Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
schwer und träge auf ihrem Sessel. Zuweilen vergaßen sie aufzupassen, oder hatten nicht mehr die Kraft, die Flasche und die Gläser wegzuräumen, wenn sie die Schritte Antoines im Treppenhause hörten. An solchen Tagen gab es bei Macquarts Keile. Jean mußte aufstehen, um Vater und Mutter zu trennen und seine Schwester zu Bett zu bringen, die sonst auf den Fliesen des Fußbodens geschlafen hätte.
Jede Partei hat auch ihre schlechten und ungebildeten Anhänger. Von Neid und Haß verzehrt, Rache gegen die ganze Gesellschaft brütend, sah Antoine Macquart in der Republik eine neue, glückverheißende Zeit, in der es endlich gestattet sei, seine Taschen aus der Kasse des Nachbars zu füllen, ja selbst diesen zu erwürgen, wenn er darüber im mindesten mißvergnügt wäre. Sein Kaffeehausleben, die Zeitungen, die er las, ohne sie zu verstehen, hatten aus ihm einen schrecklichen Schwätzer gemacht, der in der Politik die seltsamsten Ansichten von der Welt bekundete. Man muß in der Provinz, in einer Kneipe, einen dieser neiderfüllten Gesellen, die das Gelesene halb verdaut haben, reden hören, um sich vorzustellen, bis zu welchem Grade boshafter Torheit Macquart gelangt war. Da er viel sprach, beim Militär gedient hatte und für einen energischen Mann galt, hatte er unter den Einfältigen eine große Zuhörerschaft. Ohne gerade ein Parteiführer zu sein, hatte er doch eine kleine Gruppe von Arbeitern um sich zu scharen gewußt, die seine neidvollen Wutausbrüche für rechtschaffene, überzeugungstreue Entrüstung nahmen.
Seit dem Monate Februar galt es als eine ausgemachte Sache, daß die Stadt Plassans ihm gehörte; die verschmitzte Art, in der er, wenn er durch die Straßen ging, die kleinen Krämer anblickte, die furchtsam auf der Schwelle ihres Ladens standen, besagte ganz deutlich: Unsere Zeit ist gekommen, meine Lämmlein; wir werden euch famos zum Tanze aufspielen! Er trug eine unglaubliche Frechheit zur Schau, spielte die Rolle eines Eroberers und Despoten in dem Maße, daß er aufhörte seine Erfrischungen im Kaffeehause zu bezahlen, und der Patron, ein Trottel, der vor dem Augenrollen Antoines erzitterte, wagte niemals, ihm die Rechnung vorzulegen. Er trank zu jener Zeit unzählige »Schwarze«; zuweilen lud er sich Freunde dazu ein, und man hörte ihn stundenlang schreien, daß das Volk Hungers sterbe und daß die Reichen mit den Armen teilen müßten. Er selbst aber gab den Armen niemals einen Heller.
Was aus ihm einen wütenden Republikaner machte, war ganz besonders die Hoffnung, sich endlich an den Rougons zu rächen, die sich offen als Anhänger der Reaktion bekannten. Ach, welcher Triumph, wenn er eines Tages Peter und Felicité in seiner Gewalt hat! Obgleich die letzteren ziemlich schlechte Geschäfte machten, waren sie doch Bürgersleute geworden, während er, Macquart, ein Arbeiter geblieben war. Dies erbitterte ihn. Noch verdrießlicher war, daß von ihren Söhnen einer Advokat, der zweite Arzt, der dritte Beamter war, während sein Jean bei einem Tischler und seine Gervaise bei einer Wäscherin arbeitete. Wenn er vollends die Macquart mit den Rougon verglich, empfand er eine tiefe Schmach darob, daß sein Weib in der Markthalle gebratene Kastanien feilbot und des Abends die alten, schmierigen Strohsessel des Stadtviertels einflocht. Und doch war Peter sein Bruder und hatte nicht mehr Recht als er, von seinen Renten fein zu leben. Überdies hatte er ihm das Geld gestohlen, mit dem er heute den Herrn spielte. Wenn er diesen Gegenstand berührte, geriet sein ganzes Wesen in Aufruhr; stundenlang schimpfte er, brachte immer wieder seine bis zum Überdruß gehörten Beschuldigungen vor, ward nie müde zu sagen:
Wenn mein Bruder dort wäre, wo er zu sein verdient, dann wäre ich heute ein Rentenbesitzer.
Wenn man ihn fragte, wo denn sein Bruder sein müßte, schrie er mit furchtbarer Stimme:
Auf der Galeere!
Sein Haß steigerte sich noch, als die Rougon die Konservativen um sich scharten und einen gewissen Einfluß in Plassans gewannen. In diesem unsinnigen Kaffeehausgeschwätz ward der gelbe Salon eine Räuberhöhle, eine Vereinigung von Missetätern, die allabendlich auf ihre Dolche schworen, das Volk zu erwürgen. Um die Hungrigen gegen Peter aufzuhetzen, ging er so weit, das Gerücht zu verbreiten, daß der alte Ölhändler nicht so arm sei, wie er glauben machen möchte, und daß er aus Geiz und aus Furcht vor Dieben seine Schätze verberge. Seine Taktik ging dahin, die armen Leute durch ungeheuerliche Geschichten aufzustacheln, an die schließlich er selbst glaubte. Seine persönlichen Rachegelüste verbarg er ziemlich schlecht unter einer Hülle des lautersten Patriotismus; aber er vervielfältigte sich dermaßen, er hatte eine so volltönende Stimme, daß niemand gewagt hätte, an seinen Überzeugungen zu zweifeln.
Im Grunde hatten alle Mitglieder dieser Familie dieselben brutalen Begierden. Felicité, die begriff, daß die überschwenglichen politischen Meinungen Macquarts nichts weiter seien, als verhaltener Groll und alter Neid, hätte ihn erkaufen mögen, um ihn still zu machen. Unglücklicherweise fehlte es ihr an Geld und sie wagte nicht, ihn für das gefährliche Spiel zu interessieren, das ihr Mann spielte. Bei den Rentiers der Neustadt schadete ihnen Antoine sehr. Daß er ihr Verwandter war, genügte an sich schon. Granoux und Roudier warfen ihnen unter fortwährender Geringschätzung vor, einen solchen Menschen in der Familie zu haben. Und darum fragte sich auch Felicité besorgt, wie sie es anfangen müßten, um sich dieses Makels zu entledigen.
Es schien ihr ungeheuerlich und unanständig, daß Rougon – später– einen Bruder haben sollte, dessen Weib Kastanien feilbot und der selbst in lotterhaftem Müßiggange dahin lebte. Schließlich begann ihr um den Erfolg ihrer geheimen Machenschaften bange zu werden, den Antoine gleichsam zu seinem Vergnügen verscherzte; wenn man ihr die Brandreden hinterbrachte, die dieser Mensch an öffentlichen Orten gegen den gelben Salon führte, erbebte sie bei dem Gedanken, daß er imstande war, ihre Hoffnungen durch das Ärgernis zunichte zu machen.
Antoine war sich dessen bewußt, wie sehr sein Betragen den Rougon mißliebig sein mußte und nur um sie zur Verzweiflung zu treiben, bekundete er von Tag zu Tag wildere Gesinnungen. Im Kaffeehause nannte er Peter »mein Bruder« mit einer Stimme, daß alle Gäste sich umwandten; wenn er in der Straße einem der reaktionären Anhänger des gelben Salons begegnete, brummte er halblaute Beschuldigungen vor sich hin, die der würdige Spießbürger, durch so viel Kühnheit verwirrt, des Abends den Rougon wiederholte, die er für diese unangenehme Begegnung gleichsam verantwortlich machte.
Eines Tages traf Granoux wütend im gelben Salon ein.
Es ist wirklich unerträglich! rief er schon auf der Schwelle; man wird auf Schritt und Tritt beschimpft.
Und zu Peter gewandt, fügte er hinzu:
Mein Herr, wenn man einen Bruder hat wie den Ihrigen, dann befreit man die Gesellschaft von ihm. Ich ging ganz friedlich über den Platz vor der Unterpräfektur, als dieser Elende, an mir vorbeigehend, einige Worte brummte, worunter ich ganz deutlich die Beschimpfung »alter Schuft!« vernahm.
Felicité erbleichte und glaubte Granoux hierfür um Entschuldigung bitten zu müssen; allein der gute Mann wollte nichts hören und erklärte, er werde nach Hause gehen. Der Marquis beeilte sich, die Sache beizulegen.
Es ist sehr erstaunlich, sagte er, daß dieser Unglücksmensch Sie einen »alten Schuft!« genannt hat. Sind Sie auch sicher, daß dieser Schimpf Ihnen galt?
Granoux wurde ganz perplex; er gab zu, daß Antoine vielleicht gesagt hatte: »Du gehst noch immer zu diesem alten Schuft?«
Herr von Carnavant streichelte sich das Kinn, um das Lächeln zu maskieren, das sich ihm unwillkürlich auf die Lippen drängte.
Da sagte Rougon mit dem ruhigsten, schönsten Gleichmute:
Ich vermutete sogleich, daß ich dieser alte Schuft sei. Es freut mich, daß das Mißverständnis aufgeklärt wurde, und bitte Sie, meine Herren, gehen Sie diesem Menschen aus dem Wege, den ich hiermit in aller Form verleugne.
Allein Felicité nahm die Dinge nicht so kühl; bei jedem Skandal des Macquart ward sie krank; ganze Nächte hindurch quälte sie sich mit der Frage, was die Herren wohl denken mögen.
Einige Monate vor dem Staatsstreiche erhielten die Rougon einen anonymen Brief, drei Seiten voll unflätiger Schmähungen. Unter anderem drohte man ihnen für den Fall, daß ihre Partei triumphieren sollte, in einer Zeitung die skandalöse Geschichte der ehemaligen Liebschaften Adelaides zu erzählen, und den Diebstahl, durch den Peter seiner Mutter fünfzigtausend Franken abgenommen hatte, indem er das durch die Ausschweifungen halb irrsinnig gewordene