Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
sei; dann liebte er sie noch mehr; er liebte sie für sich und für die anderen. Wenn er manchmal das unbestimmte Gefühl hatte, daß Tante Dide alte Sünden büße, dachte er: Ich bin geboren, um ihr zu verzeihen.
In einem so lebhaften, verschlossenen Geiste mußten die republikanischen Gedanken naturgemäß zu heller Begeisterung auflodern. Nachts las Silvère in seiner Höhle immer wieder einen Band Rousseau, den er bei einem benachbarten Trödler unter altem Eisen entdeckt hatte. Dieses Buch hielt ihn oft bis zum Morgen wach. In seinem Traume vom Glücke aller – diesem Traume, der allen Unglücklichen so teuer ist – schlugen die Worte: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit mit dem hellen und heiligen Klang der Glocken an sein Ohr, deren Schall die Gläubigen in die Knie sinken läßt. Als er vernahm, daß in Frankreich die Republik ausgerufen sei, glaubte er denn auch, daß nunmehr alle Welt in himmlischer Glückseligkeit leben werde. Seine Halbbildung ließ ihn weiter schauen als die übrigen Arbeiter; bei dem täglichen Brote machte sein Ehrgeiz nicht halt. Doch seine treuherzige Einfalt, seine völlige Unkenntnis der Menschen erhielten ihn in einem unwirklichen Traum, in einem Paradiese, wo die ewige Gerechtigkeit herrschte. Sein Himmelreich war für ihn lange Zeit ein Ort der Freuden, wo er gerne weilte. Wenn er zu bemerken glaubte, daß nicht alles zum besten bestellt sei in der besten der Republiken, empfand er unsägliches Leid. Er träumte dann einen andern Traum, in dem die Menschen gewaltsam genötigt wurden, glücklich zu sein. Jede Tat, die in seinen Augen die Interessen des Volkes zu verletzen schien, erregte in ihm eine Entrüstung, die nach Rache dürstete. Kindlich sanft im Gemüte, war er doch eines wütenden, politischen Hasses fähig. Er, der nicht eine Fliege getötet hätte, sprach davon, die Waffen zu ergreifen. Die Freiheit war seine Leidenschaft, eine sinnlose, gewalttätige Leidenschaft, in die er alle fieberhafte Glut seines Blutes legte. Geblendet durch seine Begeisterung, zu unwissend und zu unterrichtet zugleich, um duldsam zu sein, wollte er mit den Menschen nicht rechnen; er verlangte eine vollkommene Regierung, die lauter Gerechtigkeit und Freiheit sein solle. Um diese Zeit kam sein Oheim Macquart auf den Gedanken, ihn gegen die Rougon loszulassen. Er sagte sich, daß dieser junge Narr, wenn er gehörig erbittert würde, schreckliche Arbeit tun werde. Und diese Berechnung war nicht so dumm.
Antoine trachtete denn, Silvere an sich zu locken, indem er eine maßlose Bewunderung für die Gedanken des jungen Menschen zur Schau trug. Zu Beginn war er nahe daran, sein ganzes Spiel zu verderben; er hatte eine eigene selbstsüchtige Art, den Sieg der Republik als eine glückliche Zeit des Nichtstuns und der ewigen Freßgelage zu betrachten; dies beleidigte aber die rein sittlichen Bestrebungen seines Neffen. Er begriff sogleich, daß er einen falschen Weg eingeschlagen habe, und stürzte sich kopfüber in eine seltsame Begeisterung, in einen endlosen Schwall von hochtönenden, leeren Worten, die Silvère als eine genügende Probe seines Bürgersinnes annahm. Oheim und Neffe fanden sich bald zwei-, dreimal in der Woche zusammen. Während ihrer langen Gespräche, in denen das Schicksal des Landes schlankweg entschieden wurde, versuchte Antoine den jungen Menschen zu überzeugen, daß der Salon der Rougon das hauptsächlichste Hindernis sei, das dem Glücke Frankreichs im Wege stehe. Doch er geriet von neuem auf einen Abweg, als er seine Mutter vor Silvère eine alte Gaunerin nannte. Er ging so weit, dem Burschen die ehemalige Ärgernis erregende Aufführung der armen Alten zu erzählen. Rot vor Scham hörte der Junge ihn an, ohne ihn zu unterbrechen. Er hatte ihn nach diesen Dingen nicht gefragt; ein solches Bekenntnis schmerzte ihn und verletzte seine respektvolle Anhänglichkeit an Tante Dide. Seit jenem Tage umgab er seine Großmutter mit noch mehr Sorgfalt; er betrachtete sie oft mit einem gütigen Lächeln und mit Blicken der Verzeihung. Macquart hatte übrigens gemerkt, daß er eine Dummheit begangen und bemühte sich, die Zuneigung des Burschen für seine Großmutter auszunutzen, indem er den Rougons die Vereinsamung und Armut der Alten schuld gab. Wenn man ihn hörte, war er stets der beste der Söhne gewesen, während sein Bruder sich unwürdig betragen habe; dieser habe seine Mutter ausgeplündert und heute, da sie keinen Sou besitze, schäme er sich ihrer. Über diesen Gegenstand fanden endlose Gespräche zwischen ihnen statt. Silvère ward entrüstet gegen seinen Oheim Peter – zur großen Befriedigung seines Oheims Antoine.
Bei jedem Besuche des jungen Mannes wiederholten sich dieselben Szenen. Er kam abends, während die Familie Macquart beim Essen saß. Der Vater würgte brummend irgendein Kartoffelmus hinab; er nahm die Speckstücke für sich und sah es mit mißgünstigen Augen, wenn die Schüssel an Jean und Gervaise kam.
Du siehst, Silvère, sagte er mit einer verhaltenen Wut, die er nur schlecht unter einer Miene spöttischer Gleichgültigkeit verbarg, wieder Kartoffeln, nichts als Kartoffeln! Das Fleisch ist für die reichen Leute da. Es ist schwer, sein Auskommen zu finden mit Kindern, die einen so höllischen Appetit haben.
Dann schauten Jean und Gervaise bestürzt auf ihren Teller und wagten nicht mehr, sich Brot abzuschneiden. Doch Silvère, der in nebelhaften Träumen lebte, hatte kein Verständnis für die Vorgänge um ihn her. Er sprach mit ruhiger Stimme die wetterschwülen Worte:
Sie sollten eben arbeiten, Oheim!
Ach so! fuhr der im Innersten Getroffene auf, du sagst, ich solle arbeiten? Damit die schurkischen Reichen mich noch weiter auszunützen? Wenn ich mich zu Tode rackere, kann ich vielleicht zwanzig Sous täglich erwerben. Das lohnt doch wohl die Mühe!...
Man erwirbt so viel wie man kann, erwiderte der junge Mann. Zwanzig Sous sind zwanzig Sous, auch ein Zuschuß in einem Haushalte... Sie sind übrigens Soldat gewesen, warum suchen Sie nicht irgendeine Anstellung?
Da mengte Fine sich in das Gespräch mit einer Unbesonnenheit, die sie bald bereuen sollte.
Das wiederhole ich ihm ja alle Tage, sagte sie. Der Marktaufseher braucht jetzt gerade einen Gehilfen; ich habe ihm meinen Mann vorgeschlagen, und er scheint uns günstig gesinnt zu sein...
Macquart sandte ihr einen niederschmetternden Blick zu.
Schweig! rief er ihr mit verhaltenem Zorne zu. Die Weiber wissen nie, was sie reden! Man nimmt mich gewiß nicht, denn man kennt meine Gesinnungen.
Jedesmal, wenn man ihm irgendeinen Dienstplatz anbot, geriet er in heftigen Zorn. Doch hörte er nicht auf, Anstellungen zu fordern, und fand man eine solche für ihn, so lehnte er sie mit den sonderbarsten Begründungen ab. Wenn man ihm in diesem Punkte schärfer zusetzte, konnte er schrecklich werden.
Wenn Jean nach dem Essen eine Zeitung zur Hand nahm, sagte er ihm:
Du tätest auch besser, schlafen zu gehen; sonst verschläfst du morgen früh die rechte Stunde und hast einen Tag verloren. Würde man es glauben, daß dieser Nichtsnutz die vergangene Woche acht Franken weniger heimgebracht hat? Doch ich habe seinen Meister gebeten, ihm nicht mehr das Geld zu geben; ich selbst werde es künftig in Empfang nehmen.
Und Jean ging schlafen, um die Scheltreden seines Vaters nicht länger anhören zu müssen. Er hatte wenig Zuneigung für Silvère; die Politik langweilte ihn und er fand, daß bei seinem Vetter »nicht alles richtig sei«. Wenn dann die Frauen allein da geblieben waren und nach Abräumung des Tisches halblaut miteinander plauderten, schrie Macquart:
Da sieht man die Tagediebe! Gibt es nichts auszubessern im Hause? Wir gehen ja in Lumpen einher... Höre mal, Gervaise, ich habe bei deiner Patronin Nachfrage gehalten und da saubere Dinge erfahren. Du bist eine nichtsnutzige Herumstreicherin.
Gervaise, schon ein erwachsenes Mädchen von zwanzig Jahren, errötete, wenn sie in solcher Weise vor Silvère ausgescholten wurde. Dieser saß ihr gegenüber und empfand darob gleichfalls ein Mißbehagen. Als er eines Abends, an dem der Oheim abwesend war, spät kam, fand er Mutter und Tochter zu Tode betrunken vor einer leeren Schnapsflasche. Seither konnte er seine Base nicht wiedersehen, ohne sich des schmählichen Anblicks zu erinnern, den dieses Kind bot mit seinem plumpen Gelächter und den breiten, roten Flecken auf den blassen, mageren Backen. Auch war er durch die häßlichen Geschichten eingeschüchtert, die über Gervaise im Umlauf waren. In köstlicher Keuschheit aufgewachsen, betrachtete er sie zuweilen von der Seite mit dem scheuen Erstaunen eines Schülers, den man mit einer Dirne zusammengeführt hat.
Wenn die beiden Frauenzimmer ihr Nähzeug genommen hatten, sich die Augen dabei heraussahen, ihm seine alten Hemden auszubessern, warf Macquart sich bequem in den besten Sessel zurück, den es im Hause gab, schlürfte seinen Kaffee und rauchte dazu seine Pfeife