Gesammelte Werke. Ricarda Huch
der Unterschied zwischen dem Schöpfer und dem Erschaffenen verwischt werde. Kepler lagen solche Gedankengänge fern: er stand fest auf dem Boden des evangelischen Glaubens, wenn auch ohne die Engherzigkeit vieler seiner Glaubensgenossen. Überhaupt unterschied sich Kepler von den italienischen Naturphilosophen, die sich gern in Allgemeinheiten bewegten, durch den Fleiß und die Genauigkeit seiner wissenschaftlichen Untersuchungen, wie er sich von Galilei durch die Glut seines Glaubens, das Umfassende seines Geistes, das Grandiose seiner Weltbetrachtung unterschied. Durch die Verwirrung und Wildheit des Dreißigjährigen Krieges, durch die Bösartigkeit und Kleinlichkeit theologischer Zänkereien ging der Träumer erhabener Gesichte, der unermüdliche Forscher, der warmherzige Mensch schlicht und unerschütterlich. Seine Äußerungen und sein Verhalten zeugen immer von gelassener Überlegenheit. Als Denker unmittelbarer Gottesnähe sich bewußt, von Sternen musikberauscht, in menschlichen Beziehungen sein Recht behauptend, trug er doch so wenig auf, lebte er so unpathetisch, daß sein Tod vom deutschen Volke kaum bemerkt wurde. Er starb im Jahre 1650 in Regensburg, während eines Reichstages; sein Grab wurde bei der späteren Belagerung verschüttet. Es war, als sollte er seiner Ruhestätte auf Erden beraubt sein, um unter die Sterne versetzt zu werden, deren klangvolle Bahnen er aufzeichnete. Die Reihe der Naturphilosophen, in denen Mittelalter und Antike sich befruchteten, beschloß der einsame Spinoza, der die Einbeziehung der Natur in Gott, die All-Einslehre, in ein logisch aufgebautes System brachte. In die strenge Geistigkeit des Gottesglaubens, wie die Kirche ihn ausgebildet hatte, schien damit sinnlicher Schmelz und umfassende Freiheit einzuströmen, wodurch diese Philosophie ein Jahrhundert später so großen Einfluß ausgeübt hat. Zum erstenmal wurde der von der Kirche so gefürchtete Pantheismus offenkundig in das Geistesleben eingeführt. Spinoza wurde als Atheist verdächtigt und verdammt, aber seinem eigenen Bewußtsein nach mit Unrecht. Wenn er sich auch nicht zu dem Gott der Bibel bekannte, so war er doch erfüllt von jüdischer und christlicher Religiosität und setzte die Gottesliebe als Kern und Ausgangspunkt seiner Ethik. Er wollte nicht die Religion zerstören, als vielmehr die Gottesidee für die Menschheit bewahren, indem er sie auf menschliche Denkgesetze begründete.
Eine ganz andere wissenschaftliche Haltung hatte Joachim Jungius, den man den deutschen Baco genannt hat. Er ist 1587 in Lübeck geboren, das damals, obwohl im Niedergang begriffen, mit 200 000 Einwohnern noch eine bedeutende Stadt war. Sein Vater war Lehrer an dem von Bugenhagen gegründeten Gymnasium. Jungius teilte die Neigung seiner Zeit und seines Volkes für die Mathematik. Die Deutschen waren berühmt wegen ihrer Leistungen in diesem Fache. Im 15. Jahrhundert waren Peurbach und Regiomontanus führend gewesen, Mästlin, der Lehrer Keplers, soll durch seine in Italien gehaltenen Vorträge Galilei beeinflußt haben. Man könnte sich denken, daß die ausgesprochene Neigung und Anlage der Deutschen für Mathematik mit ihrer musikalischen Begabung zusammenhänge, aber auch, daß in einer Epoche, wo sie an der Unfehlbarkeit ihrer Glaubenslehren irre wurden, die Mathematik ihrem unsicher gewordenen Geiste einen neuen Halt bot. Die Mathematik hat das mit der Religion gemeinsam, daß sie ihre Sätze aus etwas im Geiste Gegebenem ableitet. Seit dem 15. Jahrhundert bemühten sich die Denker, die Mathematik auf die Philosophie und Religion zu übertragen; Nicolaus von Cusa ging damit voran. Auch Jungius war Mathematiker, er verspottete die Scholastiker, die ohne Mathematik arbeiten, die vornehm und verdrießlich auf so kleinliche Dinge wie Punkte, Linien und Winkel herabsehen, während ihr Verstand von so erhabenen Dingen wie quinta coeli essentia oder intelligentiae orbis motrices voll sei. Wenn aber Jungius die Mathematik rühmte, weil man durch sie sich dem Geiste Gottes nähern könne, indem sie das Werk Gottes, das Weltall, begreifen lehre, so war das mehr eine zeitgemäße Wendung, die mit unterlief; es kam ihm nicht darauf an, wie Kepler, den göttlichen Schöpfungsplan mitzudenken, sondern das dem Menschen unmittelbar Zugängliche, die einzelnen Erscheinungen der Sinnenwelt in ihrem Wesen zu erkennen. Er war bewußt nüchtern, die Rhetorik der Renaissance lehnte er ab. Per inductionem et experimentum omnia war sein Wahlspruch. Er war sich klar darüber, daß nur die mühsame Kleinarbeit vieler zum Ziele führen werde. Aus diesem Grunde förderte er die Gründung wissenschaftlicher Gesellschaften, deren erste sich in Italien gebildet hatte. Das Werk von Kopernikus und von Kepler beruhte zum großen Teil auf Intuition, Kepler arbeitete oft mit dem, was Novalis den Zauberstab der Analogie genannt hat; Jungius fehlte die genial-künstlerische Begabung, aber für das, was er wollte, Erkenntnis durch Wissenschaft, bedurfte er ihrer nicht. Dennoch war auch er beseelt von der Konquistadorenlust des nachmittelalterlichen Menschen, der den Ozean der Welt ohne sichtbare Grenzen vor sich sieht und die Anker zur Fahrt lichtet. Hatte man bisher die Erde als eine Haltestelle auf der Reise zum Himmel betrachtet, auf den man sich gründlich vorbereitete, während man von jener nichts zu wissen brauchte, wurde nun die Erde zur Heimat, und mit allen Sinnen grub man sich in sie hinein, um sie kennenzulernen und zu benützen.
Ein Holsteiner, Wolfgang Ratichius, eigentlich Ratke, wollte damals durch eine neue Methode des Unterrichts, hauptsächlich in den Sprachen, aber auch in anderen Fächern, eine Umwälzung des gesamten geistigen und sittlichen Lebens herbeiführen. Jungius interessierte sich so lebhaft für die Pläne dieses Mannes, daß er mehrere Jahre dem Studium derselben widmete. Es sei nicht genug, sagte er in einem Gutachten darüber, nach bloßem Gutdünken zu unterrichten und mit der angeborenen Diskretion und Gescheitheit, sondern es gehöre dazu eine besondere Kunst, die Lehrkunst, welche beständige Gründe und gewisse Regeln habe, die sowohl aus der Natur des Verstandes, der Sinne, ja des ganzen Menschen, als auch aus der Eigenschaft der Sprachen, Kunst und Wissenschaften zu erweisen seien. Er sah eine Wissenschaft der Ethik, eine Wissenschaft der Pädagogik entstehen; man sollte nicht mehr dem Gefühl und auch nicht der Erfahrung folgen, sondern Gesetzen, die sich aus dem Wesen der Vernunft und des zu behandelnden Gegenstandes ergäben, man sollte sich auch nicht durch altverehrte Autoritäten blenden lassen. Paracelsus wählte sich den stolzen Leitspruch: alterius non sit, qui suus esse potest und bahnte der Arzneikunst neue Wege, ebenso Vesalius, der Leibarzt Karls V., durch die Untersuchung menschlicher Leichname. Alle diese Gelehrten knüpften überschwengliche Erwartungen an die neuen Bahnen, die sie einschlugen. Die bedeutenden Menschen des Reformationszeitalters und der Zeit des Dreißigjährigen Krieges waren sich bewußt, den Zusammenbruch einer Welt zu erleben, über deren Trümmern eine neue erwachsen müsse. Diese Welt, die der freie menschliche Geist bewußt errichtete, mußte tadellos, sie mußte mindestens vernünftig werden, da ja die menschliche Vernunft gereift war, nicht mehr gegängelt zu werden brauchte, sondern ihre göttlichen Schwingen entfalten konnte.
Im Jahre 1628 wurde Jungius nach Hamburg berufen, der Stadt, die, vom Elend des furchtbarsten Krieges unberührt, gerade jetzt sich zum Welthandelsplatz zu entwickeln begann. Diese Meerstädte und ihre klugen, wagenden Kaufmannsgeschlechter, die gewohnt waren, die Güter der Erde zu tauschen und, wenn nötig, mit dem Schwert zu schützen, gute Rechner und gute Kämpfer, bildeten den geeigneten Hintergrund für die entschlossenen Denker. Hier herrschte Verkehr mit Holland und England, wo das wissenschaftliche Leben sich ungehinderter entfaltete als in Deutschland; die 1660 in London gegründete Sozietät der Wissenschaften erbot sich, die Kosten zur Veröffentlichung sämtlicher Werke des Jungius zu tragen.
Wie man nicht sagen kann, daß der Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus die Toleranz gefördert habe, so kann man auch das Erwachen des wissenschaftlichen Geistes nicht der einen oder anderen Konfession besonders zuschreiben. Paris zählte im Anfang des 17. Jahrhunderts 50 000 Atheisten, und verhältnismäßig ebenso viele gab es in Holland. Im katholischen Frankreich und im calvinistischen Holland verbreitete sich zuerst eine von der Religion unabhängige, auf Philosophie und Wissenschaft gegründete Bildung. Andererseits herrschte an den lutherischen und an den jesuitischen Universitäten dieselbe starre Beschränkung. Zwar hatte sich in die protestantische Theologie von Anfang an eine Art wissenschaftlicher Geist eingedrängt. Indem man die Bibel, die Quelle des Glaubens, als Historie betrachtete, wurde auch an die Bibel Kritik angelegt und konnte das Leben Christi selbst untersucht und in Zweifel gezogen werden. Die grundlegenden Dogmen wurden umstritten und zergliedert, als ob es sich um Pendelbewegung oder Kristallbildung gehandelt hätte. Aber dieser scholastische Geist verdarb mehr die Religion, als daß er der Wissenschaft genügt hätte. Soweit sich eine geistige Bewegung überhaupt abgrenzen läßt, war die Wissenschaft ein Fortwirken des Wiederaufblühens der Antike, verbunden mit der Verweltlichung des 15. Jahrhunderts, die durch Luther noch einmal zurückgedrängt waren. Nach dem allmählichen Erlöschen der späten Glaubensglut regten sich die neuen Mächte