Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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Ohne aus ihrem Stumpfsinn zu erwachen, ohne in ihren automatischen Bewegungen geschmeidiger zu werden, faßte sie eine unaussprechliche Zuneigung für das Kind. Stumm und steif sah sie stundenlang seinen Spielen zu, mit Entzücken den Lärm hörend, mit dem er die alte Hütte erfüllte, seitdem er auf einem Besenstiel kreuz und quer herumritt, sich an den Türen stoßend, bald weinend, bald lachend. Er führte Adelaide wieder auf die Erde zurück; sie beschäftigte sich mit ihm in drolliger Unbeholfenheit; sie, die in ihrer Jugend vergessen hatte, Mutter zu sein, um nur Geliebte zu sein, fühlte jetzt die himmlischen Freuden einer jungen Mutter, wenn sie ihn wusch, ankleidete, wenn sie über seine schwächliche Gesundheit wachte. Es war ein letztes Wiedererwachen der Liebe, eine letzte, gemilderte Leidenschaft, die der Himmel diesem vom Bedürfnis zur Liebe verheerten Weibe schenkte. Es war das ergreifende Absterben eines Herzens, das in den überschäumendsten Begierden gelebt hatte und in der Liebe zu einem Kinde endete.

      Sie war schon zu siech, um die gesprächige Zärtlichkeit der guten, behäbigen Großmütter zu besitzen; sie liebte das verwaiste Kind heimlich mit der Schamhaftigkeit eines jungen Mädchens, ohne Liebkosungen für Silvère zu finden. Zuweilen setzte sie ihn auf ihre Knie und betrachtete ihn lange mit ihren blassen Augen. Wenn der Kleine, erschreckt durch dieses bleiche, stumme Gesicht, zu schluchzen begann, schien sie ganz verwirrt über das, was sie getan hatte und setzte ihn schnell zu Boden, ohne ihn zu küssen. Vielleicht fand sie bei ihm eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Wilderer Macquart.

      Silvère wuchs in einem ewigen Alleinsein mit Adelaide heran. In kindlicher Verzärtelung nannte er sie Tante Dide und dieser Name blieb der Alten; der Name Tante in dieser Anwendung bedeutet in der Provence eine Schmeichelei. Das Kind empfand für seine Großmutter eine seltsame Zärtlichkeit, gemengt mit einer respektvollen Furcht. Wenn sie, als er noch klein war, einen ihrer Nervenanfälle bekam, lief er weinend davon, entsetzt durch die Verzerrung ihres Gesichtes; wenn der Anfall vorüber war, kam er scheu wieder zurück, jeden Augenblick bereit, wieder zu entfliehen, als ob die Alte imstande gewesen wäre, ihn zu prügeln. Als er zwölf Jahre zählte, blieb er mutig da und wachte, daß sie nicht vom Bette falle und sich beschädige. Stundenlang hielt er sie fest in seinen Armen, um die Zuckungen zu mildern, in denen ihre Glieder sich krümmten. Während der ruhigen Pausen betrachtete er mitleidsvoll ihr verstörtes Gesicht, ihren mageren Körper, an dem die Röcke gleich einem Leichentuche klebten. Diese allmonatlich wiederkehrenden Anfälle, diese leichenstarre Greisin und dieses Kind, das sich über sie neigte, still lauschend, ob das Leben wiederkehrt: sie nahmen im Dunkel dieser Hütte einen seltsamen Charakter düsteren Schreckens und tief bewegter Güte an. Wenn Tante Dide das Bewußtsein wiedererlangte, erhob sie sich mühselig, band ihre Röcke fest und begann wieder durch das Haus zu schwanken, ohne eine Frage an das Kind zu richten. Sie erinnerte sich an nichts, und das Kind vermied in instinktiver Klugheit selbst die geringste Anspielung auf die soeben stattgehabte Szene. Besonders diese immer wiederkehrenden Anfälle ließen in dem Enkelkinde eine tiefe Anhänglichkeit für die Großmutter entstehen. Allein gleichwie sie ihn ohne geschwätzige Zutunlichkeit liebte, empfand er für sie eine geheime, schier verschämte Zärtlichkeit. Obgleich er Dankbarkeit für sie hegte, weil sie ihn aufgenommen und erzogen hatte, fuhr er dennoch fort, in ihr ein ungewöhnliches Wesen zu sehen, eine Beute unbekannter Übel, die man beklagen und ehren mußte. Es war gewiß in Adelaide nicht mehr genug des Menschlichen, sie war zu weiß und zu steif, als daß Silvère es gewagt hätte, sich ihr an den Hals zu hängen. So lebten sie in einer düsteren Stille dahin, in der sie gleichsam das Beben einer ewigen Liebe vernahmen.

      Die ernst und schwermütig stimmende Luft, die er seit seiner Kindheit einatmete, zeitigte in Silvère eine starke Seele, die jede Begeisterung in sich verschloß. Aus ihm ward ein ernster, überlegender Bursche, der mit einer Art Eigensinn den Unterricht besuchte. Er lernte in der Klosterschule nur ein wenig Rechtschreibung und Rechnen. Mit zwölf Jahren mußte er die Schule verlassen, um in die Lehre zu gehen. Die ersten Elemente des Unterrichtes fehlten ihm daher; dies hinderte ihn aber nicht, alle zerrissenen Bücher zu lesen, die ihm in die Hände fielen, und sich so eine eigentümliche Sprache anzugewöhnen. Er kannte Einzelheiten über eine Menge von Dingen, aber unvollständige, schlecht verdaute Einzelheiten, die er in seinem Schädel niemals klar zu verteilen wußte. Als er noch klein war, spielte er oft bei dem Stellmacher, Meister Vian, einem wackern Manne, dessen Werkstätte sich am Eingange des Sackgäßchens befand dem Saint-Mittre-Felde gegenüber, wo der Wagner sein Holz ablagerte. Er erkletterte die Räder der Karren, die man zur Ausbesserung hierher gebracht hatte; er schleppte die schweren Werkzeuge herum, die seine kleinen Hände kaum zu tragen vermochten; zu seinem größten Vergnügen gehörte es, den Arbeitern zu helfen, indem er ein Stück Holz hielt oder ihnen einen Reif herbeischleppte, dessen sie bedurften. Als er größer geworden war, trat er natürlich bei Vian in die Lehre, der eine Zuneigung zu dem Bürschchen gefaßt hatte, das ihn immerwährend zwischen den Beinen herumlief, und der ihn von Adelaide zur Lehre verlangte, ohne dafür ein Entgelt anzunehmen. Silvère folgte willig dem Rufe; er sah den Augenblick voraus, wo er der armen Tante Dide wiedererstatten werde, was sie für ihn ausgegeben hatte. Binnen kurzer Zeit ward er ein vorzüglicher Arbeiter. Doch sein Ehrgeiz strebte höher. Als er eines Tages bei einem Wagner in Plassans eine schöne, neue, glänzend lackierte Kalesche sah, sagte er sich, daß er eines Tages ähnliche Kaleschen bauen werde. Diese Kalesche behielt er in der Erinnerung wie einen seltenen, einzigartigen Kunstgegenstand, wie ein Ideal, welches sein Arbeiterehrgeiz erstrebte. Die Karren, an denen er bei Vian arbeitete, an die er sein Herz gehängt hatte, schienen ihm jetzt seiner Gunst unwürdig. Er begann die Zeichenschule zu besuchen, wo er sich einem jungen Menschen anschloß, der der Schule entsprungen war und ihm ein altes Handbuch der Geometrie lieh. Da vertiefte er sich ohne Führer in dieses Studium, zerbrach sich wochenlang den Kopf, um die einfachsten Dinge von der Welt zu begreifen. So ward er einer jener halbgebildeten Arbeiter, die kaum ihren Namen zu unterschreiben wissen und von der Algebra sprechen wie von einer ihnen bekannten Person. Nichts vermag einen Verstand dermaßen aus den Fugen zu bringen als eine so gewaltsame, auf keiner soliden Grundlage ruhende Bildung. In den meisten Fällen geben diese Brosamen des Wissens eine falsche Vorstellung von den hohen Wahrheiten und machen aus den Armen im Geiste unerträgliche Dickschädel. Bei Silvère steigerten diese Trümmer zusammengerafften Wissens nur die edlen Gesinnungen. Er war sich dessen bewußt, welche Gesichtskreise ihm verschlossen waren, machte sich eine ehrfurchtsvolle Vorstellung von den Dingen, an die hinanzureichen ihm versagt war und lebte in einem tiefen und gläubigen Kultus der großen Gedanken und großen Worte, nach denen er strebte, ohne sie jemals zu begreifen. Er war ein begeisterter Unschuldiger, der auf der Schwelle des Tempels blieb, vor den Kerzen kniend, die er aus der Ferne für Sternlein hielt.

      Adelaidens Hütte im Saint-Mittre-Gäßchen bestand zunächst aus einer großen Stube, in die man unmittelbar von der Straße gelangte. Dieser mit Quadern gepflasterte Raum diente als Küche und Eßzimmer zugleich und war ausgestattet mit einigen Strohsesseln, einem Tische, dessen Platte quer auf einem Bocke lag, und einem alten, großen Koffer, den Adelaide in ein Sofa umgestaltet hatte, indem sie ein altes Stück Wollstoff darüber breitete. In einem Winkel links vom Ofen war ein Muttergottesbild aus Gips angebracht, umgeben von Kunstblumen, die Schutzpatronin, die bei den sonst nicht übermäßig frommen alten Provençalinen niemals fehlt. Ein Gang führte von diesem Zimmer nach dem kleinen Hofe, der hinter dem Hause lag, und in dem sich ein Brunnen befand. Links von dem Gange lag die Schlafkammer der Tante Dide, ein schmales Gelaß, wo sich nichts als ein eisernes Bett und ein Sessel befand. Rechts in einem noch engeren Räume, wo knapp für ein Gurtbett Platz war, schlief Silvère, der ein ganzes Brettergerüst, das bis an die Decke reichte, ersonnen hatte, um seine teueren Bücher behalten zu dürfen, die er um seine Sparpfennige bei einem benachbarten Trödler erstanden hatte. Nachts, wenn er las, hängte er seine Lampe an einen Nagel, den er zu Häupten seines Bettes eingeschlagen hatte. Ward die Großmutter von einem Anfall ereilt, so war er mit einem Sprung bei ihr.

      Der junge Mann lebte, wie er als Kind gelebt hatte. Dieser verlorene Winkel umschloß sein ganzes Dasein. Wie einst seinem Vater, war auch ihm das Wirtshausleben und der Müßiggang am Sonntag zuwider. Die geräuschvollen Vergnügen seiner Kameraden verletzten seine sanfteren Neigungen. Er zog es vor, zu lesen oder sich an einer einfachen geometrischen Aufgabe den Kopf zu zerbrechen. Seitdem Tante Dide ihn damit betraute, die kleinen Besorgungen für das Hauswesen zu machen, ging sie nicht mehr aus und war ihrer eigenen Familie fremd geworden. Zuweilen dachte


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