn ich habe einen Brief bekommen, den Vater damals, im Februar 1945, geschrieben hatte. Meine Erinnerung daran war verschwunden, ich hatte es wohl vergessen. Oder man hatte es mir nicht so genau erklärt. Der Brief war an die Familie in Österreich gerichtet, die mich aufnehmen sollte, an Tante Bummel. Und an mich. Und jetzt weiß ich, dass er mich absichtlich vorgeschickt hat, schon vor Kriegsende, mit tausend Mark in der Tasche und mit einem Rucksack. Und dass er sich sehr um mein Wohlbefinden sorgte, und auch gründlich darüber nachgedacht hat, was in meinen Rucksack kam, Schokolade, Speck und alles Gute, was er mir sonst noch mit hineinpackte.

      Er schrieb auch Tante Bummel und gab ihr Ratschläge. Zum Beispiel, wie mit mir umzugehen war. Wenn ich schlimm sei, dann solle sie mir eine runterhauen, stand da, das wirke gleich Wunder, schrieb Papi. Typisch, es war ganz seine Methode.

      Als Papi mich wegschickte, war ich sieben Jahre alt. Eigentlich wollten wir zusammen gehen, glaubte ich. Er hatte mir diese Tafel um den Hals gehängt. Mit meinem Namen, der Adresse und dem Ort drauf, wo ich hinsollte. Dabei musste er sich ja schon etwas gedacht haben. Aber vielleicht sollte das auch nur zur Sicherheit dienen, falls wir uns irgendwo verlieren würden. So dachte ich damals. Theo war schon weg, war schon in Sicherheit in Österreich, weil er dort studierte. Und Walchi hatten sie in die Kohlegruben gesteckt. Das war schrecklich. Er war mit seinen sechzehn Jahren ja doch noch ein halbes Kind! Aber wir konnten nichts machen. Und jetzt war also die Reihe an Papi und mir.

      Offiziell begannen die Transporte erst im Herbst 1945. Man liest, dass bei elf Transporten in einem Jahr mehr als 9.500 Deutsche aus Schönberg vertrieben wurden. Das kann schon stimmen, möglich ist das. Zum Schluss sollen nur noch knapp siebenhundert Menschen in Schönberg zurückgeblieben sein, bis die neuen Siedler aus allen Teilen der Tschechoslowakei kamen. Aber die große Flucht begann eigentlich viel früher. Am Ende des Krieges ging es los. Ich weiß das, weil ich meinen achten Geburtstag schon in Saalbach feierte. Und das war am 27. September 1945. Da war ich schon weg aus Schönberg.

      Richtig schlimm wurde es im Frühjahr 1945, nachdem die Russen einmarschiert waren. Manche nennen es die Zeit der „wilden Vertreibungen“, habe ich gelesen. Es war die Rache der Tschechen. Alte Männer wurden aus ihren Häusern getrieben. Und sie ließen sie „tanzen“ und standen höhnisch grinsend rundherum. Die Deutschen mussten Armbinden tragen, also die, die sich unter Hitler als „deutsch“ deklariert hatten. Später wurde viel debattiert, ob es unter Hitler nicht gefährlich gewesen wäre, sich nicht als „deutsch“ zu deklarieren. Aber das ist im Grunde auch egal. Wir waren deutsch, also hat Papi uns auch als „deutsch“ erklärt.

      Es ging um die sogenannten Beneš-Dekrete und es ging um viel Geld. Diese 143 Dekrete des Präsidenten der Republik wurden noch während der deutschen Besetzung der Tschechoslowakei von der Exilregierung in London und später von der Nachkriegsregierung erlassen. Am 28. März 1946 wurden sie von der provisorischen tschechoslowakischen Nationalversammlung gebilligt. Auf einen kurzen Nenner gebracht, besagten die Dekrete: Wer sich als „deutsch“ erklärt hatte, durfte verjagt werden. Dies betraf 2,9 Millionen Menschen in der Tschechoslowakei, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Sie wurden zunächst zu Staatsfeinden erklärt und daraufhin ausgebürgert. Die Dekrete legalisierten die Enteignungen und Abschiebungen nachträglich, obwohl sich das aus deren Wortlaut kaum ableiten ließ. Es war nämlich nie von einem ausdrücklichen Vertreibungsdekret oder einem Vertreibungsgesetz die Rede. Vertrieben wurden wir trotzdem. Danach hatten wir nichts mehr. Die Dekrete sind von der tschechischen Regierung noch immer nicht aufgehoben, denn dann müssten die Tschechen ja das viele Geld wieder zurückgeben.

      Es sei ein Verfassungsnotstand gewesen, hieß es damals. In Wirklichkeit war es die Rache für die Vertreibung und Ermordung der tschechischen Bevölkerung. Und für die „Umvolkung“ der „rassisch geeigneten“ Tschechen unter den Nazis, wie sich das damals nannte. Natürlich waren keine Juden und keine Regimegegner „umgevolkt“ worden, diese hatten „Sonderbehandlung“ bekommen und das bedeutete Vernichtungslager. Der „frei gewordene Raum“ war mit Deutschen besiedelt worden. So war das. Und nun vertrieben die Tschechen uns. Das verstand sogar ich als Kind. Nicht ganz genau. Aber dass die anderen wütend auf uns waren, das verstand ich. Das konnte ich spüren. Unter den Nazis hatte ich in der Schule den Stechschritt gelernt. Jetzt lernte ich das Weglaufen.

      Ein Deutscher in Schönberg durfte nichts mehr haben. Kein Radio, kein Musikinstrument, kein Fahrrad. Und zum Arzt durften die Deutschen auch nicht mehr. Es gab aber tschechische Ärzte, die sich über das Verbot hinwegsetzten und die Deutschen trotzdem behandelten, erinnerten sich später andere Menschen aus Schönberg, deren Berichte ich gelesen habe. Aber sie sagen, man hätte mitten in der Nacht zum Arzt gehen müssen, um nicht erwischt zu werden. Mal hieß es, in drei Tagen würde man ausgewiesen, dann wieder, die Ausweisungen würden eingestellt. Es war nur noch Unsicherheit da.

      Vater wartete nicht, bis sich das entschied. Er schickte mich vorher weg. Aber er kam nicht mit. Er kehrte noch einmal um und sagte mir, er müsse noch etwas im Garten richten. So erinnere ich mich. Ich solle schon einmal vorausgehen. Das tat ich dann. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Viel später erfuhr ich, dass er im August 1945 im tschechischen Internierungslager Hodolein bei Olmütz sein Leben verloren hatte, ermordet worden und in ein unbekanntes Massengrab gekommen war. Gemeinsam mit Walter, meinem Bruder, und Christian, meinem Cousin, schaltete ich 2002 eine Todesanzeige für ihn in der Sudetenpost. So viele Jahre später. Ich weiß nicht, wie und warum er ins Lager bei Olmütz gekommen ist. Ich weiß auch nicht, warum er dort umgekommen ist. Sie haben es mir nicht gesagt.

      In Österreich gibt es genug zu essen

      Ich selbst sollte nach Österreich, wo Papi Freunde hatte, Tante Bummel und Onkel Erich, die eigentlich Franzels hießen. Sie warteten auf einem Bauernhof in Saalbach auf mich. Das Problem war, dass ich keine Papiere hatte und deswegen überall geschmuggelt werden musste. Als Erstes war da ein alter Mann auf einem Leiterwagen, der mich weiterbeförderte. Auf dem Rücken trug ich einen Rucksack, im Arm hatte ich eine Puppe. Das weiß ich noch. Aber die genauen Etappen meiner Reise bringe ich durcheinander. Irgendwann war ich in einer prachtvollen Villa in Zell am See, da war ich wohl auch bei Bekannten untergebracht. Eine Nacht verbrachte ich in einem Waisenhaus für Babys. Die Schwestern ließen mich die Babys frisieren. Aber die hatten im Großen und Ganzen Glatzen und viel zu frisieren gab es da nicht. Außerdem hatten sie Schorf auf dem Kopf und man musste vorsichtig mit ihnen sein. Wahrscheinlich hatten mir die Schwestern diese Arbeit nur aufgetragen, weil sie mich beschäftigen wollten.

      Das sind so ein paar Etappen meiner Reise. An mehr


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