Levin Schücking: Historische Romane, Heimatromane, Erzählungen & Briefe. Levin Schücking
seines glänzend schönen Gesichtes ansehen, daß er ein Engel sei – sie ward über Nacht bis zum Sterben verliebt in ihn, bloß deshalb, weil er nie die dumme Einbildung haben konnte, daß sie es sei –
O süße Logik eines Frauenherzens!
Katharina lenkte das Gespräch nach einiger Zeit dahin zurück, von wo es ausgegangen. Bernhard äußerte sich über seine Mutter heute noch weniger als sonst; aber er sagte mit einer Betonung, als kämen die Worte tief aus einem wunden Herzen, daß eine Mutter nie eine Sünderin sei.
»Eine Sünderin? Was wollen Sie damit sagen, Bernhard?«
Bernhard schwieg.
»Ich glaube fast,« fuhr das Stiftsfräulein fort, »Sie tun Ihrer Mutter, welch guter Sohn Sie auch immer sind, doch in Ihrem geheimsten Denken unrecht, lediglich weil Ihnen der Schlüssel zu all ihrem Wesen fehlt.«
»Den glaub' ich zu haben; Gott hat ihr ein tiefes Gemüt gegeben, das ebenso viel Kraft schlauen Verstandes als Schwäche der Vernunft hat, wo Leidenschaften zu bekämpfen sind. Sie ist ein großartiger, gewaltiger Charakter; der Mann und das Weib sind gleich stark in ihr.«
»Lieber Bernhard, der Mensch wird wie ihn die Welt erzieht; ich achte Ihre Mutter, aber ich glaube, daß die Großartigkeit ihres Charakters nur Folge großartiger Schrecken sei, die sich ihrer jugendlichen Phantasie eingeprägt haben. Sie wäre vielleicht ein sanftes, weiblich liebenswürdiges Weib geblieben, hätten sie nicht unbegreifliche Ereignisse gewaltsam in einen Gedankenkreis gezogen, dem sie bei aller Verstandeskraft doch nichts weniger als gewachsen ist.«
»Schreiben Sie jenen Ereignissen auf meines Großvaters Hofe eine solche Gewalt zu?«
»Auf Ihres Großvaters Hof? Kennen Sie denn die wunderbare Geschichte mit den Kindern nicht?«
»Mit den Kindern? Mit welchen Kindern?«
»Ich kann mir denken, daß Ihre Mutter nicht davon sprechen mag.«
Das Fräulein blickte, einen Augenblick nachsinnend, durch die Fensterscheiben und zuckte mit ihren langen Wimpern. »Sie wissen,« sagte sie dann, »daß Ihre Mutter in Diependahl wohnte, wo jetzt der Herr von Katterbach haust, der den armen Driesch so mißhandelt hat.«
Ueber Bernhards Gesicht zuckte der Ausdruck einer plötzlichen, krampfhaften, inneren Bewegung; er barg sein Gesicht in der Fläche seiner Hand und horchte in dieser Stellung der folgenden Erzählung.
»Damals,« sagte Katharina, »wohnten die Schemmeys noch dort. Der letzte Schemmey war ein lustiger Bruder, leichtsinnig, gutmütig, schwach, wie diese Art Menschen ist; ausschweifend wahrscheinlich auch. Vor Ihrer Mutter soll er immer einen gewissen Respekt bewiesen haben, sagt man; jedenfalls war ihre Stellung im Hause eine sehr gute, und sie hatte manches Vorrecht, vorzüglich, als die alte Frau von Schemmey noch lebte; diese Frau von Schemmey war eine seltsame Person, die ich Ihnen hier nicht weiter schildern will; sie zeichnete sich durch Stolz, Verschwendung und Härte aus und hatte einen schlechten Ruf durch diese Eigenschaften. Nun, sie mag sie in der Jugend nicht gehabt haben – aber auch sie hatte die Welt erzogen. Sie hatte ihren alten Truchseß von Schemmey mit dem größten Widerwillen genommen; man hatte keine Umstände mit ihr gemacht; die Folge war, daß auch sie keine Umstände mit ihrem Gemahl machte und ihm und allem, was seinen Namen trug, jedes mögliche Unheil auf den Hals wünschte. Sie war eine von Katterbach. Ihr beständiges Streben soll gewesen sein, die Güter der Schemmeys an ihres Bruders Sohn zu bringen und zu dem Ende jede Heirat ihres Stiefsohnes, des einzigen, den der alte Truchseß nach des letzteren Tode hatte, zu hintertreiben. Daß eine Heirat ihres Sohnes sie vom Hauptgute vertrieben hätte, um, mit einem Wittum abgefunden, einer regierenden Schwiegertochter Platz zu machen, mag ein anderer Grund gewesen sein, der sie bestimmte. Kurz, der letzte Herr von Schemmey heiratete nicht, solange sie lebte; als sie aber gestorben war, noch in demselben Jahre. Seine Frau ward gesegnet und gebar einen gesunden und starken Knaben. Als das Kind sechs oder sieben Wochen alt war, hatte Herr von Schemmey seine Frau zum erstenmal ins Freie geführt und kehrte nach einer Weile mit ihr in das Haus zurück; es war ein stiller Nachmittag, die Domestiken, außer einem alten Rentmeister, der im Speisezimmer auf den Herrn wartete, befanden sich draußen auf dem Felde. Während der Herr von Schemmey nun mit dem Rentmeister spricht, geht die junge Mutter, um nach dem Kinde zu sehen. Im ersten Zimmer sitzt Ihre Mutter am Fenster und näht; im zweiten steht die Wiege des Kindes; der einzige Eingang dorthin ist durch dies erste Zimmer; nur hat das zweite, das Kinderzimmer, eine Tapetentür zu einer verborgenen Treppe, die aber schon lange nicht mehr geöffnet worden ist.
Stille, Ew. Gnaden, das Kind schläft, sagt Ihre Mutter, als Frau von Schemmey vorüberschreitet, indem sie ruhig das Gesicht von ihrer Arbeit emporhebt.
Frau von Schemmey geht sanft in das mit grünen Rouleaus verhangene Gemach, tritt an die Wiege, schlägt die weißen Vorhänge zurück, reißt die Decke auf und schreit heftig auf: »Margret, Margret, wo ist das Kind?«
In der Wiege, gnädige Frau – es schläft in der – Jesus Maria, wo ist das Kind?
Die beiden Frauen sehen sich mit starren Blicken an, Frau von Schemmey mit todesbleichem Gesicht und blauen Lippen, Ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammenschlagend. Das Kind ist fort. Als Herr von Schemmey den der Schrei Ihrer Mutter herbeigezogen, in das Zimmer tritt, fällt die letztere, Ihre Mutter, in Ohnmacht.
Das Kind war und blieb fort; alles Suchen alle Nachforschungen, alle, auch die schärfsten Verhöre aller Domestiken leiteten auf keine Spur, die sein rätselhaftes Verschwinden erklärt hätte. Wenn auf jemand Verdacht fiel, so mußte es natürlich allein Ihre Mutter sein; Frau von Schemmey sprach ihn auch wirklich in ihrem ersten Schmerze laut aus. Aber Margret behauptete fortwährend mit der größten Ruhe, das Kind sei anfangs sehr unruhig gewesen, sie habe sich damit auf einen Stuhl gesetzt, um es durch Hin- und Herschaukeln einzuschläfern und als es endlich in Schlaf gefallen, es in die Wiege gelegt, um sich an ihre Arbeit zu setzen. Sie habe niemanden gesehen und könne auch nicht sagen, daß sie etwas gehört habe. Allerdings sei ihr einmal gewesen, als ob die Tapetentür sich geöffnet habe; wirklich gehört habe sie es nicht, aber es sei ihr einmal so halb durch den Kopf gegangen, als wenn es in dem Augenblick geschehe: sie habe auch aufgesehen, die Tür habe aber ganz ruhig, wie immer, fest in der Wand gelegen. Die Tapetentür war wirklich in ihren Riegeln und Angeln so eingerostet, daß das Schloß nicht ohne Hilfe eines Schmiedes sich aufbringen lassen wollte und ein großes Geräusch machte, als es sich in den Angeln drehte.
Welchen Beweggrund sollte Ihre Mutter auch gehabt haben? Nein, es war töricht, einen Verdacht gegen sie auszusprechen, die bei dem traurigen Ereignisse sich ebenso tief ergriffen zeigte wie die eigene Mutter des Kindes. Herr von Schemmey schnitt auch sehr heftig und fast erzürnt jedes Wort, das eine argwöhnische Hindeutung auf Margret enthielt, für immer ab. Er nahm überhaupt, so erschüttert er war, an den vielen Nachforschungen und Vermutungen den wenigsten Anteil; ja, sie schienen ihm unangenehm zu sein; man glaubt, Herr von Schemmey habe seine eigenen Gedanken von der Sache gehabt; Gedanken, die nur Margret, Ihre Mutter, ahnen mochte; sie war ja, außer Herrn von Schemmey selbst, von allen die längste Zeit im Hause gewesen und hätte allerhand erzählen können von dem, was früher darin vorgegangen und welcher Gemütsart gewisse Leute gewesen, die jetzt freilich mit den Füßen zuerst herausgetragen.
Nach einigen Tagen fand man das Kind wieder. Ein starker Geruch leitete auf die Spur; eben unter jener verborgenen Treppe unter einem Haufen Holzscheite lag es; es sah schrecklich aus; das Gesichtchen blau, gedunsen im Nacken; der Hals war dem armen Wurm umgedreht.
Nach einem Jahre ward Frau von Schemmey wieder entbunden; es war ein Mädchen, ein Kind, das gleich ziemlich schwach und armselig gewesen sein soll. Von den Eltern wurde jetzt die größte Sorgfalt angewendet, es zu hüten. Die Tapetentür ward vermauert; Herr und Frau von Schemmey schlugen ihr eignes Nachtlager in dem Zimmer vor der Kinderstube auf; Margret mußte die heiligsten Versicherungen geben, das Kind nie aus den Augen zu lassen oder es der Mutter zu bringen. Alle früheren Domestiken wurden gewechselt, eine Maßregel, die Herr von Schemmey übrigens gegen seinen Willen, nur seiner Frau zuliebe, ergriff. Es ging mehrere Wochen gut; die kleine Therese ward stärker und gedieh sichtlich; da, in einer Nacht, hören die schlafenden Eltern einen Schrei, noch einen, hell und kreischend