Im Alten Reich. Ricarda Huch

Im Alten Reich - Ricarda Huch


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Goethe dort unsterblichen Liebesschmerz erlebte, der für alle Zukunft einen Glanz auf die alte Reichsstadt warf. Damals hatte sie nichts, um sich über ihr fadenscheiniges Dasein zu trösten, als das Bewußtsein einer schöneren Vergangenheit, das die Kaiser nährten, die ihrerseits an den letzten, ihnen gebliebenen Reichsrechten festhielten. Wenn der Landgraf von Hessen, der schutzherrliche Alp, allzu drückend wurde, wandte sich die Stadt klagend an den jeweiligen Kaiser, der dann verwarnend eingriff. Joseph I. schrieb dem Fürsten, er könne nicht gestatten, daß die Stadt Wetzlar an ihrer Unmittelbarkeit, ihren Landeshoheiten und Rechten, ihren Freiheiten und Privilegien, die sie kundbarlich von kaiserlicher Majestät und dem Reich habe, gestört und verkürzt werde; er versehe sich dazu, daß der Herr Landgraf aus dem ihm zustehenden Schutzrecht keine Gewalt und Obrigkeit machen wolle. Karl VI. erneuerte die Mahnung und fügte hinzu, er wolle nicht leiden, daß die Stadt Wetzlar gleichsam in eine Munizipalstadt umgeschaffen und unstatthaften Zumutungen ausgesetzt werde, sondern er wolle sie bei ihrer Unmittelbarkeit und den derselben anklebenden Gerechtsamen erhalten.

      Als Joseph II. die Huldigung der Reichsstädte durch Kommissare einnehmen ließ, beschloß der Stadtrat im Verein mit dem Vertreter des Kaisers, dem Grafen Franz Spauer von Pflaum und Valme, die Festlichkeit mit Pomp zu begehen. Unter dem Läuten der Glocken und Donner der Geschütze hielt der Kommissar mit vier sechsspännigen Staatswagen und einigen vierspännigen Reisewagen seinen Einzug, begleitet von vier Hofkavalieren, nämlich einem Grafen von Spauer, einem Grafen von Firmian, dem Reichsgrafen Franz Karl von Metternich zu Virneburg und Beilstein und dem Freiherrn von Sternbach, von Edelknappen, Offizieren, Heiducken, Läufern und Lakaien und schließlich von der eigens errichteten und eingeübten Wetzlarer Bürgergarde, deren Offiziere blaue Uniformen mit gelben Unterkleidern und silberne Tressenhüte trugen. Am Neustädter Tore, wo die Ehrenpforte errichtet war, überreichten Bürgermeister und Rat die Stadtschlüssel und brachten ledige Bürgerstöchter einen Blumenstrauß mit schriftlichem Glückwunsch dar. Der Huldigungseid wurde auf dem Rathause geleistet, vor demselben fand die Huldigung der Bürgerschaft und zuletzt die der Judenschaft statt.

      Trotz dieses Sichanklammerns an die Vergangenheit ging es abwärts. Im Jahre 1770 mußte die Wollenstrumpfweberzunft sich zahlungsunfähig erklären. Sie überließ die Walkmühle, die ihr gehörte, ihren Gläubigern und erklärte sich für aufgelöst. Ein großer Brand vernichtete mitten in der Stadt viele Häuser, darunter das Rathaus, den Sitz des Reichskammergerichts. Das alte Kaufhaus, wo der Stadtrat inzwischen getagt hatte, war schon Jahrzehnte vorher »bei einer gänzlichen Windstille« eingestürzt.

      Jetzt sind neue Sterne über Wetzlar aufgegangen mit elektrisch hellem Licht: die beiden größten, umgeben von einem Gewimmel kleinerer, heißen Buderus und Leitz, Eisenwerke und optische Industrie, und haben der verarmten Stadt Zustrom von Geld und Menschen vermittelt. Vor ihnen erblaßt ein wenig der sanftschimmernde Himmelsstern Goethe, der sonst etwa Besucher nach Wetzlar lockte; aber noch heute suchen zuweilen welche das ehrwürdige Deutsche Haus auf, wo Amtmann Buff als Verwalter der Güter des Deutschen Ordens wohnte, und die anmutig vornehmen Räume, wo Lotte ihren Bräutigam und seinen glühenden Freund empfing. Kaum beachten sie den großartigen Zeugen des Mittelalters, den Dom, sowenig wie der junge Goethe, versunken in den Genuß seiner Schmerzen und seines Genius, ihn gewürdigt zu haben scheint.

      Wenn man die schmale, steile Treppe hinaufsteigt, die von der Hauserstraße zum hochgelegenen Buttermarkt hinaufführt, steht man bestürzt vor dem phantastischen Bauwerk, das an den Turm von Babel erinnert, wie Maler des 16. oder 17. Jahrhunderts ihn etwa darstellten. Man fragt sich, ob das zum Dienst des Christengottes errichtet wurde, oder was für ungeheuren Göttern man hier Altäre baute. Allmählich entwirrt man sich das chaotische Gebilde: es ist ein Dom im Dom, ein alter romanischer Bau im Gehäuse eines gotischen, der nicht vollendet, so wie jener nicht ganz abgerissen wurde. Neben und hinter dem gewaltigen gotischen Turme steht der alte romanische aus schwarzem Basalt und ein dunkles altertümliches Portal mit zwei Rundbogen, in der Mitte getragen von einer zierlichen, adlergeschmückten Säule. Dieser Turm wird Heidenturm genannt, obwohl der spätere, gotische mit dem seltsam bekrönten Haupte titanischer wirkt. Der Eindruck der Absonderlichkeit läßt zuerst die Andacht der Schönheit nicht aufkommen; wenn aber die hereinbrechende Nacht das erhabene Ungetüm anhaucht und das beruhigte Monument, halb Pyramide, halb Obelisk erscheint, gibt man sich gern dem Zauber hin, der den gemütlichen Marktplatz in ein Fabelland verwandelt. Tatsächlich hat die so überraschend sich darstellende Kirche nichts Verfängliches oder Verhängnisvolles an sich; Protestanten und Katholiken teilen sich in sie, wie es scheint mit brüderlicher Vertraulichkeit.

      Außer einigen schönen Häusern, die meistens aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sind, dem Haus zum Reichsapfel, dem Gasthaus zum Römischen Kaiser, dem Gasthaus zum Adler am Kornmarkt, ferner dem Gasthaus zum Dom und dem Hotel zum Herzoglichen Haus, das zeitweise dem Kammergericht gehörte, am Buttermarkt, dem Jerusalem-Haus und anderen gutgebauten Häusern aus alter Zeit, außer der steinernen Lahnbrücke, die schon im 13. Jahrhundert da war, sowie das Hospital, von dem nur noch ein paar Glocken in das neue übergegangen sind, hat Wetzlar noch ein Denkmal besonderer Art aufzuweisen, das ich in der Frühe eines Sommermorgens aufsuchte. Aus der Stadt hinaus, am Friedhof vorüber, kommt man in die sich öffnende, von bewaldeten Hügeln begleitete Landschaft. Ein alter Wartturm taucht auf, der einst die städtische Landwehr befestigte, leuchtend wallen hügelige Fluren in die blaue Ferne. Zwischen betautem Grase am Fuße einer Anhöhe liegen zwei Steine, auf deren einem die Inschrift steht: »Monumentum facti et executionis Friderici Holstuch alias Tile Kolup, falso se imperatorem Fridericum II fingentis, in Wetzflaria capti, damnati, combusti, in hac valle imperiali tumulati, jussu imperatoris Rudolfi I MCCLXXXIV.« Auf deutsch: Denkmal der Tat und Einrichtung des Friedrich Holstuch, auch Tile Kolup genannt, welcher sich fälschlich für Kaiser Friedrich II. ausgab, in Wetzlar ergriffen, verurteilt, verbrannt und in diesem Kaisergrunde verscharrt wurde auf Befehl des Kaisers Rudolf I. 1284. Ein Herr von Gülich, dem der Kaisergrund gehörte, ließ Ende des 18. Jahrhunderts die Steine mit der von ihm verfaßten Inschrift setzen, auf der Notiz eines älteren Chronisten fußend, daß an der betreffenden Stelle sich ein derartiger Denkstein befunden haben solle.

      Viele aus den Quellen gezogene Zeugnisse sprechen dafür, daß sich wirklich am Kaisergrunde bei Wetzlar die grausige Schlußszene eines tragischen Kampfes abgespielt hat.

      Etwa dreißig Jahre nach dem Tode Friedrichs II., der in Italien sechsundfünfzigjährig starb, tauchte ein Mann auf, der eben dieser Kaiser zu sein behauptete. Es war ein schöner Greis, der dem Hohenstaufen glich; er schien sehr alt zu sein, aber er war rüstig und sein Gesicht erleuchtete oft jugendliches Feuer. Um sich zu beglaubigen, führte er Tatsachen an, die kein anderer als der Kaiser selbst oder seine nächsten Freunde hätten wissen können. Alte Ritter, die Friedrichs Feldzüge mitgemacht hatten, Bauern, Städte, ja Fürsten schlossen sich ihm an. Es war nicht nur, daß seine Liebenswürdigkeit, Leutseligkeit und Freigebigkeit hinriß: alle diejenigen, die mit Rudolfs Regiment unzufrieden waren, namentlich die Feinde des Papstes und der Pfaffen, hofften in ihm einen Führer zu finden. Dagegen bekämpfte ihn grimmig die von Rudolf begünstigte Geistlichkeit, allen voran der bei jedermann verhaßte Erzbischof Sifrid von Köln. Aus Köln verjagt, begab er sich nach Neuß, wo er begeisterte Aufnahme fand, und wo er sich zwei Jahre als Kaiser anerkannt hielt. Dieser Erfolg gab ihm den Mut zu einem allzu kühnen, aber folgerichtigen Schritte: er forderte nämlich König Rudolf von Habsburg auf, sich ihm zu stellen und seine Krone niederzulegen. Rudolf, der den falschen Friedrich bis dahin nicht recht ernst genommen hatte, rückte nun mit Heeresmacht vor Wetzlar; denn dort war der angebliche Hohenstaufe mit Freuden aufgenommen. Nicht unbewegt sah Rudolf der Begegnung entgegen; denn er hatte den Verstorbenen verehrt und hätte sich verpflichtet gefühlt, ihm zu weichen, wenn er ihn erkannt hätte; aber das war nicht der Fall. Da hingegen manche auf seine Seite traten, andere schwankten, unterwarf ihn Rudolf der Folter, die ihm das gewünschte Geständnis erpreßte, er sei ein Betrüger, heiße Dietrich Holzschuh oder Tile Kolup und habe vermittels schwarzer Kunst und Zauberei seine Rolle spielen können. Daraufhin wurde er zum Feuertode verurteilt und mit einem treugebliebenen Anhänger verbrannt, der Überlieferung nach dort, wo jetzt die Steine liegen. Auf der Anhöhe über dem Grunde standen als Zuschauer König Rudolf, Erzbischof Erich von Magdeburg, Bischof Volrad von Halberstadt, die Grafen von Anhalt, Wernigerode, Blankenburg, Leiningen und viele andere Herren und Ritter, vor allem natürlich


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