Im Alten Reich. Ricarda Huch

Im Alten Reich - Ricarda Huch


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die Briefe müßten zur Beförderung nach Gießen getragen werden, mit der Kaufmannschaft sehe es schlecht aus, es mangle an geschickten Handwerkern und an allerlei Gewerbe. Die Schulen wären so schlecht, daß man die Kinder schon im zarten Alter auf auswärtige Schulen würde schicken müssen. Die Stadt liege an einem Abhang, so daß das Fahren in Kutschen beschwerlich und bei Schnee und Glatteis auch das Gehen für nicht wohlgeübte Fußgänger gefährlich sein würde. Kurz, Wetzlar sei, obwohl eine Reichsstadt, so gar unansehnlich, daß das Kammergericht ohne Verminderung der ihm gebührenden Achtung und selbst ohne Nachteil der Hoheit des Heiligen Römischen Reichs darin nicht wohnen könne. Niemand erwähnte die liebliche Lage der hügelumgebenen Stadt, die uns so anzieht; ein Kammergerichts-Prokurator schilderte Wetzlar »als einen bergigten, nahe an einem unfreundlichen Himmel gelegenen Ort, als einen nicht durch den Geist ihrer Bürger, sondern durch die Beschaffenheit eins von der Natur stiefmütterlich behandelten Bodens fast unwirtlichen Aufenthalt, des verjagten höchsten Reichsgerichts letztes Los und rauher Wohnsitz«.

      Es scheint indessen, daß diese schonungslosen Urteile etwas übertrieben und von Katholiken ausgegangen waren, die ein Mißfallen an der wesentlich protestantischen Richtung der Stadt hatten; denn als der Stadtrat sich bereit erklärte, den Franziskanern mehr Platz anzuweisen, ihnen das Almosensammeln zu gestatten, öffentliche Prozessionen in wie vor der Stadt zu erlauben, ja sogar die Jesuiten aufzunehmen, milderte sich der Widerstand sichtlich, und als der beflissene Magistrat außerdem noch Abschaffung der Strohdächer und Reinhaltung der Straßen und Plätze versprach, kam es zur Einigung. Eine dringende Einladung von seiten Dinkelsbühls hatte keine andere Folge als einen Wechsel von Schmähschriften zwischen den beiden Städten.

      Im Jahre 1693 konnte das Kammergericht in Wetzlar feierlich eröffnet werden, wobei der Erzbischof von Trier vom Thron herab eine Rede hielt. Anstatt jedoch die Streitigkeiten anderer zu entwirren, gerieten die Herren untereinander in schwere Mißhelligkeiten, die durch die Willkür und den Hochmut des älteren Präsidenten, Freiherrn von Ingelheim, genährt wurden. Es bildeten sich zwei Parteien, deren Mittelpunkt auf der einen Seite Ingelheim, auf der anderen der jüngere Präsident Reichsgraf von Golms-Laubach war. Während Ingelheim beschuldigt wurde, den Lauf der Gerechtigkeit zu hindern, klagte Graf von Wartenberg, ein Anhänger des Ingelheim, den Grafen Solms der Parteilichkeit an. Ingelheim drohte einem Herrn von Pyrk den Degen in den Leib zu stoßen und Nytz ging so weit zu erklären, daß Pyrk von seiner Hand sterben müsse, sei es auch in der Kirche. Kam es dazu auch nicht, so beschlagnahmte doch die Ingelheimsche Partei die Besoldung des besonders verhaßten Pyrk. Dieser scheint allerdings ein sehr bissiger, dabei nicht unwitziger Mann gewesen zu sein; er ließ das kaiserliche Reskript, das zu seinen Gunsten sprach, drucken und setzte ihm als Motto den Vers aus den Psalmen vor: »Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt, ihre Rachen sperren sie auf wider mich wie ein reißender und brüllender Löwe.« Er nannte ferner den Kammergerichts-Prokurator Flender, der zur Ingelheimschen Partei gehörte, vor Zeugen einen Schelmen und galgenwürdigen Gaudieb. Schelm und Dieb waren offenbar die damals unter Kavalieren üblichen Schimpfworte. Flender schob die von Pyrk gegen ihn ausgestoßenen Beschimpfungen zurück und erklärte, ihn so lange für einen galgenwürdigen Schelmen halten zu wollen, bis Pyrk entweder ihm ein galgenmäßiges Schelmenstück nachweise oder die ausgestoßene Beleidigung widerrufe. Pyrk unterließ beides. Inzwischen war vollständiger Gerichtsstillstand eingetreten, und die ruhigen Elemente verlangten nach einer außerordentlichen Visitation, die der Sache ein Ende mache.

      Es begab sich um diese Zeit, daß ein marktschreierischer Zahnarzt mit einer Truppe von Gauklern und Seiltänzern nach Wetzlar kam und seine Bühne auf dem Marktplatz, dem alten Rathause gegenüber, aufschlug, welches der entgegenkommende Rat dem Kammergericht abgetreten hatte. Die Gaukler führten eine Posse auf, worin als Hauptperson ein Richter figurierte, der, feierlich mit dem Szepter in der Hand, auftrat, um einen Prozeß zu führen, aber der Bestechung zugänglich war und zuletzt offener Verhöhnung anheimfiel, indem der Hanswurst die Kleider mit ihm tauschte und sich statt seiner auf den Richterstuhl setzte. Graf Solms-Laubach, der als Biedermann geschildert wird, sah die Posse für eine heillose Satire an, die das Kammergericht verspotte, und beschuldigte den älteren Präsidenten, Freiherrn von Ingelheim, der Aufführung mir Wohlgefallen zugesehen und sogar die Gaukler beschenkt zu haben. Mit Hilfe des Kaisers setzte er durch, daß der Schauspieldirektor und Zahnarzt, es war Joh. Eisenbart, seine Bühne vor dem Rathause abbrechen und an einer anderen Stelle aufrichten mußte.

      Inzwischen hatte Herr von Pyrk verschiedene Streitschriften drucken lassen mit langen Titeln, von denen der eine anfing »Gedämpftes Ehrengift«, der andere »Pyrkisches Echo oder Widerschall, d. i. abgedrungene Retorsion und Ehrenrettung«; er erklärte in der letzteren die ganze Ingelheimsche Partei für galgenmäßige Schelme. Die Kammergerichts-Visitation, die endlich in Wetzlar eintraf, verlangte zuerst von allen, die einander beschimpft hatten, die Beschimpfungen zu beweisen; das veranlaßte neue Schriften, über deren Verfassen und Drucken wieder lange Zeit hinging. Die Untersuchung schloß damit, daß Ingelheim und Nytz freigesprochen wurden, Pyrk dagegen wurde seiner Stelle entsetzt und seine Schmähschriften wurden vor seinen Augen durch den Kammergerichts-Pedellen zerrissen und ihm vor die Füße geworfen. Es war eine für die Sieger vielleicht nicht ganz so befriedigende, aber für das Opfer leidlichere Rache, als wenn man ihm, wie es vor 100 Jahren wohl geschah, das Herz aus dem Leibe gerissen und ins Gesicht geschmissen hätte. Übrigens hatten die Visitatoren wohl den Auftrag gehabt, den Freiherrn von Ingelheim zu schonen; denn Pyrk wurde bald darauf »wegen seiner beim Reichskammergericht bewiesenen Treue und nützlichen Dienste und im Hinblick auf seine bekannten guten Eigenschaften« zu einem böhmischen Oberappellationsrat auf der Herrenbank ernannt. Im Jahre 1711 wurde nach siebenjährigem Stillstand das Gericht wieder eröffnet. Fast wäre der Streit sofort aufs neue ausgebrochen, weil die Abgeordneten des gräflich wetterauischen Collegii und des Collegii der Prälaten in einem mit 6 Pferden bespannten Wagen zu fahren beanspruchten wie die Abgeordneten der Reichsfürsten; aber es gelang, den Unfrieden im Keime zu ersticken. Seit die Fehden im Reich nicht mehr mit dem Schwert, sondern mit dem Wort ausgefochten wurden, waren ihrer nicht weniger geworden, und der Verzicht auf die Selbsthilfe hatte die Menschen zwar äußerlich gesitteter, aber weichlicher, kleinlicher und würdeloser gemacht; man begreift, daß ein Jerusalem in dieser Umgebung zum Selbstmord kam, und daß der Freiherr von Stein ihr an gewidert den Rücken wandte.

      Von Zeit zu Zeit tauchte im Schoße der Kammergerichtsgesellschaft der Wunsch auf, Wetzlar wieder zu verlassen. Man zählte alle Mängel der Stadt von neuem auf: ihre schlechten Wege, die schlechte Polizei, indem das Landvolk die Preise der Waren nach Belieben selbst bestimmte, die Baufälligkeit des alten Rathauses, die Lage des Kirchhofs inmitten der Stadt. Das Beerdigen am Markte, das in fast allen Städten des Reichs schon mit dem 16. Jahrhundert nicht mehr stattfand, verursachte so heftige und gefährliche Ausdünstungen, daß man, so hieß es, im Sommer vor Sonnenaufgang über dem ganzen Platz einen blauen Dunst wahrnehmen könne. Mit einiger Nachgiebigkeit hinsichtlich der Franziskaner und Jesuiten pflegte der Rat die Anstände zu überwinden; er verlegte nun sogar den Friedhof vor die Mauern, wo sich zwar zuerst niemand begraben lassen wollte. Wie man in manchen Sagen dem Teufel, der die Brücke gebaut hat und zum Lohn die Seele dessen fordert, der zuerst hinübergeht, einen Hahn oder Pudel entgegentreibt, so schickte man hier eine verstorbene Henkersgattin voran, womit der Bann gebrochen war.

      Im Zusammenhang mit Beerdigungen entstand in der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischen dem Kammergericht und der Stadt Wetzlar ein merkwürdiger Streit. Der damalige Kammergerichtspräsident Graf Karl von Wied verlor seine Gattin durch den Tod und wollte ihre Leiche nach dem Wiedschen Erbbegräbnis in Runkel führen. Da nun sowohl die Stadt Wetzlar wie der Landgraf von Hessen als Schutzherr der Stadt das Recht in Anspruch nahmen, dem Leichnam bis an die Grenze des Stadtgebiets das Geleit zu geben, kam es zu ernstlichem Streit und sogar zu Tätlichkeiten, worauf der Graf von Wied um des Friedens willen sich dazu bequemte, die Verstorbene in der Stiftskirche von Wetzlar beisetzen zu lassen, weniger nachgiebig als der Graf von Wied war die Witwe des ersten Kammergerichtspräsidenten, jenes unbeliebten, triumphierenden Freiherrn von Ingelheim, der dreiundachtzigjährig starb. Ohne sich durch die Wetzlarer Stiftskirche locken zu lassen, ließ sie den Leichnam in einen Sack stecken und in der Abenddämmerung durch Heiducken fortschaffen, die, wie man sich erzählte, an der Grenze den Sack über die Mauer geworfen hätten.

      Es


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