Zu Hause ist überall. Eleanor Siegl Kofler

Zu Hause ist überall - Eleanor Siegl Kofler


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für die Soldaten im Gepäck. Aber ich schweife ab.

      Ich lebte also in diesem großen Haus und war meistens allein. Ich hatte so eine Marotte, die ich mir eigentlich auch nicht erklären kann. Immer, wenn ich herumsaß und so vor mich hin stierte, schnitt ich Löcher in meine Schürze. Meistens saß ich vor einem Fenster und schaute gedankenverloren hinaus. Und mit einer Schere in der Hand machte ich die Löcher in die Schürze. Die Schere hatte fast so etwas wie ein Eigenleben. Es war nicht mein einziger Tick. Auch mit den Augen zwinkerte ich ständig, selbst wenn die Sonne nicht schien. Ich war ein nervöses kleines Mädchen.

      Oft setzte es Schläge von den Kindermädchen oder auch von irgendjemand anderem im Haus. Wahrscheinlich hatte ich es verdient. Wir hatten Flüchtlinge aufgenommen, eine Mutter und zwei Kinder aus dem zerbombten Deutschland. Wenn ich mein Spielzeug nicht mit ihnen teilte, war immer ich die Böse. Dabei holten sie es sich so oder so, ganz egal, was ich auch versuchte. Und die Mutter der beiden erklärte mir mit gewichtiger Miene, jetzt würden die Herzen der beiden meinetwegen bluten, weil ich mein Spielzeug nicht freiwillig herausgerückt hatte. Ich konnte mir nicht so richtig vorstellen, was das bedeuten sollte, dass ihre Herzen bluteten. Aber es beeindruckte mich sehr.

      Ich mochte Streiche. Von den anderen Kindern auf der Straße hatte ich gelernt, wie man klingelte und dann schnell davonlief. Und wie man den älteren Leuten nachrief: „Brekekekeks, alte Hex!“ Das Schönste aber, das Allerhöchste, war es, den blanken Popo herzuzeigen. Das garantierte immer die maximale Reaktion: entweder Schimpfen oder Empörung oder Lachen – alles war mir recht. Manchmal ging ich mit Papi auf die Bleiche, wo die Stoffe aus der Fabrik gebleicht wurden, indem man sie auf der Wiese in der Sonne ausbreitete. Dort gab es auch Artischocken und Tabakpflanzen und die ernteten wir, sogar Papi half mit. Der Tabak wurde dann aufgefädelt und in der Küche aufgehängt, bis er trocken war. Daraus wurden die Zigarren für meinen Vater gemacht.

      Jedes Jahr am Ostermontag gab es einen eigentümlichen Brauch. Wir nannten es „Schmeckostern“. Da durften die Männer die Frauen versohlen und jagten mit einer Gerte in der Hand den Frauen und Mädchen hinterher. Die jungen Burschen nutzten das aus und liefen von Haus zu Haus. Die Frauen im Haus und ich versteckten uns, so gut es ging. Denn Papi war immer mit Begeisterung bei der Sache.

      Auch mein Bruder Walter liebte Streiche. Viel zu oft wurde ich deren Opfer. Auf der Schaukel zum Beispiel drehte er mich so lange ein, bis sie schon ganz hoch oben hing. Und dann ließ er wieder los und haute ab. Die Schaukel mit mir darauf drehte sich natürlich immer schneller und mir wurde speiübel. Mehrere Male musste ich mich übergeben. Und zu Weihnachten, als die Spannung schon richtig groß war und ich es kaum noch erwarten konnte, nahm er mich bei der Hand und ging mit mir zu dem Zimmer, wo die Bescherung stattfinden sollte. Dann sagte er: „Schau durchs Schlüsselloch!“ Ich tat, was er wollte, und sah meinen Vater und meinen älteren Bruder Theo, wie sie gerade einen riesigen Baum schmückten. Das war’s dann mit dem Christkindl. Ich war schon sehr enttäuscht.

      Aber nicht so enttäuscht wie damals, als das mit dem Hasen passierte. Im Garten saß nämlich eine Zeit lang ein weißer Hase in einem kleinen Stall. Und jeden Tag ging ich hinunter, um Gras und Klee zu rupfen und ihn zu füttern. Und Karotten brachte ich ihm auch. Ich liebte ihn sehr. Aber eines Tages war er plötzlich nicht mehr da. Ich lief im ganzen Haus herum und fragte jeden, wo der Hase denn hin sei. Aber niemand gab mir eine Antwort. Irgendwann bekam ich sie dann doch, diese Antwort. Und lieber hätte ich die Wahrheit nie erfahren. Die Köchinnen konnten es sich nämlich nicht verkneifen, mir zu erzählen, dass ich den Hasen zum Mittagessen hatte. Ich war todunglücklich. Die beiden fanden das urkomisch. Wahrscheinlich war das ihre kleine Rache dafür, dass ich sie immer gegeneinander ausgespielt hatte. Ich aber hatte einen Freund verloren. Als ich viele, viele Jahre später genau dieselbe Geschichte in einem Buch über ein siebenjähriges Mädchen las, Little Girl Lost von Barbie Probert-Wright, da war ich sofort wieder traurig.

      Nein, eine richtig schöne Kindheit war das nicht. Ich war auch oft kränklich, häufig hatte ich Bronchitis. Dann musste ich mit der Kutsche zum Arzt fahren. Ich mochte dieses Gefährt aber nicht, es war mir unheimlich. Innen war es pechschwarz und ich fürchtete mich, wenn ich darin sitzen musste. Mehr als diese Fahrten zum Arzt hasste ich es aber, in den Stollen zu müssen, wenn ich Husten hatte. Das sollte gut für die Lunge sein. Und ich musste dann mit dem Fräulein da herumsitzen, einfach nur herumsitzen. Das war sterbenslangweilig.

      Das Schlimmste aber war das Essen. Mein Vater war ständig auf der Jagd und brachte immer Wild mit. Nur Walchi, also mein Bruder Walter, durfte mit auf die Jagd. Die geschossenen Tiere wurden dann in der Küche bei den beiden Köchinnen abgegeben. Und die gaben sich alle erdenkliche Mühe, um daraus ein möglichst ungenießbares Essen zu kochen. Mir wurde einfach nur schlecht, allein schon von dem Geruch. Das Wild schmeckte penetrant nach Wild, Fisch „fischelte“ und der Spinat erst! Diese Mittagessen endeten immer mit derselben Zeremonie: Ich wurde, mit dem Teller in der Hand, in den Keller geschickt. Und da saß ich dann auf einem Kohlehaufen und kriegte nichts runter. Und Walchi schnitt Fratzen am Kellerfenster, um mich in meiner misslichen Lage noch mehr zu ärgern. Mit Theo kam ich immer besser aus. Nur einmal setzte es von ihm eine Tracht Prügel, als ich Brotreste für die Mäuse in seinem Zimmer verstreute.

      Eines Abends hatte ich eine unheimliche Begegnung. Es war ziemlich dunkel und ich war noch draußen im Garten. Das Gatter stand offen und plötzlich stand da dieser Mann direkt vor mir im Garten. Ich hatte ihn nicht kommen sehen und auch nicht gehört. Ich war vollkommen erstarrt vor Angst. In gebrochenem Deutsch sagte er zu mir: „Du nicht brauchen Angst haben.“ Keine Ahnung, wo er herkam. Er nahm mich hoch und wollte mich beruhigen. Aber ich war nicht zu beruhigen. Als er das merkte, ließ er mich endlich wieder runter und verschwand. Später dachte ich manchmal an dieses Erlebnis zurück und es drängte sich mir die Vermutung auf, dass es ein Pädophiler gewesen war. Ich war ein blondlockiger kleiner Engel mit frechem Gesicht. Aber wahrscheinlich war es nicht so. Wahrscheinlich war er nur einsam so wie ich. Vielleicht vermisste er seine Kinder. Ziemlich sicher kam er aus dem Gefängnis, das nicht weit von unserem Haus entfernt war. Ja, so wird es wohl gewesen sein.

      Es gab viel in diesen Jahren, was ich nicht wirklich verstand. Es war, wie es war. Und ich verstand es nicht. Warum meine Mutter so weit weg war zum Beispiel. Das verstand ich nicht. Einmal wurde ich in einen Zug gesteckt und fuhr damit zu ihr nach Berlin. Dort in der Nähe lebte sie. Ich kannte meine Mutter kaum. Sie hatte uns ja schon verlassen, als ich gerade erst ein Jahr alt war. Viel später konnte ich mir die ganze Geschichte dann irgendwie zusammenreimen. Warum sie uns verlassen hatte.

      Meine Mutter war ein Stück jünger als mein Vater. Vielleicht hatte das ebenfalls damit zu tun, dass sie meinen Vater und uns Kinder verließ. Vielleicht hatte sie das Gefühl, etwas zu verpassen, vielleicht waren es zu viele Jahre, die zwischen meinem Vater und meiner Mutter standen, zu viel Zeit zwischen zwei Menschen, die ein Leben lang zusammenbleiben sollen.

      Meine Mutter war die Tochter eines Leinenfabrikanten aus Jägerndorf, eine Tagesreise mit der Kutsche von Schönberg entfernt. Mein Vater und sein Bruder Robert waren gemeinsam auf Brautschau gefahren. Und in Jägerndorf hatten sie drei Schwestern gefunden: Muni, Dorle und Trude. Flemmich heißen sie mit Familiennamen. Mein Onkel Robert heiratete Muni und mein Vater Dorle, meine Mutter. Die dritte Tochter, Trude, ging eine Ehe mit Hermann Larisch ein. Der war auch ein Sohn eines großen Leinenfabrikanten, nur eben in Jägerndorf. Später ist er wie ich dann im Südtiroler Bruneck gelandet, um die Lodenfabrik Moessmer wieder aufzupäppeln. Aber ich greife schon wieder vor.

      Aus der Ehe meiner Eltern gingen drei Kinder hervor. Aber dann begegnete meine Mutter Boris bei dessen Tante Agi in Schönberg. Boris Nebe war ein charmanter Schriftsteller, der schon 1917 aus Russland geflüchtet war. Und dieser Boris saß immer bei seiner Tante Agi, wenn meine Mutter dort am Nachmittag zum Kaffee ging. Und da passierte es halt – sie verliebten sich Hals über Kopf ineinander. Und dann kam es, wie es kommen musste: Die beiden hauten ab. Und sie blieben immer zusammen, in Europa, in Südamerika und auch in New York.

      Einmal also durfte ich mich mit meiner Mutter treffen. Als sie mich damals auf dem Bahnhof vom Zug abholte, war das Erste, was sie sagte: „Ja, wie schaust denn du aus?!“ Man hatte mir für die Reise Zöpfe gemacht und die gefielen ihr wohl nicht. Sie flocht sie mir sofort wieder auf. Dann fuhren wir in eine kleine


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