Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola


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die schmalen Kanten entlang schreiten, rittlings dahinrutschen, all die verschiedenen Spiele treiben, die gewöhnlich mit einer Keilerei, mit Geheul und Gezeter endigen; oder auch es setzen sich ihrer je ein halbes Dutzend, eng aneinander gedrängt, auf die beiden Enden eines quer über die anderen gelegten Balkens und schaukeln sich stundenlang. Das Saint-Mittre-Feld ist ein Unterhaltungsplatz geworden, auf dem die Vorstadtjungen seit einem Vierteljahrhundert die Hosen zerreißen.

      Was diesem verlorenen Winkel vollends einen seltsamen Charakter verliehen hat, ist der alte Brauch der durchziehenden Zigeuner, hier ihre Zelte aufzuschlagen. Sobald eines dieser Häuser auf Rädern, das einen ganzen Stamm enthält, in Plassans eintrifft, läßt es sich im Hintergrunde des Saint-Mittre-Feldes nieder. Der Platz ist denn auch niemals leer; es findet sich stets eine dieser Banden mit ihrem seltsamen Treiben, eine Truppe von braunen Männern und furchtbar dürren Weibern, zwischen denen ganze Scharen schmutziger Rangen sich am Boden wälzen. Dieses Volk lebt ohne Scham im Freien vor aller Welt, kocht seine Suppe, nährt sich von namenlosen Dingen, breitet seine Lumpen aus, schläft, prügelt sich, küßt sich, stinkt von Schmutz und Elend.

      Das öde Leichenfeld, wo einst die Drohnen allein die dickblätterigen Blumen in der stillen, schwülen Sonnenglut umsummten, ist ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt von dem Gezanke der Zigeuner und dem Geschrei der jungen Vorstadt-Taugenichtse. Eine Sägerei, die in einem Winkel die Balken des Zimmerplatzes zerlegt, liefert mit ihrem Kreischen eine beständige dumpfe Begleitung zu den hellen menschlichen Stimmen. Die Sägerei ist ganz einfach; das Stück Holz wird quer auf zwei erhöhte Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, der eine oben auf dem Balken sitzend, der andere unten, geblendet durch den herabfallenden Sägestaub erhalten eine starke und breite Säge in fortwährender auf- und absteigender Bewegung. Stundenlang neigen sich diese Männer so hin und her gleich Gliederpuppen mit der Regelmäßigkeit und Starrheit von Maschinen. Das von ihnen zu Brettern gesägte Holz ist im Hintergrunde längs der Mauer zwei bis drei Meter hoch aufgeschichtet und gleichmäßig in Kubikform gelegt. Diese Mühlsteinen ähnlichen Vierecke, die manchmal mehrere Jahre lang hier liegen bleiben, bis sie von Moos und Unkraut überwuchert werden, sind mit ein Reiz des Saint-Mittre-Feldes. Es ziehen sich zwischen ihnen verschwiegene, stille Pfade hin, die zu einem etwas breitern Wege führen, der zwischen den Holzstößen und der Mauer freigelassen blieb. Es ist dies ein verlassener Winkel, ein schmaler grüner Fleck, von welchem aus man nur schmale Streifen des Himmels sieht. Auf diesem Wege, dessen Wände mit Moos überzogen sind und dessen Boden mit einem Wollteppich belegt zu sein scheint, herrscht noch der üppige Pflanzenwuchs und die fröstelnde Stille des ehemaligen Kirchhofes. Man verspürt da den lauen, unbestimmten Hauch der Wollust des Todes, wie er aus den im Sonnenbrande glühenden alten Gräbern aufsteigt. Es gibt in der Umgebung von Plassans keinen Ort, wo man so sehr wie hier durch die Einsamkeit und Stille zur Liebe gestimmt würde. Hier ist es köstlich zu lieben. Als der Kirchhof geräumt ward, mußte man in diesem Winkel die Gebeine aufhäufen; heute noch kommt es vor, daß man, den feuchten Boden mit dem Fuße aufwühlend, Schädelstücke zutage fördert.

       Übrigens denkt niemand mehr an die Toten, die einst unter diesem Rasen geschlummert. Bei Tage spielen die Kinder Verstecken zwischen diesen Holzstößen. Der grüne Weg bleibt unbekannt und unbenutzt. Man sieht nichts als den staubgrauen Zimmerplatz mit den umherliegenden Pfosten. Des Morgens und Nachmittags, wenn die Sonne ihre Glut herniedersendet, wimmelt das Feld von Menschen; und über all dem regen Treiben, über den Straßenjungen, die zwischen den Hölzern spielen, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihren Suppenkesseln anfachen, hebt sich das dürre Schattenbild des Sägearbeiters, der hoch auf seinem Balken sitzt, scharf vom Himmel ab, wie er sich auf- und abwärts bewegt mit der Regelmäßigkeit eines Pendels, wie um das fröhliche, neue Leben zu regeln, das hier auf dem ehemaligen Totenacker erstanden. Nur die Alten, die auf den Balken ausruhen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal untereinander von den Gebeinen, die sie ehemals auf dem sagenhaften Leichenkarren durch die Straßen von Plassans hatten führen sehen.

      Wenn die Nacht hereinbricht, leert sich das Saint-Mittre-Feld und gleicht dann einer tiefen, schwarzen Grube. Im Hintergrunde ist nichts als der matte Schein der Feuerstellen der Zigeuner. Von Zeit zu Zeit sieht man stille Schatten durch die dichte Finsternis huschen. Im Winter hat der Ort ein besonders düsteres Aussehen.

      An einem Sonntag abends, gegen sieben Uhr, verließ ein junger Mensch die Saint-Mittre-Gasse und schlich immer die Mauern entlang bis zu den Balken des Zimmerplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen des Jahres 1851, und es herrschte eine trockene Kälte. Das Mondlicht hatte die den Wintermonden eigentümliche Klarheit. Der Zimmerplatz glich diese Nacht nicht einer dunklen Höhle wie in den regnerischen Nächten; durch breite Lichtfelder des weißen Mondes erhellt, lag er, den Beschauer zu sanfter Schwermut stimmend, in winterlicher Stille und Unbeweglichkeit da.

      Der junge Mensch blieb, vorsichtig sich umschauend, einige Augenblicke am Rande des Feldes stehen. Unter seiner Jacke hielt er den Kolben einer langen Flinte fest, deren zu Boden gesenkter Lauf im Mondlicht glänzte. Er drückte die Waffe fest an sich und warf einen scharf prüfenden Blick auf die Schattenvierecke, die die Bretterstöße im Hintergrunde des Feldes warfen. Es war wie ein Damebrett aus Licht und Schatten mit scharf geschnittenen Feldern. Mitten im Felde standen auf einem kahlen, grauen Fleck die Böcke der Sägearbeiter eng aneinander gereiht, einer ungeheuerlichen geometrischen Figur gleichend, die jemand mit Tinte auf das Papier wirft. Der übrige Teil des Zimmerplatzes, der aus Balken gebildete Estrich, war ein breites Bett, wo das Mondlicht schlief, kaum getrübt durch die schmalen Schattenstreifen, die die aufgehäuften Pfosten hineinwarfen. Diese im Lichte des Wintermondes in eisiger Stille daliegenden Haufen umgestürzter, unbeweglicher Mäste, die gleichsam erstarrt waren in Kälte und Schlaf, erinnerten an die Toten des ehemaligen Kirchhofes. Der junge Mensch warf auf diesen leeren Raum nur einen flüchtigen Blick; kein Wesen, kein Hauch, keine Gefahr, gesehen oder gehört zu werden. Die dunklen Flecke des Hintergrundes beunruhigten ihn mehr. Doch nach kurzer Betrachtung wagte er sich vor und durchschritt rasch den Zimmerplatz.

      Sobald er sich in Schatten gehüllt wußte, verlangsamte er seine Schritte. Er befand sich jetzt auf dem grünen Wege längs der Mauer hinter den Bretterstößen. Hier vernahm er nicht mehr das Geräusch seiner Schritte; das gefrorene Gras knisterte kaum unter seinen Füßen. Ein Gefühl der Zufriedenheit schien ihn zu erfüllen. Ihm war, als müsse er diesen Ort lieben, weil er daselbst keine Gefahr zu fürchten, nur Gutes und Liebes zu suchen habe. Er verbarg seine Flinte nicht mehr. Der Weg zog sich gleich einem schattigen Graben dahin. Stellenweise glitt das Mondlicht zwischen zwei Bretterstößen hindurch und warf einen hellen Streifen auf das Gras. Dunkel und Helle lagen gleichmäßig in tiefem, traurigem Schlaf. Nichts war mit der Stille und Ruhe dieses Weges vergleichbar. Der junge Mensch durchschritt ihn in seiner ganzen Länge. An seinem Ende, dort wo die Mauern des Jas-Meiffren einen Winkel bilden, blieb er stehen und horchte, wie um zu hören, ob nicht von dem benachbarten Grundstück her ein Geräusch vernehmbar sei. Als er nichts hörte, bückte er sich, schob ein Brett zur Seite und versteckte seine Flinte unter einem Stoß Holz.

      In diesem Winkel fand sich ein alter Grabstein, der bei der Übersiedlung des alten Kirchhofes hier vergessen worden und quer gelegt eine Art hoher Bank bildete. Der Regen hatte die Ränder des Steines zermürbt, und das Moos fraß sich nach und nach in ihn ein. Beim Mondschein konnte man noch einiges von der Grabschrift auf der dem Erdboden zugeneigten Fläche des Grabsteines lesen. »Hier ruht ... Marie ... gestorben ...«, den Rest hatte die Zeit ausgelöscht.

      Als der junge Mensch sein Gewehr verborgen hatte, horchte er von neuem, und da er nichts hörte, entschloß er sich, auf den Stein zu steigen. Die Mauer war niedrig; er stemmte die Ellenbogen auf die Mauerkappe. Allein jenseits der Reihe von Maulbeerbäumen, die längs der Mauer stand, sah er nichts als eine mondhelle Ebene; die Felder des Jas-Meiffren dehnten sich im Mondlichte flach und baumlos gleich einem ungeheuren Stück ungebleichter Leinwand aus. In einer Entfernung von etwa hundert Metern bildete das von dem Krautgärtner bewohnte Haus mit den Wirtschaftsgebäuden einen etwas helleren Fleck. Der junge Mensch blickte gespannt nach dieser Seite hin, als eine Turmuhr der Stadt in langsamen, tiefklingenden Schlägen die siebente Abendstunde kündete. Er zählte die Uhrschläge, dann stieg er von dem Steine herab, gleichsam überrascht und ärgerlich.

      Er setzte sich auf die Bank wie jemand, der sich gefaßt macht, lange zu warten.


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