Gesammelte Werke. Ricarda Huch
Religion sei nur dazu da, um die unteren Klassen im Zaum zu halten.
Die bändigende und bildende Aufgabe der Religion war von jeher namentlich von Staatsmännern in Betracht gezogen, aber auch von der Kirche selbst, die ja eine großartige und wirkungsvolle Erziehungsanstalt war. Indessen war im Mittelalter die Überzeugung damit verbunden, daß Gott angebetet werden müsse, weil Gott sei, und daß seinen Gesetzen gehorcht werden müsse, weil Gott der Herr sei und es so wolle, von ihrem Nutzen ganz abgesehen. Diese unmittelbare Gläubigkeit war schon gegen das Ende des Mittelalters stellenweise brüchig geworden. Der Gedanke des Cusaners, daß Gott an sich nicht erkennbar sei und daß die Reinheit der Erkenntnis dem Wesen und der Bildungsstufe der verschiedenen Völker entspreche, tauchte unter dem Einfluß der Renaissance mit allerlei Folgerungen wieder auf. Eine von den Fragen, die Kaiser Maximilian an den Abt Trithemius richtete, lautete: »ob ohne Beeinträchtigung des Glaubens jene weitverbreitete Meinung zulässig erscheine, welche dahin geht, daß jeder Verehrer des Einen Gottes in der Religion, die er für wahr und heilbringend halte, ohne den christlichen Glauben und die Taufe selig werden könne, wenn er von der Religion Christi keine Kenntnis hat«. Trotz der sorgsam verklausulierten Fassung der Frage hielt es der vorsichtige Abt für richtig, sie gemäß der strengsten katholischen Lehre zu beantworten; aber man kann doch aus ihr schließen, wie gelockert die Auffassung des Kaisers und vieler anderer war. Die Humanisten nahmen Freiheit des Denkens und Lehrens für sich in Anspruch, und wenn sie äußerlich am gewohnten Bekenntnis festhielten, so taten sie es teils, um nicht selbst in Ungelegenheiten zu kommen, teils aus demselben Grunde, den die Hamburger betonten, daß die Religion zur Zügelung des gemeinen Volkes notwendig sei. Der bekannte Gothaer Domherr Mutian war der Meinung, daß auf der Religion die Autorität des Papstes und Kaisers beruhe und daß ohne diese kein Mensch mehr seines Eigentums sicher sei.
Luther hat einmal gesagt: »Denn wo die Welt hätte länger so stehen sollen, wie sie stand, wäre gewiß alle Welt mahometisch oder epikurisch worden, und wären keine Christen mehr blieben.« Die Hand eines Gewaltigen hielt die untergehende Sonne des Glaubens zurück, so daß ein tiefes Abendrot den Himmel weit hinauf überflammte. Mit der Energie des Glaubens kehrten Unduldsamkeit und Verfolgungssucht zurück. Im Jahre 1542 führte Papst Paul III. durch die Bulle Licet ab initio die spanische Inquisition in Italien ein; auf den protestantischen Universitäten wurde von den Theologen, auf manchen von den Professoren aller Fakultäten, ja sogar von den Fecht- und Reitlehrern, der Eid auf die Bekenntnisschriften gefordert. Trotzdem kann man rühmend sagen, daß die Reformation den harten Glaubenszwang der mittelalterlichen Kirche gebrochen hat. Die Glaubenskämpfe haben dazu geführt, daß die drei christlichen Konfessionen im Reich nebeneinander leben und ihren Glauben bekennen konnten. In den Organen der Reichseinheit, an den Reichstagen und am Reichskammergericht waren sie vertreten, der Westfälische Frieden hat die eigentümliche Einrichtung getroffen, daß im Bistum Osnabrück ein katholischer und ein evangelischer Bischof als Landesherr miteinander abwechselten. Mochte dies gesetzmäßige gegenseitige Tolerieren der straffen Einheit Abbruch tun, der geistige Gewinn war groß. Es war ganz im Sinne des universalen Reiches, daß es allerlei Formen des Glaubens pflegte, wie es stets allerlei staatliche Bildungen umfaßt hatte, und Mitte und Vermittler des Abendlandes bleiben konnte. Wohl blieb eine Entfremdung zwischen Katholiken und Protestanten; aber der Norden und der Süden waren niemals ganz miteinander verschmolzen gewesen, ohne daß es deshalb an einem Bewußtsein der Zusammengehörigkeit gefehlt hätte. Daß es im Westfälischen Frieden gelang, trotz der tiefgreifenden Zerwürfnisse eine Einheit zu schaffen, beweist, wie stark das Gefühl der Zusammengehörigkeit in den Deutschen war. Nach einem zerfleischenden Kriege von dreißigjähriger Dauer fanden sie sich wieder zusammen. Man durfte sich einer Spannung freuen, die das geistige Leben befeuerte und bereicherte.
Allmählich verschaffte sich neben der gesetzmäßigen, beschränkten Toleranz, die ein Ergebnis der Glaubenskämpfe war, eine gesinnungsmäßige Toleranz Geltung, die mit zunehmender Gleichgültigkeit gegen religiöse Dinge zusammenhing. Stimmen erhoben sich, die von den geoffenbarten Religionen ganz absehend eine sogenannte natürliche Religion annahmen. Sie fiel mit der Lehre Christi zusammen, die von der Natur in das Herz der Menschen gepflanzt sei. Man nannte wohl das Christentum die vernünftigste von allen Religionen, weil sie den Forderungen der Vernunft entspreche. Den historischen Christus, seine Gottessohnschaft, seine Auferstehung, die Mysterien des Glaubens, ließ man beiseite.
Im 18. Jahrhundert griff in den höheren Gesellschaftsschichten die für die Religion so verderbliche Ansicht sehr um sich, daß sie als Lenkseil für die unteren Klassen, und besonders zur Stütze des Thrones da sei. Sie führte dazu, daß an den Höfen eine ölig blanke oder militärisch kommandierte Frömmigkeit Mode wurde, und auch von den gebildeten Bürgern hielten viele am sonntäglichen Kirchgang fest, um dem Gesinde und den arbeitenden Klassen ein Beispiel zu geben. Da mit der Zeit die Absicht durchschaut wurde, diente sie nur dazu, die Religion verächtlich zu machen.
Die Grenze der Toleranz blieb noch lange der Atheismus. Selbst in Thomas Morus' Utopia, wo Duldung aller Religionen vorausgesetzt wurde, war der Atheismus ausgenommen. Zwar sollten die Atheisten nicht verfolgt werden, aber sie sollten keine öffentlichen Ämter bekleiden dürfen, denn weil durch Zweifel am Leben im Jenseits die Pflichterfüllung ins Wanken komme, seien sie staatsgefährlich. Dieser flache Standpunkt des Nutzens drängt sich stets vor, sowie die Religion eine Angelegenheit des Verstandes wird; aber er war doch nicht der einzige Grund des allgemeinen Übereinkommens, den Atheisten aus der Gesellschaft auszustoßen. Gott erschien auch denjenigen, die kein Dogma anerkannten, als der feste Punkt, mit dessen Entfernung das Chaos hereinbrechen würde, ein unbestimmtes Grauen vor der Entleerung des Himmels verhinderte sie, laut und öffentlich sein Dasein zu leugnen. Trotzdem konnte es im Jahre 1675 geschehen, daß ein deutscher Fürst, Karl Ludwig von der Pfalz, der Sohn des Winterkönigs und Urenkel Friedrichs des Frommen, einstiger Führer der kämpferischen Protestanten, den Juden Spinoza, der als Atheist galt, an die Universität Heidelberg berief. Die Einladung wurde ihm vermittelt durch einen Professor der Theologie an derselben Universität, welcher ihm versicherte, der Kurfürst werde ihm die größtmögliche Freiheit im Philosophieren zugestehen, darauf bauend, daß Spinoza sie nicht zum Umsturz des öffentlichen Gottesdienstes benützen werde. Es wurde nichts daraus, weil Spinoza in einem sehr feinen Schreiben dankend ablehnte.
Wissenschaft
»Es ist nicht wahr, was der heilige Hieronymus sagt: ohne Christo sei jede Tugend ein Laster, und was Augustinus sagt: daß die Tugenden, insofern sie nicht auf Gott bezogen würden, keine Tugenden seien.« Etwa ein Jahrhundert nach Luther stellte Joachim Jungius in einer Disputation diese Sätze auf. Für die Tugenden und Laster wurde damit ein von der Religion unabhängiges Gebiet abgesteckt und der Philosophie, im besonderen der Sittlichkeitslehre oder Ethik, zugewiesen.
Man kann auch den Satz aufstellen: die Wissenschaft muß nicht notwendig zum Glauben in Widerspruch stehen. Tatsächlich bestand damals doch ein Gegensatz, teils wegen der Besonderheit des Offenbarungsglaubens, welcher eine andere Quelle für die Wahrheit nicht anerkennt und diese sogar für die gültigere hält als die menschliche Vernunft und menschliche Sinneswahrnehmungen, teils aber auch, weil das stete Untersuchen und Durchdenken der Außenwelt und der Glaube an seine Ergebnisse das Organ für das Übersinnliche, ja sogar das Organ für die unmittelbare Anschauung abstumpft, und schließlich weil sich ausgeprägter Sinn für das Übersinnliche selten zusammen mit ausgeprägtem Sinn für das Beweisbare in einem und demselben Menschen findet.
Ein gewisser Gegensatz zwischen wissenschaftlichem Denken und Glauben hatte sich schon in den Anfängen des Protestantismus bemerkbar gemacht. Luther selbst nannte zwar die Vernunft eine Hure und lehnte im Abendmahlsstreit Eingriffe des zweifelnden Verstandes in das Wort des Herrn mit Entschiedenheit ab; aber Zwingli und andere Reformatoren suchten das dem Verstande Unfaßliche als Symbol für etwas Faßliches zu begreifen, also das religiöse Geheimnis auf die Ebene des verstandesmäßig und sinnlich Erlebbaren zu verlegen, wie ja auch Luther selbst seinem eigenen Geständnis nach zuweilen vom Göttlichen wie der Schuster von seinem Leder sprach. Das Überirdische dem Begreifen näherzubringen war nun einmal eine Forderung der Zeit. In dem berüchtigten Siebengespräch