Gesammelte Werke. Ricarda Huch
zu häßlicher, oft liebedienerischer Unterwürfigkeit herabsinken. Überhaupt fingen die Schwächeren an, wie die Bauern es schon immer gewesen waren, Verachtete zu werden. Es konnte geschehen, daß das, was man einst an den Frauen bewundert oder angestaunt hatte, ihre Phantasie, ihr Ahnungsvermögen, ihre Neigung zu volkstümlicher Heilkunde, sie der Verdächtigung und grausamsten Verfolgung aussetzte. Das Zeitalter des Großen Krieges, der Zerstörung und Barbarei, der Wissenschaft und des Absolutismus leiteten Hexenbrände ein.
Anfechtungen
Luther litt während seines ganzen Lebens an Angstzuständen, die so furchtbarer Art waren, daß er sie nur mit Tod und Hölle vergleichen konnte. »Alsdann weiß man nicht«, sagte er, »wo aus noch ein. Da ist kein Trost, weder von innen noch von außen, sondern alles ist ein Ankläger.« Wie in dunklen Novembernächten zuweilen von weither ein Sturm aufgrollt, sich näher und näher wälzt und anschwillt, als wolle er die Lichter des Himmels auslöschen und die Erde entwurzeln, so stürmten zuzeiten schwarze Gedanken gegen Luthers Seele und drohten sie zu ersticken. Es waren nicht immer dieselben. Als er noch jung im Kloster war, waren es, soweit er sie äußern konnte, nichtige, grundlose, leicht zu widerlegende; die sich jetzt einstellten, entstiegen seinen Taten und seiner Erfahrung und waren nicht so leicht zu bestreiten. Konnte sie noch ein Lied auf der Laute beschwichtigen, eine Melodie voll Wohllaut? Was ihn jetzt bedrängte, das waren Tatsachen, man konnte das Auge von ihnen wegwenden, aber sie blieben stehen wie Felsblöcke. Oder es waren Stimmen, die von allen Seiten bald flüsterten, bald schrien; er konnte sich das Ohr verstopfen, aber er wußte, daß jedermann sie hörte und wiederholte. Wenn man Luther einen Vorwurf oder einen Einwand machte, wies er ihn ungeduldig zurück, er gab nie zu, daß er unrecht habe; aber er war wehrlos gegen die Anklagen, die er selbst gegen sich erhob. Vor den Stürmen, die er selbst gegen sich entfesselte, war kein Ausweichen möglich, sie warfen ihn nieder und löschten ihn aus. Als Luther anfing, das Evangelium zu verkündigen, glaubte er, alle würden davon bewegt werden, an allen würde das Wort des Herrn die Sinnesänderung von der Selbstsucht zur Liebe bewirken, der befreite Sklave der Kirche würde als Kind Gottes freudig die Gebote des himmlischen Vaters befolgen. Es kam ganz anders: die Befreiung wurde ausgenutzt, um das Leben desto unbändiger zu genießen. In allen Ständen nahm die Sittenlosigkeit und Genußsucht, die Gleichgültigkeit gegen das Jenseitige zu. Die Bauern waren nach dem Bauernkriege ohnehin nicht geneigt, auf Luther zu hören, viele haßten ihn. Verarmt, wie sie waren, hatten sie keine Lust, mit ihrem Gelde Pfarrer zu erhalten, die ihnen Unterwerfung unter ihre unchristlichen Herren predigten. Luther sah das mit Schrecken. Im Papsttum war viel Aberglauben und viel Sünde im Schwange gewesen: unter dem Evangelium war des Aberglaubens nicht weniger und war der Sünde mehr geworden. Wenn die Altgläubigen solche Vorwürfe erhoben, konnte man es für Verleumdung halten; aber den Evangelischen selbst fiel es auf, wie das Laster sich breitmachte. Hans Sachs, der Luther anfangs freudig begrüßt hatte, klagte, daß die Lutheraner mit ihrem wüsten Leben die evangelische Lehre verächtlich machten. An Fasttagen Fleisch essen und das Heiraten der Mönche und Nonnen schien der Inbegriff der Religion zu werden. Melanchthon, Justus Jonas, Martin Butzer, überhaupt sämtliche Reformatoren jammerten untereinander über die zunehmende Ruchlosigkeit unter den Evangelischen. »Es wird der gemeine Mann so frech, roh und bärenwild«, schrieb Justus Jonas, »als wäre das Evangelium darum kommen, daß es losen Buben Raum und Freiheit zu ihren Lastern machen wollte.« Und Melanchthon: »Ich glaube, daß du nun zu Wittenberg besser siehst, welch ein tiefer Fall und Untergang allem Guten droht, wie groß der Haß der Menschen untereinander ist, wie sehr verachtet alle Ehrbarkeit, wie groß die Unwissenheit derer, welche der Kirche vorstehen, und vor allem, wie gottvergessen die Fürsten sind.« Ein Prediger in Ulm: »Die Herren und Obrigkeiten suchen jetzt gemeiniglich in ihrem ganzen Leben nichts anderes denn Wollust und Pracht, spielen, fressen und saufen von einer Mitternacht zur anderen … Also ist auch der Bauer und der gemeine Mann … Sie haben einen Bund mit der Hölle und dem Tode gemacht, sagen: wir wollen fressen und saufen und tun was uns gebührt, vielleicht sterben wir morgen und kommt der Dinge, die der Pfaff sagt, keines über uns.« Luther selbst war der erste wahrzunehmen, »daß die Leute jetzund geiziger, unbarmherziger, unzüchtiger, frecher und ärger sind denn je zuvor unter dem Papsttum«. Dem Kurfürsten schrieb er: »Da ist keine Furcht Gottes noch Zucht mehr, seit des Papstes Bann ist abgegangen, und tut jedermann, was er will.« »Insgemein«, sagt er an anderer Stelle, »sind Bürger und Bauern, Mann und Weib, Kind und Gesinde, Fürsten, Amtleute und Untertanen alle des Teufels.« In seiner nächsten Umgebung, in Wittenberg, erreichte die Frechheit des Lasters einen solchen Grad, daß Luther die ihm zur Heimat gewordene Stadt verlassen wollte. Es zeigte sich, daß das, was Luther als päpstliche Tyrannei und als Vergewaltigung der Natur zu brandmarken pflegte, eine wohltätige Schranke gewesen war, mit der die Weisheit von Jahrhunderten die Begierden der Menschen eindämmte oder umwandelte. Luther hatte geglaubt, die Liebe zu Gott würde hundertmal mehr Gutes wirken als der Gehorsam gegen die Kirche; aber trotz all seines Predigens achtete man den fernen unsichtbaren Gott bei weitem nicht so hoch wie die nahe, strafende Kirche. Als Ursache des sittlichen Niedergangs, der jedermann auffiel, betrachtete man allgemein, auch unter Luthers Anhängern, seine Lehre von der Unfreiheit des Willens und von der Seligkeit durch den Glauben allein ohne Werke. Viele Freunde von denen, die während der schönen Zeit des ersten freien Aufschwungs ihm zugejubelt hatten, waren irre an der Bewegung geworden und wandten sich allmählich ab: Crotus Rubeanus, der frische, unverzagte Kamerad, Pirkheimer, Ulrich Zasius, Beatus Rhenanus. Lohnte sich bei so viel täglicher Plage und Enttäuschung das Weiterleben ohne die treuen Begleiter der ersten Kämpfe? Ohne den geliebtesten, den edelsten, ohne Staupitz, der die Flamme des Glaubens in seinem Herzen entzündet hatte? Und wie, wenn sie recht hätten? Sie kamen einer nach dem andern, anklagend, drohend: Warum hast du dein Werk zerstört? Warum die gefährliche Lehre, daß der Mensch allein durch den Glauben selig werde? Daß die Werke zur Seligkeit nicht nur nichts nützen, sondern schädlich seien? Nun bleiben die Werke aus, die dem Papsttum reichlich zuströmten und vielerlei Gutes bewirkten. Es fehlte nie an Mitteln für die Spitäler, für die Schulen, für die Armen, zur Erhaltung von Geistlichen und Lehrern. Jetzt gibt niemand mehr. Warum nicht genießen, sich wohl sein lassen, die Begierden austoben, da Gott seine Gnade umsonst gibt, da er die guten Werke verachtet? Staupitz hatte geschrieben: »Sie teilen und scheiden jetzt die Werke vom Glauben, gleich als möchte man unvergleicht mit dem Leben Christi recht glauben. O List des Feindes, o Verleitung des Volkes! Derjenige glaubt gar nicht in Christum, der nicht tun will, wie Christus getan hat. – Der böse Geist gibt seinen fleischlichen Christen ein, man werde ohne die Werke gerechtfertigt, mit Anzeigung, als hätte es Paulus dermaßen gepredigt, wie ihm fälschlich und mit Unwahrheit wird aufgelegt. Paulus hat wohl wider die Werke des Gesetzes, die aus Furcht und nicht aus Liebe entspringen, in welche die Gleißner ihr Vertrauen gründen und des Menschen Heil in wichtige äußere Werke setzen, disputiert und gestritten und beschlossen, daß dieselbigen Werke nicht gut, nicht verdienstlich, sondern verdammlich seien; die Werke aber, die im Gehorsam der himmlischen Gebote, in Glauben und Liebe geschehen, hat er nie übel gedacht und von ihnen nichts denn das Beste geredet, ja sie zu der Seligkeit not und nütze verkündet.« Mein Freund und Vater, warum siehst du mich streng an? Habe ich nicht gewarnt und gesagt, aus dem Glauben fließen die Werke von selbst, und es sei kein rechter Glaube, der nicht Werke wirke? »Du hast es gesagt, als es zu spät war, du hast es mit halber Stimme gesagt, nachdem du mit lauter gesagt hattest, daß der Glaube allein ohne Werke selig mache. In der Verblendung deines Stolzes und Eigensinns hast du mich der Feigheit geziehen. Und stand ich nicht neben dir vor Cajetan? Habe ich nicht das Evangelium gepredigt, als du noch in den Banden der Kirche lagest? Ja tief, tief warst du in den Banden der Kirche verstrickt! Und jetzt verfolgst und verlästerst du alle die, die dasselbe glauben, was du damals so unbedingt, so hingegeben glaubtest, als Bösewichter und Teufel! Warst du denn damals böser, als du jetzt bist? Warum kannst du meinen Schatten nicht mehr ertragen, der ich dir lebend der teuerste aller Menschen war? Sieh die Welt an, wie sie früher war, und sie an, was du aus ihr gemacht hast. Damals sangen Chöre von Mönchen und Nonnen vor dem ewigen Licht, die Bilder der Heiligen blickten tröstend auf die Betrübten, die Menschen auf dem Felde und das Vieh auf der Weide waren umfangen von der Gnade, die Erde war voll von der Anbetung Gottes. Und jetzt? Die Prediger zanken und