Gesammelte Werke. Ricarda Huch
daß die Menge der Gegner sie wahrscheinlich überwältigen werde, daß sie auf ihren Untergang gefaßt sein mußten; aber sie wollten das lieber ertragen, als das Wort Gottes preisgeben. Ihre Herzen waren voll von dem Schall der großen Bibelworte, die sie zu lesen und zu hören gewohnt waren: Wer mich bekennt, den werde ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Solche Sprüche hatten mehr Wirklichkeit für sie als die Reichstagsabschiede. Die Protestation war unterzeichnet vom Kurfürsten Johann von Sachsen, dem Markgrafen Georg von Brandenburg-Bayreuth, dem Herzog Ernst von Braunschweig-Lüneburg, dem Landgrafen Philipp von Hessen, dem Fürsten Wolfgang von Anhalt. Dazu kamen 14 Städte, darunter Konstanz, Kempten, Lindau, Memmingen, Nördlingen, Nürnberg, Straßburg, Ulm. Neben dem Landgrafen Philipp waren der Stättmeister von Straßburg, Jakob Sturm, und der Vertreter Nürnbergs, Kren, am meisten für entschlossenes Handeln eingetreten.
Seit diesem Reichstag erhielten die Neugläubigen den rühmlichen Namen der Protestierenden oder Protestanten. Wenn der Name Evangelische auf das Evangelium der Liebe und den Erlöser Christus hinwies, so zeigte der neue Name die stolze Gesinnung, die das Gewissen Gott, aber keinem menschlichen Zwange unterwirft. Die Unterzeichner der Protestation hatten öffentlich und ausdrücklich das entscheidende Merkmal des neuen Glaubens vorgewiesen, das Recht und die Pflicht ihres Glaubens ausgeübt, in jeder menschlichen Beziehung die Beziehung zu Gott vorzubehalten und die Folgen zu tragen.
Es kann in Erstaunen setzen, daß die Reformation mit dem kühnen Schritt der Protestierenden nicht durchaus einverstanden waren. Melanchthon, der sehr unter der Trennung der Nation und der Auflehnung gegen den Kaiser litt, war aufs schmerzlichste bewegt. Luther, der sich im Gegensatz zu Zwingli und seinen Anhängern wußte, mißbilligte dazu noch das gemeinsame Vorgehen mit diesen. Beide waren in Sorge vor neuen, unbedachten Schritten des feurigen Landgrafen.
Der Ausbruch des Krieges schien bevorzustehen. Man wußte, daß der Kaiser nach langer Abwesenheit ins Reich kommen wollte, befestigt in seiner Macht durch den Friedensschluß mit Frankreich und dem Papst; ohne Zweifel hatte er nun die Absicht, die Lutherei gründlich abzustellen. In aller Heimlichkeit verständigte sich Philipp schon in Speyer mit einigen Städten. Die Städte verfügten über Geld, über Geschütze und eine ausgesprochen evangelisch gesinnte Bevölkerung; sie auf seiner Seite zu haben, war ein bedeutender Vorteil. Der Landgraf sah ein, daß es vor allem notwendig war, den Gegensatz zwischen Luther und Zwingli auszugleichen, damit alle Evangelischen, namentlich alle Städte, zu einer Macht zusammengefaßt werden könnten. Neigte doch eine Anzahl gerade der mächtigen oberdeutschen Städte, wie der Landgraf selbst zur Lehre Zwinglis.
In der Verwerfung der Messe als Opferhandlung stimmten Luther und Zwingli überein. Beide teilten das Abendmahl in beiderlei Gestalt aus, indem sie die Einsetzungsworte Christi nach dem Evangelium des Matthäus der Abendmahlsfeier zugrunde legten. Auch verwarfen sie beide die von der Kirche gelehrte Transsubstantiation, wonach unter dem Wort des Priesters das Brot sich in den Leib des Herrn verwandelt, so daß nur die Akzidenzien als Farbe, Gestalt, Geschmack bleiben. Luther verwarf aber diese Lehre deshalb, weil er sie für gekünstelt und nicht durch die Einsetzungsworte gerechtfertigt fand, die eine Verwandlung überflüssig machen; Zwingli verwarf sie, weil er überhaupt nicht glaubte, daß irgendwelches Brot und Wein, Fleisch und Blut, Christi sein könnte, sondern das Abendmahl als eine Gedächtnisfeier ansah, wobei er sich auf die Worte Christi berief: »Solches tut zu meinem Gedächtnis.« Gelegentlich hat er es mit der Gedächtnisfeier der Glarner für die Schlacht bei Näfels verglichen. Es zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß eine Menge Menschen, auch Priester, an die Identität von Brot und Wein mit dem Fleisch und Blut Christi niemals ernstlich geglaubt hatten. Zwingli sprach die Meinung vieler aus, wenn er sagte, daß hier ein Wunder vorliegen würde, das dem Verstande widerstrebe, und dessen Zweck nicht ersichtlich sei. Als er nach dem Beispiel eines nordischen Theologen das Wort »ist« in den Einsetzungsworten durch das Wort »bedeutet« ersetzte, traf er das, was allen einleuchtete. Es fehlt in der Bibel nicht an Beispielen figürlicher Rede, wo etwa Christus sich den Weinstock oder die Rebe oder das Brot des Lebens nennt, die Zwingli zugunsten seiner Ansicht anführen konnte. Luther flößte diese Auffassung Schrecken ein. An diesem Punkte wurde es deutlich, wie die Religiosität sich verändert hatte, so daß auch gute und fromme Leute den Unterschied von Religion und Sittenlehre oder Religion und Philosophie nicht begriffen. Mit dem Aberglauben und dem sinnlosen Wunderglauben, der sich in die alte Kirche eingeschlichen hatte, wollten sie das Wunder überhaupt, das Übermenschliche und Unbegreifliche abschaffen. Was Luther entsetzte, war nicht nur, daß man Christi Worte nicht einfach gläubig hinnahm, wie sie gesprochen waren, daß man sich sträubte, Wunder zu glauben, es war das, daß man die Religion zu einem Gedankenwerk machen wollte, daß man die Wirklichkeit Gottes und sein Einswerden mit dem ganzen körperlich-geistigen Menschen und die Verwandlung des ganzen Menschen in göttliches Wesen leugnete. Dies war der Punkt, wo sich jenseitige Wirklichkeit zur diesseitigen herabließ; wer nicht glauben konnte, daß göttliches Wort als Fleisch und Blut im Brot und Wein den Menschen zur Vergebung der Sünde speise, der konnte auch nicht glauben, daß das göttliche Wort zur Vergebung der Sünde in Christus Fleisch geworden und zur Erde herabgestiegen sei. Glaubte Zwingli überhaupt, daß Christus Gott ist? Glaubte er an einen anderen Gott als das absolute Sein, das übrigblieb, nachdem von allem Sinnlichen abgesehen war?
Luther war fest entschlossen, seine Auffassung vom Abendmahl nicht preiszugeben. Er haßte Zwingli, der unter dem Schein evangelischer Frömmigkeit seine freigeisterische Lehre verbreitete. Er zählte ihn den Wiedertäufern zu, die überall verfolgt und hingerichtet wurden, weil auch er, so meinte Luther, alles auf seinen Geist abstelle und von dem geoffenbarten Gott nichts halte. Andererseits dachte er doch auch so praktisch, daß er den Landgrafen nicht gern verstimmen wollte, und wiederum wußte er, daß es ihm schwer wurde, dem gesellig Liebenswürdigen, im persönlichen Umgang hart zu bleiben. Als die Einladung des Landgrafen, an einem Religionsgespräch zur Ausgleichung der Verschiedenheiten in der evangelischen Lehre teilzunehmen, an ihn gelangte, wäre es ihm lieb gewesen, wenn der Kurfürst ihm die Reise verboten hätte. Anders Zwingli, der dem Landgrafen sofort antwortete, er werde kommen, selbst wenn der Züricher Rat aus Sorge um seine Person ihm die Reise verbieten sollte. Er dachte hauptsächlich daran, daß er mit dem Landgrafen und anderen evangelischen Staatsmännern seine kriegerischen Pläne ausarbeiten könnte, freute sich auch wohl darauf, den Landgrafen persönlich kennenzulernen, der ihm mit so unbefangener Wärme entgegengekommen war. Luther war gequält von dem Streit menschlicher Rücksichtnahme und der göttlichen Wahrheit, die auf Erden zu verkündigen sein Auftrag war. Wie Gideon die Sonne stillstehen hieß, damit die Schlacht gewonnen werden könne, wollte er den mächtigen Strom der Zeit, der der Gottesferne zustrebte, aufhalten und die Erkenntnis des lebendigen Gottes wieder anfachen.
Es war eine ansehnliche Gesellschaft, die Philipp im Herbst 1529 auf seinem Schloß in Marburg über der schlanken, seiner Ahnfrau, der heiligen Elisabeth geweihten Kirche, versammelt hatte, so eifrig und achtlos seiner selbst um seine Gäste besorgt, daß Luther später sagte, er sei wie ein Stallknecht einhergegangen, so daß ihm niemand den Fürsten hätte ansehen können. »Und ging doch«, setzt er herzlich hinzu, »mit großen, hohen Gedanken um.« Von Sachsen waren die Theologen Luther, Melanchthon und Justus Jonas gekommen; Zürich und die oberdeutschen Städte hatten auch Staatsmänner mitgeschickt, da es für sie sich gleichzeitig um ein etwaiges politisches Bündnis handelte. Die Straßburger Theologen Butzer und Hedio begleitete Jakob Sturm, von Basel kam der allerseits geliebte und bewunderte Oekolampad, von Philipps Theologen waren der Franzose Lambert und Schnepf anwesend. Der Landgraf hatte es Luther weislich verschwiegen, daß Zwingli selbst erscheinen würde: man durfte also wohl besorgt sein, wie die Begegnung verlaufen würde. Indessen waren die Herren doch so an Förmlichkeiten gewöhnt, daß sich alles zunächst glatt abwickelte; man machte sich gegenseitig Besuche und sagte sich Artigkeiten. Am 1. Oktober morgens um 6 Uhr begannen die Sitzungen, und zwar nahm man zuerst die weniger heiklen Gegenstände vor. Zwingli war in der hohen Stimmung des Siegers: die fünf Orte hatten sich unterworfen, hatten die Urkunde des österreichischen Bündnisses ausgeliefert, hatten sogar versprochen, Lästerungen des Evangeliums in ihrem Gebiet nicht zu erlauben. Wenn der günstige Augenblick erfaßt würde, hoffte er, daß der Widerstand der Altgläubigen auch im Reich und vielleicht sogar jenseits des Reiches, in Frankreich, zusammenbrechen würde. Luther war überrascht, daß sich Zwingli in bezug auf die Dreieinigkeit und die Gottheit Christi zufriedenstellend